Technologische Innovationen und gesellschaftliche Krisen gehen mit mehr oder weniger dramatischen Veränderungen bezüglich bisheriger menschlicher Gewohnheiten und mit Verschiebungen psychischer, psychosozialer und psychosomatischer Grenzen einher. Veränderungen des Mentalisierens betreffen Veränderungen der wahrgenommenen Innen- und Außenwelt und zeigen sich auch in Online-Psychotherapien. Diesen Herausforderungen sollten Therapeuten in mentalisierungsfördernder und neugieriger Weise begegnen.

Hintergrund

Schon lange vor der durch das „severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“ (SARS-CoV-2-) ausgelösten Pandemie beschäftigten sich Psychotherapeuten kritisch oder erwartungsvoll mit der Bedeutung und der Zukunft von Online-Psychotherapien, einschließlich der Chancen und Risiken der neuen Möglichkeiten der Patientenbehandlung (Weinberg 2014; Franke 2005; Erwin et al. 2004; Dettbarn 2019; Lemma und Fonagy 2013; Lemma 2017).

Technologische Innovationen oder Revolutionen gingen schon immer mit mehr oder weniger dramatischen Veränderungen bezüglich menschlicher Gewohnheiten als auch mit Verschiebungen psychischer, psychosozialer und psychosomatischer Grenzen einher. Veränderungen der Wahrnehmung und damit des Mentalisierens betreffen Veränderungen der wahrgenommenen Innen- und Außenwelt. Historisch zeigte sich dies eindrucksvoll mit Beginn des Industriezeitalters etwa an den „Betriebsunfällen“ der Telefonistinnen zu Beginn des 20. Jh., die von den meisten Autoren den Symptomen der traumatischen Neurosen zugeordnet wurden (Killen 2003; Podoll 1991; Bernhardt 1906).

Bereits Ende des 19. Jh. veröffentlichte der HNO-Arzt Blake (1890) theoretische Überlegungen, „dass der gewohnheitsmäßige Gebrauch des Telefons in manchen Fällen, in denen das Gehör bereits herabgesetzt sei, nachteilig sei“. Das Verschwinden des Phänomens des Telefontraumas wurde nicht nur dem technischen Fortschritt zugeschrieben, sondern auch als Folge eines Gewöhnungsprozesses an das neue telekommunikative Medium aufgefasst. Aber ganz verschwand diese Symptomatik nicht: So befürchteten Menschen seit den 1990er-Jahren immer wieder, dass Smartphones und WLAN-Router mit ihrer elektromagnetischen Strahlung („Elektrosmog“) einen Hirntumor, ein Karzinom, eine Autoimmunerkrankung oder eine Leukämie induzieren könnten, was heute weitgehend als widerlegt gilt. Da zum Schutz der Bevölkerung vor gesundheitlichen Gefahren durch elektrische und magnetische Felder von Niederfrequenz- und Gleichstromanlagen immer wieder Verordnungen zur Festlegung von Grenzwerten durch das Bundesimmissionsschutzgesetz veröffentlicht werden, wird dies von verschiedenen, eher unseriösen Anbietern ökonomisch als Geschäftsmodell genutzt.

Die rasante soziotechnologische Entwicklung, die Zugänglichkeit sowie Nutzung von Mobiltelefonen und des Internets haben sowohl das Tempo als auch das Ausmaß an Veränderungen in unserem Leben schlagartig erhöht (Decker und Brähler 2020). Das kollektiv angestiegene epistemische Misstrauen in Form von Verschwörungsüberzeugungen und fake news reduzierte dramatisch die Fähigkeit des Mentalisierens in jenen gesellschaftlichen Gruppen, die mit dieser Geschwindigkeit der Veränderungen nicht mehr mithalten konnten oder wollten (Tab. 1). Epistemisches Vertrauen ist von entscheidender Bedeutung für das Vertrauen in den eigenen Körper, hat aber auch Risiken, wie z. B. das Risiko der Vertrauensseligkeit, das mit der Schwierigkeit verbunden ist, Fake News von wahrheitsgehaltigeren News zu unterscheiden. Epistemisches Vertrauen birgt die Gefahr, dass Menschen, denen wir vertrauen, uns falsch informieren oder uns Informationen vorenthalten, wenn wir sie am meisten bräuchten. Ein Problem ist jedoch nicht so sehr die Kompetenz des Anderen, sondern dessen Interesse und Aufrichtigkeit (Sperber et al. 2010). Bisherige Forschungsdaten legen nahe, dass basales Vertrauen zu einer Bezugsperson oder Gruppe, einschließlich der Fähigkeit, die Wahrnehmung und eigenes Denken als sichere Informationsquelle zu nutzen, durch Blickkontakt, durch geteilte Aufmerksamkeit („joint attention“), durch gestische Hinweise („ostensive cues“) und emotionale Prosodie der Stimme gefördert wird (Csibra und Gergely 2009), was auf die Notwendigkeit verweist, sich mit sozialer Kommunikation wissenschaftlich vertieft auseinanderzusetzen.

Tab. 1 Dimensionen der sozialen Kommunikation bezüglich epistemischen Vertrauens, Misstrauens und Leichtgläubigkeit. (Mod. n. Campbell et al. [2021])

Im Mentalisierungsmodell fand das Wort Körper („body“) bis vor Kurzem nur in Form von „embodied mentalizing“, als verkörperlichtes, verleiblichtes oder verkörpertes Mentalisieren Erwähnung (Shai und Belsky 2011, 2017). Der Körper und der im Sinne von Selbstvergewisserung genutzte Körpermodus („body mode“) als prämentalistischer Modus wurden erst in jüngster Zeit in das Mentalisierungsmodell integriert (Schultz-Venrath 2021), obwohl bezüglich der Entwicklung und Verfeinerung der Mentalisierungsfähigkeit der eine oder andere von der körperlichen Ebene als unterste Ebene ausgegangen war (Allen et al. 2011): Säuglinge entwickeln erst ein „Gewahrsein des Selbst und anderer Menschen als physische Akteure, die belebt sind und sich aus eigener Kraft bewegen. Ihre physische Urheberschaft trage zum Gewahrsein des Selbst als Urheber von Aktionen (wie etwa der Arm- und Beinbewegungen) und als Quelle der Beeinflussung äußerer Objekte (zum Beispiel des Balles, den das Kind in Bewegung versetzt) bei. Dies fördere die Differenzierung zwischen Selbst und Anderem“, was Gergely und Watson (1996 und 2014) empirisch präzise mit dem Kontingenzentdeckungsmodul und mit der Suche des Säuglings nach nichtperfekten Kontingenzen ab dem 3. Lebensmonat belegten.

Der von Vertretern des Mentalisierungsmodells aktuell häufiger genutzte Begriff „embodied mentalizing“ trifft die mit dem prämentalistischen Körpermodus erfassten Phänomene u. E. aber nicht: „Im Körper-Modus wird (noch) nicht mentalisiert“ (Schultz-Venrath 2021). Die bisherige Auffassung, dass Mentalisieren bereits der Sprachentwicklung vorausgehe, weil das mütterliche Verständnis des inneren Zustands des Kindes körperlich oder zumindest vorsprachlich lange vor dem Erscheinen des ersten Wortes erfahren und kommuniziert werde (Bateman und Fonagy 2019), widerspricht der klassischen Mentalisierungstheorie. Diese ordnete die Fähigkeit des Mentalisierens – analog zur „theory of mind“ (ToM) – mit dem „false belief paradigm“ dem 3.–4. Lebensjahr zu, ohne dass der Körper zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt worden war.

Was ist Mentalisieren?

Mentalisieren ist ein Prozess somatopsychischer Entwicklung (Lecours und Bouchard 1997) sowohl in der Dyade als auch in Gruppen. Voraussetzung für die Entwicklung des Mentalisierens ist eine kontinuierliche, niemals endende, langsame Transformation affektiv-sensorischer Reize mit der Folge der Organisation und Multiplikation von Repräsentanzen, die man sich aber nicht statisch, sondern fluide im neuronalen Netzwerk vorstellen muss. Solche Repräsentanzen bestehen aus Selbst- und Objekt-, Affekt- und Gruppen-Repräsentanzen, einschließlich der Repräsentanzen für bestimmte Körperteile (z. B. Vagina und Penis).

Durch die Einbeziehung des Körpers und körperlicher Wahrnehmungen von sich selbst (im Sinne der Proprio‑, Intero- und Exterozeption) und gleichzeitig von anderen hat sich die klassische Definition von Mentalisieren erweitert (Schultz-Venrath 2021). So versteht man unter Mentalisieren jetzt die meist vorbewusste imaginative Fähigkeit, „terms of mental states“ (Gedanken, Gefühle, Überzeugungen, Wünsche und körperliche Wahrnehmungen) von sich selbst und Anderen (z.B. in der Gruppe) intentional auszutauschen. Dadurch versteht ein Individuum bzw. eine Gruppe, implizit und/oder explizit die Handlungen von sich selbst und anderen als sinnhaft. Diese Definition unterscheidet sich von der bisherigen, die ausschließlich auf mentale Fähigkeiten fokussiert.

Die neue Definition bedeutet, dass nicht nur mentale, sondern auch körperliche Zustände auf etwas bezogen sind, während physikalischen Objekten keine Intentionalität zugeschrieben werden kann (Dennett 1987). Für das Verstehen von Emotionen und Affekten als „start-up“ des Mentalisierens ist die Intentionalität, die jedem Affekt und jeder Emotion zugrunde liegt, von zentraler Bedeutung. So ist z. B. die Intentionalität von Ekel, ein toxisches Objekt auszustoßen, von Wut, das Gegenüber zu beseitigen. Intentionalität entscheidet über die Art und Weise jeglicher Kognition, weil Affekte und Emotionen ein intrinsischer Bestandteil von Kognition sind (Allen et al. 2011). Da Patientinnen mit strukturellen und/oder somatoformen Störungen entweder über instabile oder aber über noch keine entwickelten Repräsentanzen verfügen, kommt der „Online“-Regulierung von Affekten eine ebenso große Bedeutung zu wie der sich anschließenden Differenzierung noch diffuser oder verschobener Affekte durch soziales Biofeedback im Sinne elterlicher Affektspiegelung. Dies wird therapeutisch von Vertretern der Mentalisierungsbasierten Psychotherapie (MBT) bei adoleszenten und erwachsenen Patientinnen zunehmend erfolgreich genutzt. Die Spiegelung sollte jedoch sowohl kontingent (z. B. muss Traurigkeit mit Traurigkeit und nicht mit Freude gespiegelt werden) als auch markiert sein (z. B. ist der gespiegelte Affektzustand fast, aber eindeutig nicht der der Patientin), um die Internalisierung eines fremden Selbst zu vermeiden (Bateman und Fonagy 2004). Eine falsche Selbst-Pathologie wird dann gefördert, wenn vor einer Repräsenanzen-Bildung gedeutet und nicht (affektfokussiert) nachgefragt wird.

Diese Art von „Online“-Regulierung unterscheidet sich aber gegenüber der Online-Therapie, weil der Körper auf dem Bildschirm anstelle von 3 nur noch in 2 Dimensionen, einschließlich der Reduktion weiterer körperlicher Phänomene, wahrzunehmen ist, mit erheblichen Folgen für die Kommunikation. Die Affektspiegelung ist durch den Bildschirm auf jeden Fall verändert, verzerrt oder zuweilen gar nicht möglich. Weinberg (2021) und Lemma (2017) sprechen deshalb von „disembodiment“ oder von „disintermediation“. Unter Disembodiment, das als Verlust der Zwischenleiblichkeit (Merleau-Ponty 1974) angesehen werden kann, wird verstanden, dass ein Nutzer, sobald er online ist, den Körper nicht mehr brauche und unabhängig von ihm teilnehmen könne, was letztlich mit einem Gefühl der Loslösung von der durch den physischen Körper definierten Identität einhergeheFootnote 1. Disintermediation kommt als Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften und meint den Wegfall einzelner Stufen der Wertschöpfungskette, der mit einem Bedeutungsverlust des Intermediären einhergeheFootnote 2, ein Phänomen, das v. a. ältere Psychotherapeutinnen, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind, beklagen. Unter Berücksichtigung dieser beiden Definitionen müsste Mentalisieren online deutlich erschwert sein, wogegen allerdings die klinische Erfahrung spricht, wenn ein Therapeut sich mit der Technik von Onlinetherapien hinreichend gut vertraut gemacht hat und professionell mit Störungen in dieser „neuen“ Umgebung umgehen kann. Aufgrund der Isolation und Vereinsamung unter Pandemie- sowie unter Klimakatastrophenbedingungen oder Kriegserfahrungen werden Online-Einzel- und Online-Gruppenpsychotherapien von den meisten Patientinnen sehr geschätzt, weil diese „besser als kein Kontakt“ seien. Trotzdem fehlen bisher Untersuchungen, wie sich die Phänomene des Disembodiment und des Disintermediation auf das Mentalisieren und insbesondere auf die Affekt- und Emotionsregulation im Langzeitverlauf und nachhaltig auswirken. Möglicherweise wird der Ersatz des dreidimensionalen Körpers durch einen zweidimensionalen Körper in Online-Therapien durch die Dominanz des visuellen Systems kompensiert. Das visuelle System scheint für die emotionale und kognitive Entwicklung durch die kulturell bedingte Überwertigkeit des Sehsinns eine herausragendere Rolle zu spielen als die anderen Sinne, wie etwa das Riechen und Fühlen, wobei diese für die Reifung der sensorischen Systeme ebenfalls von großer Bedeutung sind. Bei nicht wenigen psychoanalytischen Theoretikern (z. B. Bion) spielen der Sehsinn und das Sehen des Therapeuten als Austausch von Mimik, Körperhaltung und Gestik so gut wie keine Rolle. Dabei ist schon lange bekannt, dass der emotionale Gesichtsausdruck der Mutter der mit Abstand wirksamste visuelle Stimulus im Rahmen des sozialen Biofeedbacks für den Säugling ist (Gergely und Watson 1996, 2014).

In der psychoanalytischen Community wird noch wenig reflektiert, dass auch das Setting der Couch im Grunde eine Art Disembodiment darstellt, da es primär „nur“ auf das Hören sowie auf die Assoziations- und Fantasietätigkeit abzielt. Gleichzeitig ist die Stimme des Therapeuten in Beziehung zur Stimme des Patienten wenig untersucht. Insofern ist erstaunlich, dass in den psychoanalytischen Theorien bisher weitgehend verleugnet wird, dass für die Bildung neuer und stabiler Selbst- und Objektrepräsentanzen der „ganze“ Therapeut als „Spiegel“ mit seiner körperlichen Präsenz, mit seinen Gesten sowie mimischen und körperlichen Reaktionen benötigt wird (Schultz-Venrath 2021). Freud zielte vor mehr als 100 Jahren mit der Couch auf eine möglichst optimale Behandlungsmethode, die dem Setting der Suggestions- und Hypnosepraxis mit der dort vorgegebenen Asymmetrie zwischen Analytiker und Patient entstammte. Wenig beachtet ist jedoch das Risiko, dass beim Couch-Setting, bei dem der Analytiker hinter dem Patienten sitzt, der Kontakt zum Körper des Patienten weitgehend verloren geht, und nur noch über das Hören, manchmal über den Geruch, besteht. Durch die liegende Position des Patienten und die sitzende des Analytikers ordnen sich beide Körper asymmetrisch an, mit unterschiedlichen Blickrichtungen. Denn während der Analytiker bloß den Blick zu wenden braucht, um den liegenden Patienten zu beobachten, ist dies umgekehrt nicht ohne Verrenkungen möglich, wenn man davon absieht, dass Analytiker anderer Schulen mit ihrem Sessel – sichtbar für den Patienten – gelegentlich neben der Couch sitzen. Damit sind jedoch die ursprünglichen Begründungen von Freud aufgehoben, dass er hinter seinem Patienten sitze, weil er nicht über Stunden angestarrt werden wolle, mit dem Ziel, dass seine Mienen dem Patienten keinen „Stoff zu Deutungen geben oder ihn in seinen Mitteilungen beeinflussen“ … Zweitens diene das Liegen auf der Couch dazu, „die Übertragung zu isolieren“ und „die unmerkliche Vermengung der Übertragung mit den Einfällen des Patienten zu verhüten“, da die Unterdrückung motorischer Handlungen das Reflexionsvermögen steigere (Freud 1913c). Erst in jüngster Zeit haben z. B. Leikert (2019), Lemma (2014), Scharff (2021) und eine Reihe anderer psychoanalytischer Autoren die verschiedenen Facetten körperlicher Phänomene oder gar den Körper selbst mehr und mehr ins Zentrum ihrer Behandlungstechnik gestellt, nachdem der Körper in der Psychoanalyse eher etwas Störendes an sich hatte. Alle Autoren eint die Erkenntnis, dass die psychische Aktivität der körperlichen folgt (und nicht umgekehrt), und dass diese somatopsychische Basisorganisation den Zusammenhalt des Subjekts wie eine schützende Haut ermöglicht, die einerseits die Selbst- und Objektanteile zusammenhält und gleichzeitig von der Außenwelt trennt. Aus Sicht der neueren Erkenntnisse des Mentalisierungsmodells dominiert das Körper-Psyche-Funktionskontinuum postnatal mindestens bis zum 9. Lebensmonat und spielt lebenslang als Körpermodus eine bedeutsame Rolle, wenn bezüglich der Affektregulation im prämentalistischen Modus auf ihn zurückgegriffen werden muss (Tab. 2). Denn erst mit der psychischen Besetzung der Haut, der Extremitäten oder des Körpers als Grenze bilden sich Repräsentanzen des Körperselbst, die über Träume, Körperfantasien oder Fantasien im Körper über die Sprache erschlossen werden können (Schultz-Venrath 2022). Ähnlich der Entwicklung des Sprechens ist es bis dahin entwicklungskörperlich und entwicklungspsychologisch ein weiter Weg, der allerdings infolge von Pandemien, Klimakatastrophen und Kriegserfahrungen für Mentalisierungsstörungen sehr anfällig ist. Das Mentalisieren intero-, proprio- und exterozeptiver Empfindungen ist elementar, um präreflexive Prozesse für die Selbstreflexion verfügbar zu machen. Dies bedeutet, dass Online-Psychotherapeutinnen wesentlich aktiver als in Präsenzsitzungen Gefühlszustände und Emotionen, die sie auf dem Bildschirm zu ersehen und darüber zu „erfühlen“ meinen, ansprechen sollten.

Tab. 2 Beispiele für den Körpermodus als Versuch der Selbstvergewisserung bei instabilen Selbst- und Objektrepräsentanzen

Einflüsse der Pandemie und Online-Therapie(n) auf körperliche und mentale Funktionen

Nocun und Lamberty (24,25,a, b) haben sich eingehend mit den zahlreichen Verschwörungsmythen beschäftigt, die schon vor der Pandemie und erst recht während der Pandemie eine sozialpolitisch bedeutsame Rolle spielten. Ein Großteil dieser Verschwörungserzählungen enthält fantasierte Angriffe auf den eigenen oder kollektiven (Volks‑)Körper, die mit katastrophisierendem Denken einhergehen, was Impfgegner, Alternativmediziner und manche Anthroposophen eint. Campbell et al. (2021) konnten empirisch belegen, dass sowohl epistemisches Misstrauen als auch Leichtgläubigkeit mit negativen Kindheitserfahrungen wie Missbrauch, Misshandlung und/oder Vernachlässigung sowie mit einer niedrigeren Fähigkeit des Mentalisierens, verstärkten psychischen Symptomen und unsicheren Bindungsstilen assoziiert war.

Die fehlende Sichtbarkeit der SARS-CoV-2-Pandemie bei gleichzeitig steigenden Infektionszahlen führte u. a. zu einem Kontrollverlust- und Bedrohungsgefühl, das zu Beginn durch Hamsterkäufe von Toilettenpapier zu kompensieren versucht wurde. In einer Metaanalyse von Labad et al. (2021) zeigte sich ein Zusammenhang zwischen dem Persönlichkeitsmerkmal Gewissenhaftigkeit sowie dem Kauf und der Anhäufung von Toilettenpapier, einschließlich eines zusätzlichen signifikanten indirekten Effekts der emotional wahrgenommenen Bedrohung durch die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19). Ältere Menschen horteten mehr Toilettenpapier als Jüngere, Amerikaner mehr als Europäer. Soziale kognitive Verzerrungen, die im Mentalisierungsmodell als Mentalisierungsdefizit bezeichnet werden, sowie ein Mitläufereffekt begünstigten das Horten von Toilettenpapier. Das Phänomen war nicht auf Deutschland beschränkt. So wurde das Horten von Toilettenpapier auch in mehreren „asiatischen Regionen, wie z. B. Japan, Taiwan und Singapur“, beobachtet.

Das Bedrohungsgefühl der Bevölkerung durch die Pandemie hat sein Pendant im Verlust der Kontrolle des Settings, wenn Psychotherapeutinnen online therapieren. Psychotherapeutinnen wählen die Dekoration im Praxisraum, sind online aber plötzlich damit konfrontiert, dass sie in die privaten Räumlichkeiten ihrer Patientinnen – so wie diese den Hintergrund ihrer Therapeutinnen – sehen können. Insofern werden Grenzen verändert, verletzt und neu gesetzt, was therapeutisch eine gewisse Elastizität und Flexibilität, aber auch Neugier erfordert. Die technische Kompetenz, seinen eigenen Hintergrund unscharf stellen zu können, musste erst von jedem Therapeuten erarbeitet werden. Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland hätten die meisten Psychotherapeutinnen vor der Pandemie niemals gedacht, eines Tages mit Onlinetherapien in Berührung zu kommen. Für Gruppenpsychotherapeutinnen gestaltete sich die Situation noch etwas komplizierter, denn die Idee, Online-Gruppenpsychotherapien durchzuführen, wurde beinahe als blasphemisch abgetan (Weinberg und Rolnik 2020). Die meisten Gruppenpsychotherapeutinnen führten als Argument an, dass es online unmöglich sei, die gleiche Präsenz, die gleiche Kohäsion und Dynamik wie offline zu entwickeln.

Gruppenpsychotherapeutinnen arrangieren die Stühle im Kreis (in einer Gruppe idealerweise mit den gleichen Stühlen) und sehen online 9 bis 10 Rechtecke, durch die nicht gewährleistet ist, wer wen anguckt oder wer wen ansprechen möchte. (Auf i-Pads und Smartphones sind sogar nicht alle Gruppenteilnehmer sichtbar.) Der Blickkontakt ist auf den Bildschirm gerichtet und nicht auf die Gruppe. Die „körperlose“ Umgebung in Online-Gruppenpsychotherapien äußert sich u. a. darin, dass der Blick der Therapeutinnen nicht mehr von einem Gruppenmitglied zum anderen wandern kann, wodurch das Gesehenwerden jedes Einzelnen und der Gruppe signalisiert wird. Der Geruch fehlt, die Pheromone, die die Teilnehmer dabei beeinflussen, sich geborgen und sicher zu fühlen. Andererseits wird ein Teil des Körpers online deutlicher: das jeweilige Gesicht. Wegen der Nahaufnahme können Gesichtsausdrücke online viel besser identifiziert werden als im Praxisraum, sodass Gruppenmitglieder aktiver nach den Emotionen hinter den Gesichtsausdrücken fragen. Noch überhaupt nicht untersucht ist die Frage, ob das Sich-Selbst-Sehen im Online-Format auch eine passager hemmende Wirkung auf das Mentalisieren hat.

Insofern ist ein Gruppenpsychotherapeut maximal gefordert, seine Kompetenz bezüglich der „dynamischen Administration“ ins Spiel zu bringen, indem er eine haltende Umgebung sowie einen „sicheren Raum“ vorab oder zu Beginn der Sitzung mit den Worten herstellt: „Bitte verbinden Sie sich mit mir/uns aus einem ruhigen Raum, in dem Ihre Privatsphäre geschützt ist.“ Für Patienten aus schwächeren sozialen Schichten war es manchmal das Auto oder die Toilette, die einen sicheren Ort versprachen. Insofern wird in Online-Psychotherapien die Verantwortung für die „dynamische Administration“ vom Therapeuten auf den/die Patienten übertragen.

Gruppenpsychotherapie(n) in Präsenz und Hybrid-Online

In Hybrid-Online-Gruppenpsychotherapien, in denen ein Patient per Video auf einem Laptop-Bildschirm online zugeschaltet ist, während die anderen in Präsenz im Kreis sitzen, wird besonders deutlich, wie sich die Gruppendynamik und die Wahrnehmung untereinander durch die Technik verändern. Ein Online-Hybrid-Patient, der seine Gruppenmitglieder wesentlich verkleinert auf seinem Bildschirm sieht, war wegen einer Trennung vorübergehend in eine andere Stadt gezogen, wollte aber unbedingt weiterhin an der Gruppenpsychotherapie teilnehmen. Obwohl er von der Gruppe freudig und wohlwollend aufgenommen worden war, fühlte er sich ausgeschlossen. Er nahm nämlich wahr, dass die Gruppenmitglieder auf den Laptop-Bildschirm wie auf einen Fernseher starrten, ihren Blick eher auf den Bildschirm als auf die Gruppenmitglieder richteten, wodurch sein „fremdes Selbst“, das mit einer sozialen Phobie und ausgeprägten Schamdynamik einherging, aktiviert wurde. Relativ rasch wurde von den übrigen Teilnehmerinnen beklagt, dass der Augenkontakt fehle und nicht auf Augenhöhe kommuniziert werden könne. Dies schien jedoch im weiteren Verlauf den Als-ob-Modus zu begünstigen, in dem jetzt plötzliche Themen aufkamen, die sich um Geldanlagen in Ferienhäuser oder zukünftige Urlaubsziele drehten. Trotzdem dankte der online zugeschaltete Patient der Gruppe für die Möglichkeit der Teilnahme aus der Ferne, da diese Form der Gruppenpsychotherapie besser für ihn gewesen sei, als wenn sie nicht stattgefunden hätte. Andererseits scheinen gerade Patientinnen mit „Körperstörungen“ der verschiedensten Art (wie z. B. Patienten mit Körperdysmorphophobien oder Autismus-Spektrum-Störungen) sogar von Online-Gruppenpsychotherapien zu profitieren, „weil der Körper nicht direkt anwesend“ und das Aussehen schlichtweg nicht wichtig“ ist (persönliche Mitteilung einer Patientin). Präsenz-Gruppenpsychotherapien werden von solchen Patientinnen als viel invasiver angesehen, was ihre Abwehr „hochfahren“ lässt. Solche Erfahrungen führen bei Patientinnen zu der Erkenntnis, im virtuellen Leben ein anderer Mensch zu sein als im realen – einerseits nackter, aber zugleich auch verborgener.

Fazit für die Praxis

  • Die veränderte Körperwahrnehmung in Online-Einzel- und -Gruppenpsychotherapien erweist sich für viele Psychotherapeuten und Patienten zunächst als ein Mentalisierungshemmnis. Patienten mit sozialen Phobien, Körperdysmorphophobien und Autismus-Spektrum-Störungen scheinen dagegen eher von Online-Psychotherapien zu profitieren.

  • Der virtuelle Einzeltherapie- und Gruppentherapieraum benötigt seitens des Therapeuten technische Kompetenz und eine „dynamische Administration“, Patienten u. a. darüber aufzuklären, wie ein sicherer Raum online zu Hause hergestellt werden kann. Im Störungsfall sollte der Therapeut diesen durch eine „breakout group“ oder ein Stummschalten aktiv selbst herstellen können.

  • Der Einfluss des Onlinesettings auf Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene ist noch nicht hinreichend erforscht.

  • Im Unterschied zu Offline-Psychotherapien wird häufig ein aktiveres Interventionsverhalten der Psychotherapeutinnen nötig sein, um eine sichere therapeutische Allianz oder Kohärenz in Gruppenpsychotherapien zu ermöglichen.