Wie im ersten Teil der Übersicht (Strauß et al. 2022) ausführlich dargelegt, ist die seit 1990 entstandene Literatur zur Psychotherapie zwischen 1945 und 1990 im Osten Deutschlands (i.e. zunächst der SBZ, dann der DDR) in den mehr als 30 Jahren nach der sog. Wiedervereinigung sehr weitläufig über verschiedene Disziplinen und verschiedene Textarten erstreckt. Die Abgrenzung zu benachbarten Untersuchungsgegenständen ist dabei manchmal schwierig. Die vorliegende, zweigeteilte Übersichtsarbeit soll einen globalen Überblick zur Thematik der DDR-Psychotherapie und ihrer Aufarbeitung geben, indem sie eine strukturierende Differenzierung der vielfältigen Perspektiven in fünf grundsätzlich verschiedene (Forschungs‑)Zugänge auf das Thema vorschlägt und damit verbundene Potenziale zukünftiger Forschung zu einzelnen Teilbereichen darlegt. Im ersten Teil der Übersicht (Strauß et al. 2022) wurde ein chronologisch-informationsorientierter Zugang von einem disziplinhistorisch orientierten Zugang unterschieden. Im folgenden Teil werden wir drei weitere, stärker gegenwartsorientierte Zugänge differenzieren, nämlich einen klinischen und fachpolitischen Zugang, einen Zugang der Vergangenheitsbewältigung und einen sozialwissenschaftlichen Zugang. Einschränkend soll auch hier vorangestellt werden, dass eine solche Einteilung jenseits konkreter Forschungsfragen primär einer idealtypisierenden Veranschaulichung dient. Die Übergänge sind faktisch fließend, und prinzipiell lassen sich viele Arbeiten, die wir einer Perspektive (oder einem übergeordneten Zugang) zuordnen, auch aus einer anderen Perspektive „neu“ lesen.

Klinischer und fachpolitischer Zugang

Perspektiven, die sich in die klinische und fachpolitische Zugangsform zur DDR-Psychotherapie gruppieren lassen, fokussieren vordergründig auf Diskussionen im Zusammenhang mit der damaligen klinischen Praxis und somit auch auf einen allgemeinen Beitrag zur heutigen Psychotherapie. Es erweist sich bei dieser Thematik allerdings schnell, dass diese klinischen Betrachtungen mit tagesaktuellen fachpolitischen Diskussionsfigurationen sehr eng verklammert sind.

Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie als Diskussionsfeld zum Thema Psychotherapie und Gesellschaft

Sehr umfangreich stellt sich in der Literatur seit 1990 die Thematisierung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie (IDG) dar. Das Verfahren wird dabei mitunter mit Psychotherapie in der DDR gleichgesetzt (dass dies so nicht stimmt, lässt sich beispielsweise Teil I dieser Übersicht oder Frohburg 2022 entnehmen). Hierbei handelt es sich um ein Gruppenpsychotherapieverfahren, in welchem die Gruppe quasi manualisiert verschiedene Phasen durchlief. Zentral hierbei war der „Kippprozess“. Die Gruppenleitenden hatten die Aufgabe, die Gruppe mit gezielten Provokationen zu einer Revolte gegen die Leiter*innen hinzusteuern. Wesentliches Arbeitsprinzip war auch die Arbeit im „Hier und Jetzt“, d. h., es sollten nur aktuelle Gruppensituationen thematisiert werden (Sommer 1997).

Das ambivalente Verhältnis dieses Verfahrens zum System, „zwischen Subversion und Anpassung“ (Seidler und Froese 2002), war dabei seit der Wiedervereinigung wiederholt Gegenstand von Reflexionen. Die kritische Auseinandersetzung mit Autorität wurde von Vertreter*innen des Verfahrens im Nachhinein oft als „revolutionär“ bezeichnet. Andererseits wurde dieses Verfahren auch als eine indirekte Anpassung an das System reflektiert, da sich in dem hierarchischen und abgeschotteten stationären Konzept die gesellschaftliche Realität letztlich abgebildet hätte, mitunter aber auch, da die Therapeut*innen die Patient*innen benutzt hätten, um stellvertretend eigene rebellische Anteile auszuagieren (beispielsweise Kneschke und Seidler 1992; Bartuschka 1992; Geyer 2000).

Eine Hintergrundfolie der Diskussionen um das Verfahren, war dabei die Frage, ob es als „psychoanalytisch“ bezeichnet werden kann, und ob in einer Diktatur – insbesondere der vergangenen realsozialistischen – Psychoanalyse existierte bzw. überhaupt existieren könne. Vertreter*innen des Verfahrens positionierten sich in dieser Frage prinzipiell bejahend – und v. a. ein monolithisches Verständnis der Psychoanalyse problematisierend – gegen Vertreter*innen der Psychoanalyse aus der alten Bundesrepublik, die diesen Geltungsanspruch grundsätzlich abstritten. Beispielhaft dafür ist die Debatte um Härdtle und Schneiders kritische Einlassung zur IDG (Härdtle und Schneider 1997a; 1997b; 1999; Röhrborn et al. 1997; Froese 1999). Die intendierte dynamische Gruppenpsychotherapie wurde unmittelbar nach der Öffnung kritisiert – offenbar ziemlich offen und heftig auf dem 3. Europäischen Kongress für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 1990 in Budapest (König 1991; Kneschke und Seidler 1992). Bei der Tagung wurde die IDG von westdeutschen Teilnehmern kritisiert, da sie als „zentralistische Institution“ funktioniert hätte, zu sehr an der sozialistischen, kollektivistischen Ideologie orientiert sei und dazu gedient hätte, „Patienten in das menschenfeindliche DDR-System“ (S. 230) zu resozialisieren. Nachdem Kneschke und Seidler, beide zu DDR-Zeiten in wichtigen Funktionen am Haus der Gesundheit bzw. der Klinik Berlin-Hirschgarten aktiv, diese Kritik heftig zurückwiesen, wurde einige Jahre später von Härdtle und Schneider (1997a) die Praxis der stationären Psychotherapie in der DDR, inklusive der IDG, kritisch beschrieben, was eine erste vehemente Reaktion von Röhrborn et al. (1997) sowie auch eine erneute Replik (Härdtle und Schneider 1997b) nach sich zog, die – und dies ist sicher ein psychologisches Moment der Debatte um die Struktur, Funktion und theoretische Einbettung der IDG – auch einen Kampf um die Deutungsmacht zeigte. Zwei Jahre später versuchten sich Härdtle und Schneider (1999) erneut an einer IDG-Kritik und stellten offen infrage, dass die IDG auch nur ansatzweise eine Nähe zu psychoanalytischen Konzepten zeige, stattdessen orientiert sei an durch die Gruppe zu erreichenden Eistellungsänderungen. Auch hierzu gab es eine – sehr viel differenziertere – Entgegnung durch Froese (1999), der den (westdeutschen) Autoren eine „grundsätzliche Ambivalenz zwischen Verständnis und Entwertung“ unterstellt.

In einer Literaturarbeit kontrastierte Sommer (1997) die theoretische Konzeption der IDG Kurt Höcks mit dem Göttinger Modell – einer gruppenpsychotherapeutischen Behandlungskonzeption, welche sich zeitgleich in der BRD entwickelte (Heigl-Evers et al. 1993). Konzeptuell bezieht Höck sich auf sowjetische Psycholog*innen und sozialistische Persönlichkeitsideale, allerdings auch auf psychoanalytische Elemente, eben auch auf das Göttinger Modell. Dabei befindet Sommer, dass die sozialistischen Bezugnahmen nicht nur eine legitimierende Fassade darstellten, um psychoanalytisches Gedankengut zu verschleiern, sondern das Verfahren mit dem sozialistischen Menschenbild tatsächlich bestimmte Grundannahmen teilte. Nicht zuletzt fand sich in der Verfahrenspraxis der verordneten Revolution gegen die Leiter*innen auch die realsozialistische Paradoxie wieder, wonach man die Menschen „… zu ihrem Glück zwingen muss“ (Sommer 1997, S. 221). Neben Einflüssen sozialistischer Ideen sieht Sommer in der IDG allerdings auch Einflüsse der Neopsychoanalyse Harald-Schultz-Henckes, Höcks Lehrers, verwirklicht (ebd.). Insofern sieht sie in der Debatte, ob die IDG psychoanalytisch sei, eine Wiederholung der Konflikte um Schultz-Hencke und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus (Sommer 2000).

Noch eine andere Perspektive in der Literatur zur IDG thematisiert die Weiterentwicklung(en) des Verfahrens seit 1990 und seine Annäherung an die Gruppenanalyse (beispielsweise Seidler und Misselwitz 2001, 2014; Seidler 2010). Hintergrund ist, dass die IDG Teil der aktuellen Ausbildungslandschaft wurde, indem sie zunächst eine eigene Sektion im Deutschen Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG) erhielt, die später in die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie (D3G) miteinmündete (Seidler 2010; Döring und Knauss 2013). Vertreter*innen der IDG gründeten weiterhin das psychotherapeutische Ausbildungsinstitut „Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin“, in dem aufgrund der eigenen Geschichte besonderer Wert auf gesellschaftliche und politische Kontexte und das Thema politischer Verfolgung in der DDR gelegt wird (Bomberg 2018; Seidler und Froese 2009).

Der multimodale Ansatz als Opposition zur bundesrepublikanischen Behandlungspraxis

In Halle entwickelte sich nach der Wiedervereinigung in Fortführung von bereits zu DDR-Zeiten etablierten Verfahren die „analytische Psychotherapie im multimodalen Ansatz“ (beispielsweise: Maaz 1997; Maaz et al. 1999; Maaz und Krüger 2001). Dabei handelt es sich um einen Ansatz, der, in psychoanalytischer Tradition stehend, die Verfahren Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, psychodynamische Einzeltherapie, Katathym-Imaginative Psychotherapie und Körperpsychotherapie integriert und für eine flexible und patient*innengerechte Anwendung der einzelnen Bausteine plädiert. Hans-Joachim Maaz vertritt diesen Ansatz hierbei in bewusster Opposition zur bundesrepublikanischen Behandlungspraxis. Hintergrund stellt die Besonderheit des bundesrepublikanischen Systems dar, die Kassenzulassung nur für die Verfahren Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie Psychoanalyse (seit Kurzem auch Systemische Therapie) vorzuhalten, wobei die Psychoanalyse hinsichtlich der möglichen Stundenkontingente nochmals privilegiert ist. Mit dieser Positionierung weist Maaz auf – im Vergleich zur DDR – in gewisser Hinsicht deutlich umfänglichere Regularien hin, die allerdings nicht nur im Sinne optimaler Patient*innenversorgung organisiert seien und nicht zuletzt gar zum Nachteil schwerer erkrankter Patient*innen ausfallen würden. Er unterstreicht eine problematische Marktorientierung des medizinischen Feldes und eine Privilegierung etablierter Interessengruppen (Maaz 1995, 1998).

Charakteristisch für diese Perspektive von Maaz ist, dass er Vorteile psychotherapeutischer Rahmenbedingungen der DDR unterstreicht, die im direkten Kontrast zum zwangsweise übernommenen Versorgungssystem der alten Bundesländer manifest werden. Hier ist die Beschäftigung mit der Psychotherapie in der DDR und ihrer Errungenschaften verklammert mit einer Kritik am bestehenden Versorgungssystem.

Untersuchungen an Patient*innen

Klinisch orientierte Arbeiten, die versuchen, die Perspektive der Patient*innen zu DDR-Zeiten systematisch zu erfassen, sind vergleichsweise selten. Bahrke et al. (2000) berichteten von einer explorativen Katamnesestudie und Aktenanalyse, die in den 1990er-Jahren an der Universitätsklinik Halle durchgeführt wurde und das Ziel hatte zu prüfen, inwiefern bei Lehrer*innen als besonders staatsnaher Patient*innengruppe ideologische Faktoren bei der Krankheitsentstehung eine Rolle gespielt haben könnten. Die Autor*innen kommen zum Ergebnis, dass dies in der untersuchten Population (n = 28, Behandlungszeitraum 1980er-Jahre), entgegen den ursprünglichen Vermutungen, nur eine untergeordnete Rolle spielte. Eine Einschränkung bestand dahingehend, dass die untersuchte Patient*innenpopulation sich überwiegend einem gehobenen Strukturniveau zuordnen ließ (S. 31), sowie dass kein*e Proband*in Betroffene*r repressiver staatlicher Maßnahmen war (S. 23). Die Behandlungsergebnisse waren dabei als durchaus positiv einzustufen (Wolf 1999, S. 47).

Geyer et al. (1995) verglichen psychosomatisch-psychotherapeutisch stationär behandelte Krankheitsbilder an der Universitätsklinik Leipzig vor, während und nach der „Wende“. Sie stellen fest, dass es seit der Wiedervereinigung zu einem sprunghaften Anstieg an schweren und „frühen“ Störungsbildern gekommen sei. Sie vermuten, dass dies eine Auswirkung der destabilisierenden Effekte der Transformation gewesen sein könnte.

Mit einem Fokus auf interpersonale Probleme und eine interpersonale Orientierung verglichen Strauß und Hess (1993) um die Wendezeit stationär langzeitbehandelte Patient*innen aus einer westdeutschen (Kiel) und einer ostdeutschen Klinik (Berlin-Hirschgarten) und beschrieben bei den ostdeutschen Patient*innen eine weniger ausgeprägte interpersonale Orientierung.

Es fällt auf, dass Beschäftigung mit den Patientenperspektiven in der (insgesamt sehr umfangreichen) Literatur seit 1990 recht spärlich ausfällt und eine systematische Erfassung bisher noch gar nicht erfolgt ist.

Zugang der Vergangenheitsbewältigung

Von den vorangegangenen Perspektiven wollen wir solche der Vergangenheitsbewältigung unterscheiden, die speziell problematische Seiten der (in dem Fall ostdeutschen) Vergangenheit und ihre Opfergruppen im Blick haben und insofern dezidiert ethisch motiviert sind.

Risiken, Nebenwirkungen und Grenzverletzungen

Eine mehrfach vorgetragene Kritik an dem Verfahren der IDG besteht darin, dass es als äußerst belastend dargestellt wird (Weise 1990; Bahrke 1997; Ersfeld-Strauß 2000). Diese Kritik unterteilt sich in zwei Facetten: zum einen die Tatsache, dass das Verfahren eine Dekompensation von Patient*innen billigend in Kauf genommen habe. Zum anderen der Verweis auf die Tatsache, dass das Verfahren faktisch zu einer Selektion relativ belastbarer Personen geführt habe, mit der Folge, dass schwerer erkrankte Patient*innen nicht zur Therapie aufgenommen worden seien und stattdessen in psychiatrischen Einrichtungen landeten. Dies sei insbesondere angesichts der damals dominanten Stellung des Verfahrens in der klinischen Versorgungslandschaft problematisch gewesenFootnote 1.

Die Aufarbeitung von Risiken und Nebenwirkungen wie auch von De-facto-Selektion vergleichsweise „gesunder“, zumindest ressourcenreicher Patient*innen betrifft ein Phänomen, das an sich nicht DDR-spezifisch ist und in der Psychotherapie generell unzureichend untersucht ist (Linden und Strauß 2018; Strauß 2015). Weitgehend unthematisiert im Hinblick auf die DDR ist hierbei das Risiko überforderungsbedingter Grenzverletzungen oder gar sexueller Übergriffe im therapeutischen Kontext. Dies erscheint insofern relevant, als Annette Simon darauf verweist, dass der an anderer Stelle mitunter positiv hervorgehobene DDR-spezifische Freiraum in der Arbeit mit Patient*innen (beispielsweise Maaz, s. oben) auch eine Kehrseite fehlender Kontrolle aufwies (Geuter und Simon 2000). Bei Ersfeld-Strauß (2000) wird dieser therapeutische Freiraum ebenfalls negativ als ein, sozusagen, „Auf-sich-allein-gestellt-Sein“ beschrieben, sowohl im Hinblick auf Therapeuten wie auf Patienten. Diese Aspekte müssten allerdings für eine einordnende Betrachtung in Art und Häufigkeit dann auch in Relation zur damaligen BRD, aber auch zu heute betrachtet werden (Schleu 2021).

Zersetzung, politischer Missbrauch und politische Selektion

Abzugrenzen hiervon sind Formen des Missbrauchs, die Spezifika des diktatorischen Systems darstellen. Die in kirchlichen Kreisen aktive Karin Elmer berichtet, von einer Psychologin angesprochen und gewissermaßen „in Therapie gelockt“ worden zu sein. Bei Akteneinsicht nach der Wiedervereinigung musste sie feststellen, dass diese Therapeutin von der Stasi auf sie angesetzt war und die Informationen, die sie in den Gesprächen offenbart hatte, dazu gedacht waren, gegen sie verwendet zu werden (Elmer 1995).

Eine umfangreiche Untersuchung zu politischem Missbrauch der DDR-Psychiatrie stammt von Süß (1998). Die Untersuchung stützt sich dabei v. a. auf die Auswertung von Akten aus dem BStU-Bestand und enthält auch Ausführungen zur Psychotherapie im Speziellen. Süß konnte in den von ihr gesichteten Akten keinen „extremen“ Fall wie jenen von Karin Elmer finden, weshalb sie mutmaßt, dass solche extremen Bearbeitungen „ziemlich selten waren“ (S. 296). Schweigepflichtverletzungen fanden sich in den von ihr untersuchten Akten allerdings mehrfach, wobei der Bereich Psychotherapie nicht separat ausgewiesen ist (S. 274). Speziell für die Psychotherapie geht sie von einer vergleichsweise geringen Einflussmöglichkeit der Staatssicherheit aus, konnte allerdings nur wenig spezifisches Aktenmaterial ermitteln (S. 305). Die IM-Rate der Bediensteten im Gesundheitswesen schätzt sie auf 1–2 %, speziell bei Ärzt*innen auf 3–5 % (S. 273). Dabei weist sie darauf hin, dass insbesondere im psychotherapeutischen Bereich das Überwachungsobjekt v. a. die Psychotherapeut*innen selber waren wie beispielsweise Michael Geyer oder Hans-Joachim Maaz (S. 306; Weil 2015, S. 34). Süß selbst schränkt die Aussagekraft ihrer Arbeit rückblickend insofern ein, als das Ziel damals gewesen sei zu prüfen, ob es eine systematische politische Instrumentalisierung der Psychiatrie nach dem Vorbild der Sowjetunion gegeben habe, was nicht der Fall war. Allerdings habe sie dabei andere Aspekte wie die Auswirkung potenzieller Omnipräsenz durch Spitzel auf die klinische Praxis nicht genauer betrachtet (Süß 2018).

Aspekte politischer Überwachung finden sich auch in Selbstzeugnissen von DDR-Therapeut*innen. Simon (2000a) berichtet, dass in ihrer Selbsterfahrungskommunität ein IM (inoffizieller Mitarbeiter, „Spitzel“) auf sie angesetzt war, dessen Informationen in einen Zersetzungsplan gegen ihre Person einflossen. Zudem geht sie davon aus, dass aufgrund von (berechtigtem) Misstrauen „mancher gar nicht erst zur Therapie gegangen“ (S. 262) sei. Misselwitz (1992) illustriert, dass auf Therapeut*innen- wie Patient*innenseite die Frage der Staatsnähe der jeweils gegenüberliegenden Seite zu einer komplexen doppelbödigen Kommunikation im stationären Alltag führte. Das Prinzip des „Hier und Jetzt“ der IDG habe nicht zuletzt deshalb auch die Funktion gehabt, heikle gesellschaftliche und biografische Themen auszuklammern.

Piskorz (1991, S. 51) berichtet von einer politisch orientierten Selektion, insofern es „weithin üblich“ gewesen sei, Ausreisewillige „selbst in psychischer Notlage nicht zur stationären Psychotherapie aufzunehmen“. Dieser Punkt ist im Fall vom Haus der Gesundheit (bzw. der Klinik Berlin-Hirschgarten) aktenkundig (Süß 1998, S. 312) und insofern heikel, als gerade Ausreiseantragsteller Zielobjekt psychisch krank machender staatlicher Repressalien werden konnten (Priebe et al. 1994).

Zusammengefasst zeigt sich die Problematik politischer Verfolgung in der DDR-Psychotherapie als facettenreich und v. a. in ihren indirekten Effekten als nicht ausreichend beleuchtet. Zu denken ist dabei nicht nur an aus politischen Erwägungen nichtaufgenommene Personengruppen, sondern auch daran, dass die politischen Verhältnisse im stationären Alltag eine doppelbödige Kommunikation notwendig machten, die viele potenziell Behandlungsbedürftige überfordert haben dürfte. Nicht zuletzt stellt sich angesichts der angemessenen Befürchtung nichtgesicherter Schweigepflicht zu DDR-Zeiten die Frage, ob wir es heute bei ehemals Oppositionellen und politisch Verfolgten mit einer noch heute eine wirksamen Langzeitfolge, einer generalisierten Misstrauensentwicklung gegenüber psychotherapeutischer Hilfe zu tun haben.

Strukturprobleme des Gesundheitssystems

Eine nochmals andere Perspektive nehmen Frewer und Erices (2015) ein. Sie befassen sich mit dem DDR-Gesundheitssystem und sehen die Beiträge ihres 2015 erschienenen Sammelbandes als Kontrapunkt zu der bis dahin bestehenden einschlägigen Literatur, in der das Gesundheitswesen der DDR hauptsächlich in einem positiven Licht als humanistische Errungenschaft des sozialistischen Staates dargestellt wird. Insbesondere verweisen sie darauf, dass die gesundheitspolitischen Leistungen eines Staates nicht unabhängig von dem Thema politischer Verfolgung betrachtet werden könnten, da diese staatlichen Maßnahmen ihrerseits gesundheitliche Schädigung substanziell produziert hätten. Gleichwohl diese Perspektive die Psychotherapie nicht direkt thematisiert, ist sie indirekt von Bedeutung, da sie strukturelle Grenzen von Psychotherapie vermuten lässt.

Im Folgenden möchten wir beispielhaft den ersten einführenden Aufsatz referieren: Erices und Gumz (2015) sehen in ihrem Beitrag anhand von BStU-Akten das DDR-Gesundheitssystem als von einem grundlegend unzumutbaren Mangelzustand gekennzeichnet, etwa dem Fehlen basalen medizinischen Ge- und Verbrauchsmaterials sowie katastrophalen baulichen Zuständen der Kliniken. Die Mangelsituation wurde noch durch den Druck, Devisen zu beschaffen, verschärft, indem – ohnehin knappes – Spenderblut in den Westen verkauft wurde. Ein zentrales Problem war zudem bis zuletzt der anhaltende Ärztemangel, was mit der anhaltenden Abwanderung von Ärzt*innen in den Westen im Zusammenhang stand. Zudem verweisen sie darauf, dass die Gesamtbevölkerung der DDR durch gesellschaftliche Problemlagen wie Umweltverschmutzung oder mangelnde Wasserhygiene strukturell gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt wurde (wofür sich auch in zahlreichen Ost-West-Vergleichen gesundheitsbezogener Variablen Anhaltspunkte finden lassen, beispielsweise Geyer et al. 1995). Weiterhin verweisen sie auf die listenmäßige Erfassung „psychisch gestörter Bürger“ und deren anschließende organisierte stationäre Aufnahme oder Zuteilung einer „Fürsorgerin“ vor einem anstehenden Staatsbesuch Helmut Schmidts. Zuletzt wird die Kooperation mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auf Bezirksarztebene thematisiert. Das MfS habe dabei einen Teil des Informationsbedarfs bereits über offizielle Verbindungen decken können. Darüber hinaus hätten sich IM unter den Bezirksärzt*innen befunden.

Die Perspektive von Frewer, Erices und Gumz offenbart ein strukturelles Dilemma zwischen Gesundheit und politischen Funktionserfordernissen einer Diktatur, bei der auch der absolute Ressourcenmangel des Gesundheitssystems als limitierender Faktor auffällt (weiterführend auch Erices 2022).

Sozialwissenschaftlicher Zugang

Im Folgenden wollen wir noch auf den ersten Blick eher heterogene Perspektiven aufzeigen, die allerdings gemeinsam haben, dass sie das Thema Psychotherapie in der DDR als Materialfeld für Fragestellungen sehen, die allgemeinere gesamtgesellschaftliche Funktionszusammenhänge behandeln. Sie stellen somit einen Beitrag zur soziologischen Gesellschaftstheorie dar. Es ist hier allerdings zu beachten, dass bei dieser Thematik zwischen Soziologie und benachbarten Disziplinen, insbesondere politologischen und zeithistorischen Fragestellungen fließende Übergänge bestehen (daher der übergreifende Terminus „Sozialwissenschaft“).

Ein paradoxer Freiraum von Ärzt*innen in der Diktatur

Ernst (1997) untersuchte die Ärzteschaft in SBZ und DDR im Zeitraum 1945-1961 und stützt sich dabei auf Publikationen aus der DDR-Zeit, verschiedene Aktenbestände sowie Zeitzeugeninterviews. Sie konstatiert einen deutlichen Handlungsspielraum der Ärzt*innen und Resistenz gegen staatliche Einwirkungsversuche, was sich nicht zuletzt am gescheiterten Versuch, die Medizin zu „pawlowisieren“, zeigte. Hierfür führt sie mehrere strukturelle Erklärungen an: a) chronischer Ärzt*innenmangel aufgrund der Abwanderungen bis 1961, b) Eigenlogik der Institution Klinik mit einer eigenen Sozialisationsstruktur und c) der propagierte medizinische Versorgungsstandard, mit dem sich das Regime legitimierte, führte zu einem Angewiesensein des Staates auf die Ärzt*innen und räumte ihnen entsprechende Verhandlungsmacht ein (S. 341 f).

Die Perspektive, die Ernst einnimmt, hat Ähnlichkeit mit der von Frewer und Erices, da sich beide mit dem Gesundheitssystem befassen und die analytischen Schlussfolgerungen auf einer Makroebene gezogen werden. Abgrenzen lässt sich die Perspektive von Ernst dahingehend, als sie eben nicht spezifisch Vergangenheitsbewältigung im Blick hat, sondern auf das Herausarbeiten allgemeinerer Funktionszusammenhänge abzielt, mit denen sie den auf den ersten Blick paradox erscheinenden Befund zu erklären versucht, dass in der Diktatur für eine Gruppierung Räume weitgehender Freiheit und Autonomie bestanden.

Für künftige Arbeiten mit speziellem Bezug auf Psychotherapie wirft dieser Befund die Frage auf, ob sich einerseits ein „humanistischer“ Zugzwang des sich auf sozialistische Ideale berufenden Regimes zeigte, der in der fürsorglichen Ausgestaltung des medizinischen Systems seinen Niederschlag fand und die oben beschriebenen subversiven Potenziale der DDR-Psychotherapie ermöglichte und vielleicht gar Freiräume für demokratische Emanzipation zur Folge hatte. Andererseits stellt sich auch die Frage, ob durch diese „Resistenz“ der Ärzt*innen gegenüber staatlichen Einwirkungsversuchen eine Kehrseite bisher noch unterbeleuchteter Freiräume für sozusagen anarchische, „unstaatliche“ Willkür entstand, die sowohl gegenüber ärztlichen Kollegen wie auch gegenüber Patienten Machtmissbrauch strukturell begünstigt haben könnte.

Psychotherapie in der DDR als Anwendungsfeld der Wissenssoziologie

Leuenberger untersucht in mehreren Arbeiten (1995, 2000, 2001, 2002, 2006, 2007) die Community der DDR-Psychotherapeut*innen und stützt sich dabei v. a. auf einen Korpus von 46 Interviews aus dem Erhebungszeitraum von 1990 bis 2003 (2007, S. 181). Sie sieht dabei diesen Forschungsgegenstand als exemplarisches Anwendungsfeld im Anschluss an Luckmanns wissenssoziologischem Paradigma. So arbeitet sie beispielsweise heraus, dass Realitätskonstruktion professioneller Wissensbestände immer eingebettet ist in einen gesellschaftlich bestehenden Rahmen und sich in konkurrierenden Konstruktionen immer auch Diskrepanzen zwischen einer Konstruktion und der hiermit abzubildenden Praxis offenbaren. Während es zu DDR-Zeiten notwendig war, bestehende Praktiken möglichst nicht offen als psychoanalytisch darzustellen und entsprechend zu konzeptualisieren, hat sich dies, so Leuenbergers These, nach 1989/1990 umgekehrt. Nun wurde es aufgrund der bestehenden Regelungen des BRD-Kassensystems, der institutionalisierten Psychotherapieausbildung, aber auch aufgrund neuer legitimer Wissenskontexte notwendig, in der ehemaligen DDR praktizierte Therapiepraktiken als möglichst psychoanalytisch orientiert zu konstruieren. Die lokalen Therapiepraktiken wichen dabei damals wie heute graduell von offiziellen Konzeptualisierungen durchaus ab. Methodologisch sensibilisiert sie dabei auch, dass die Rekonstruktion von historischer Vergangenheit nicht unabhängig von gegenwärtigen Konfliktfigurationen erfolgt (Leuenberger 2001, 2002, 2007).

„Mikropolitische“Footnote 2 Perspektive auf psychoanalytische Literatur

Feustel (2013) betrachtet in einem theoretischen Aufsatz Diskussionsmuster psychoanalytisch orientierter Literatur zum Thema DDR seit 1990, die wesentlich einem psychotherapeutischen Diskussionsfeld entstammen. Auf der einen Seite sieht er prominente Deutungen über kollektiv prägende Faktoren auf die Psyche der DDR-Bürger*innen, von denen der Gefühlsstau von Maaz (1990) den prominentesten Vertreter darstellt. Diesen Versuchen stellt er Publikationen über gemeinsame klinische Fallbesprechungen aus den Jahren 1995–2003 der Kommission West-Ost der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung gegenüber. Diese Kontrastierung resultiert darin, dass sich globale Deutungen in einer Einzelfallbetrachtung nicht wiederfinden lassen. Die Teilnehmer*innen an den gemeinsamen Falldiskussionen von Ost- und West-Psychotherapeut*innen kamen immer wieder zu dem Ergebnis, dass systemspezifische Faktoren für die Psychodynamik eine untergeordnete Rolle spielen. Feustel hebt allerdings hervor, dass in den Diskussionen unterschiedliche Zielsetzungen der therapeutischen Arbeit schon betont wurden. In den Diskussionen wird hinter diesem Zurücktreten der gesellschaftsrelevanten Thematik von den Teilnehmenden selber eine „Verdrängungsleistung“ vermutet. Feustel stellt dieser Deutung hingegen die Vermutung gegenüber, dass stereotype – und stigmatisierende – Ost-West-Differenzen einer Einzelfallprüfung nicht standhalten.

An der Arbeit von Feustel wird nicht nur die (biografische) Einbindung psychoanalytisch orientierter Diskussionen in eine identitätsorientierte Ost-West-Figuration deutlich, sondern auch, dass es durchaus zu Friktionen kommen kann, wenn man versucht, Analysen zusammenzubringen, die unterschiedlichen Perspektiven entstammen.

Biografische Perspektiven: ein Beispiel

Viele Interviews, Selbstzeugnisse und fachhistorische Arbeiten zum Thema DDR-Psychotherapie enthalten eine Fülle an allgemeinem (auto-)biografischem und zeitgeschichtlichem Material, welches über das psychotherapeutische Feld hinausgeht (von den oben aufgeführten Aufsätzen beispielsweise Bahrke 1997; Ersfeld-Strauß 2000; Maaz 1995; Monografien beispielsweise Zimmermann 2012; weiterhin findet sich in den Sammelbänden von Bernhardt und Lockot 2000 sowie Geyer 2011 viel dahingehendes Material; darüber hinaus auch die werkbiografischen und fachhistorischen Arbeiten, insbesondere zu Müller-Hegemann, s. Teil I dieser Übersicht). Hier findet sich reichhaltiges Material für sozialwissenschaftliche Forschungsfelder, welches bisher wenig beachtet wurde. Dieses Potenzial wollen wir beispielhaft im Folgenden anhand zweier prominenter Protagonisten (in diesem Rahmen notwendigerweise sehr fragmentarisch) anreißen.

Annette Simon (*1952) beschreibt sich in autobiografischen Betrachtungen als eine Vertreterin der Ost-68er-Generation, die die humanistischen Ideale des Staatssozialismus ernst nahm, sich im Zeitverlauf jedoch genau aus diesen Gründen zunehmend „fremd im eigenen Land“ vorkam und gar zum Objekt politischer Verfolgung wurde. Diese Figuration war einerseits mitentscheidend für die Wahl ihres Psychologiestudiums und psychotherapeutischen Berufs, da sie hoffte, so die Realität im Sinne der sozialistischen Utopie im Kleinen verändern zu können. Simon führt aber noch weiterhin aus, dass durch ebenjene Figuration auch ein kollektives Unzufriedenheitspotenzial entstand, welches in die Bürgerbewegung miteinfloss und durch die Entwicklungen nach der Friedlichen Revolution ein zweites Mal frustriert wurde (Simon 57,58,a, b, 2009b, 2022).

Ebenfalls als Ost-68er bezeichnet sich Michael Geyer (*1943), der, beeinflusst durch diesen Zeitgeist, zusammen mit mehreren Kollegen eine „wilde“ Selbsterfahrungsgruppe initiierte und deren Protagonist*innen sich im psychotherapeutischen Institutionengefüge mit ihren Ideen zunehmend etablieren konnten und die Etablierung der IDG mitbeeinflussten. Er beschreibt hierbei auch eine ideelle Unterstützung etablierter – teilweise sozialismusnaher – Mentor*innen, allen voran Kurt Höck. Geyer selbst bezeichnet dies als „Gang durch die Institutionen“ und sieht die Entwicklung der DDR-Psychotherapie dabei als „Bausteinchen“, der zum Mauerfall beigetragen hat. Er beschreibt aber auch, wie die IDG paradoxerweise eine ehrliche Verpflichtung an ein an Marx orientiertes freies und selbstbestimmtes Individuum darstellte. Insofern sieht er das Verhältnis dieses Verfahrens zur sozialistischen Diktatur ambivalent (Geyer und Senf 2001; Geyer 2010, 2022).

Bei einem soziologischen Vergleich beider Berichte kann man nachzeichnen, dass die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und Unterschieden beider Biografien stark davon abhängig ist, auf welcher Aggregationsebene man diese interpretiert, und welches theoretisches Paradigma man zugrunde legt. Vor dem Hintergrund einer feinkörnig auflösenden handlungstheoretischen Analyse (beispielsweise nach Schütze 1984) stellen sich beide Schilderungen im Hinblick auf die Relation von biografisch erlebten Gestaltungs- und Erleidenserlebnissen recht unterschiedlich dar, und es werden hier auch deutliche lokale Differenzen offensichtlich. Wissenssoziologisch (beispielsweise nach Mannheim 1928) hingegen lassen sich beide „Ost-68er“ nicht nur als Angehörige eines Generationszusammenhanges beschreiben, sondern es lassen sich darüber hinaus auch Ähnlichkeiten in der politischen Motivations- und Präferenzstruktur, also im normativen Orientierungswissen, konstatieren. Aus einer nochmals übergeordneten Perspektive, die langfristige Entwicklungsverläufe der europäischen Moderne untersucht, lässt sich darüber hinausgehend insofern eine Ähnlichkeit feststellen, als beide Motivationsstrukturen sich als eine Art immanente Opposition zum Staatssozialismus beschreiben lassen und somit mit einer Prognose Herbert Marcuses von 1958 über selbstsubversive Entwicklungstendenzen des Sowjetmarxismus in Übereinstimmung zu liegen scheinen, wonach „die fortgesetzte Verbreitung des Marxismus und die Unterweisung in ihm sich für die sowjetischen Machthaber noch einmal als gefährliche Waffe erweisen kann“ (Marcuse 1964, S. 246).

Ausblick

In diesem Teil der Übersicht haben wir nachgezeichnet, wie ein klinischer und fachpolitischer Zugang den Einfluss der DDR-Psychotherapie auf die heutige Versorgungslandschaft fokussiert, wobei die Diskussionen fachliche Debatten zum Thema Psychotherapie und Gesellschaft angestoßen haben. Tagesaktuelle fachpolitische und klinische Aspekte sind hierbei eng verzahnt, wobei neben Defiziten der DDR-Psychotherapie auch auf Bewahrenswertes verwiesen wird, was auch mit Kritik am bestehenden (westdeutsch geprägten) Versorgungssystem verbunden ist. In diesen Diskussionen zeigt sich eine deutliche Dominanz der Literatur aus dem Feld der IDG, während andere Verfahren – wenn überhaupt – fast nur unter fachhistorischer Perspektive thematisiert werden (Strauß et al. 2022). Auffällig bleibt auch die vergleichsweise geringe Beachtung der Patientenperspektive.

Aus einem Zugang der Vergangenheitsbewältigung lässt sich sagen, dass das Thema Risiken, Nebenwirkungen und Grenzverletzungen in der DDR-Psychotherapie vergleichsweise wenig beleuchtet ist, wobei v. a. das Verfahren der IDG gelegentlich als sehr belastend dargestellt wird, welches v. a. hierdurch auch schwerer erkrankte Patienten de facto exkludiert habe. Hier müssten für einen fairen Vergleich allerdings auch Relationen zur globalen Fachentwicklung im Westen und zu heutigen Versorgungsproblemen hergestellt werden.

Im Hinblick auf politischen Missbrauch lässt sich sagen, dass es wohl keinen systematischen politischen Missbrauch der DDR-Psychotherapie gab, (extreme) Einzelfälle allerdings durchaus vorkamen. Unterbelichtet sind hier indirekte Auswirkungen politischer Verfolgung und potenzieller Bespitzelung, die eine Unterversorgung systemkritischer Personenkreise, sowie längerfristige Auswirkungen auf ein institutionelles Misstrauen vermuten lassen. Erwähnenswert ist hierbei ist nicht zuletzt, dass das Gesundheitssystem der DDR hierbei für die Reparatur von Gesundheitsschäden zuständig war, die andere Teilsysteme fahrlässig oder gar bewusst selber erzeugt hatten.

Ein sozialwissenschaftlicher Zugang offenbart einen paradox wirkenden weitreichenden Freiraum von ärztlichem Handeln in einer Diktatur, der im Hinblick auf Psychotherapie noch einer differenzierteren Einordnung bedarf. Am Gegenstand der DDR-Psychotherapie lässt sich weiterhin nachzeichnen, wie die Konstruktion von gesellschaftlichen Wissensbeständen über die Vergangenheit dabei in Konfliktfigurationen eingebunden ist, die mit den aktuellen Institutionssystemen zusammenhängen.

Eine weitere Figuration ist die Ost-West-Dynamik, bei der Feustel darauf hinweist, dass hier globale (Vor‑)Urteilsheuristiken mit Einzelfallprüfungen abgeglichen werden müssen. Nicht zuletzt bietet biografisches Material von in der DDR praktizierenden Psychotherapeuten Potenzial für differenzierte soziologische Fragestellungen, wobei zu beachten ist, dass solche Analysen je nach interessierender Aggregationsebene sehr unterschiedlich erfolgen.

Wir haben versucht darzulegen, dass die Erforschung von Psychotherapie in der DDR ein komplexes Vorhaben ist, welches multidisziplinär und multimethodal vorgehen muss, und die es notwendig macht, viele unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen, die sich z. T. widersprechen, zum größeren Teil allerdings schlichtweg unverbunden nebeneinanderstehen.

Wir hoffen, gezeigt zu haben, dass dies allerdings ein Unterfangen ist, welches sich nicht zuletzt deswegen besonders lohnt, da es weit über rein fachhistorische Betrachtungen hinausgeht und wichtige Beiträge liefern kann, für Erkenntnisse über das gesamte gesellschaftliche System der „Fürsorgediktatur“ DDR, die heutige psychotherapeutische Praxis, heutige Versorgungsprobleme bestimmter (Opfer‑)Gruppen sowie allgemeine soziologische Fragestellungen. Ein nunmehr etwas distanzierterer Blick auf die Psychotherapie einer untergegangenen Gesellschaft sensibilisiert auch im heutigen klinischen Alltag dafür, dass psychisches Leid, vermittelt über die Biografie, immer in gesellschaftliche Funktionszusammenhänge eingebettet ist, die auch das (berufs‑)biografisch eingebettete psychotherapeutische Handeln nicht unberührt lassen.

Methodologisch bleibt an der Stelle noch festzuhalten, dass von einer berufsbiografischen Einbettung auch wissenschaftliches Handeln nicht ausgenommen ist, insbesondere nicht bei einem solchen Forschungsthema mit gleichsam relevanten zeitgeschichtlichen wie aktuellen (fach-)politischen Bezügen. Insofern bleibt unsere vorgestellte Gruppierung verschiedener Perspektiven auf den Gegenstand DDR-Psychotherapie eine weitere, wenngleich vielleicht neue Perspektive. Wir denken, dass Rückbezüglichkeiten solcher Art in einem verständigungsorientierten Austauschprozess klärend reflektiert werden können. Zu solch einem Prozess möchten wir mit diesem Entwurf ausdrücklich einladen – nicht zuletzt deshalb, da wir der Auffassung sind, dass Methoden aus der psychotherapeutischen Praxis für wissenschaftliche und demokratische Verständigungsprozesse einen bisher unterschätzten Beitrag leisten können.