In allen in der heutigen Zeit lebenden Gesellschaften haben Frauen eine höhere durchschnittliche Lebenserwartung als Männer. Frauen verbringen deswegen aber nicht mehr Lebensjahre in guter Gesundheit. Dieses bereits länger bekannte „gender health paradox“ kann anhand aktueller Gesundheitsdaten und Ergebnisse aus aufwendigen längsschnittlichen Studien belegt und erklärt werden. Hieraus ergeben sich auch Implikationen für den Umgang mit dem Thema Geschlecht in der Psychotherapie.

Hintergrund

Unterscheiden sich Frauen und Männer? Gibt es innerhalb der Gruppe der Frauen und innerhalb der Gruppe der Männer mehr Unterschiede als zwischen Frauen und Männern? Sind die Gemeinsamkeiten zwischen Frauen und Männern größer als die Unterschiede?

Auch wenn es kontraintuitiv erscheint, lautet die Antwort auf alle drei Fragen „Ja“. Doch obwohl die Gemeinsamkeiten zwischen Männern und Frauen tatsächlich viel größer sind, erregen die Unterschiede mehr Interesse. Dabei sind die Effektstärken der Mittelwertunterschiede zwischen Männern und Frauen fast immer klein und damit die praktische Bedeutsamkeit gering. In Tab. 1 wurde neben einer reinen Auflistung typischer traditioneller geschlechtsspezifischer Persönlichkeitseigenschaften und Merkmale der Versuch unternommen, diese hinsichtlich ihrer eher lebensverlängernden (fett ausgezeichnet) oder lebensverkürzenden (kursiv ausgezeichnet) Wirkung einzuordnen. Diese Einordnung ist natürlich, ebenso wie die geschlechtsspezifische Zuordnung selbst, sehr plakativ und lässt sich zwar in vielen Fällen durch Quellen belegen (Tab. 1, rechte Spalte), aber häufig auch infrage stellen. Die tradierten Zuschreibungen verweisen damit bereits auf die Bedeutung sozialer Rollen und der Identität für die Definition von Geschlecht (englisch: „gender“) gegenüber der biologischen bzw. genetischen Festlegung (englisch: „sex“). Auf jedes einzelne Begriffspaar einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher sollen im Folgenden nur beispielhaft einige Eigenschaftspaare skizziert werden.

Tab. 1 Traditionelle Zuschreibungen der männlichen und weiblichen Geschlechterrolle

Neutrale Begriffspaare hinsichtlich der Wirkung auf die Lebensdauer sind die Beschreibungen sexueller Präferenzen bzw. Fantasien als „sadistisch vs. masochistisch“ (SM) und „dominant vs. unterwürfig“. Brown et al. (2020) konnten die geschlechtsspezifische Zuordnung von SM in einem systematischen Review bestätigen. In einer Studie äußerten 28 % der Frauen und nur 19 % der Männer den Wunsch nach masochistischen sexuellen Praktiken. Sadistische Rollenspiele konnten sich 10 % der Männer, aber nur 5 % der Frauen vorstellen. Insgesamt wurden aber nur von weniger als 5 % der in den Studien befragten Männern und Frauen solche Rollenspiele auch tatsächlich schon einmal praktiziert. Während SM mit dem realen Zufügen oder Erdulden von Schmerzen und Erniedrigung oder Bloßstellung zu tun hat, bewegt sich das Begriffspaar „dominant vs. unterwürfig“ meist mehr im Bereich des pornografischen Konsums oder der sexuellen Fantasie. Jozifkova (2018) ermittelte in einer Online-Befragung mit 673 Teilnehmenden in Tschechien eine deutliche Präferenz in Richtung des Geschlechterstereotyps. Eigenes dominantes Verhalten und Unterwerfung des Partners oder der Partnerin fanden 29 % der Männer und 3 % der Frauen, eigenes submissives Verhalten und Dominanz des Partners oder der Partnerin fanden 6 % der Männer und 31 % der Frauen sexuell erregend.

Einige der Begriffspaare stehen direkt mit körperlichen und psychischen Erkrankungen in Verbindung, die bei Männern und Frauen unterschiedlich ausgeprägt bzw. unterschiedlich häufig sind. Hierzu zählen „narzisstisch/rücksichtslos vs. empathisch“ und „süchtig vs. nüchtern“. Die Kombination aus Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie wird auch als dunkle Triade bezeichnet (Malesza und Kaczmarek 2021). Männer erreichen meist bei allen drei Eigenschaften sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdeinschätzung im Durchschnitt höhere Werte als Frauen. Dies zeigte sich z. B. in einer deutschen Online-Studie mit 3649 Teilnehmenden (Malesza und Kaczmarek 2021). Eine direkte Auswirkung auf die Lebenserwartung geht mit einer stark ausgeprägten dunklen Triade nicht notwendigerweise einher. So weisen die Zusammenhänge mit Gesundheit in verschiedene Richtungen. Während hohe Werte bei Machiavellismus und Psychopathie mit mehr Krankheiten assoziiert sind (darunter Diabetes, Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Angststörungen, Adipositas), ging Narzissmus mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit einher, an diesen Erkrankungen zu leiden (Malesza und Kaczmarek 2021). In Bezug auf das Begriffspaar „süchtig vs. nüchtern“ liegt der Konsum von Tabak, Alkohol und anderen Drogen bei Männer deutlich höher als bei Frauen. Dies zeigen sowohl die Selbstberichte in der Studie von Malesza und Kaczmarek (2021) mit Korrelationen von r = 0,19 (Tabak), r = 0,22 (Alkohol), r = 0,38 (Drogen) als auch die Daten der repräsentativen Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland, 1. Welle, (DEGS1) und der WHO (s. Abschn. „Risikoverhalten“).

Das Begriffspaar „schwer vs. leicht“ ist insofern ein Spezialfall, weil es als körperliches Merkmal bei Männern und Frauen in beiden Ausprägungen lebensverkürzend wirken kann. Im Fall von „schwer“ führt Adipositas zu einer verkürzten Lebenserwartung. Nach einer groß angelegten Studie mit Daten von mehr als 10 Mio. Personen aus 4 Kontinenten (Amerika, Australien, Europa und Asien) steigt das Mortalitätsrisiko bei Männern ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 25 kg/m2 mit jeder Zunahme um die Zahl 5 im BMI um 50 %, bei Frauen um 30 % (The Global BMI Mortality Collaboration 2016). Dies gilt auch in der umgekehrten Richtung, d. h. mit zunehmendem Untergewicht ab einem BMI von 22 kg/m2. Da Frauen sehr viel häufiger von Magersucht (Anorexia nervosa) betroffen sind als Männer (1,1 vs. 0,3 %; DEGS1; Jacobi et al. 2014), wurde ihnen das Attribut „leicht“ in Tab. 1 zugeordnet. Frauen mit Magersucht haben gegenüber gesunden Frauen ein 5fach erhöhtes Sterberisiko (Fichter und Quadflieg 2016). Die Übersterblichkeit von Frauen gegenüber Männern ist jedoch eher die Ausnahme. Abgesehen von Magersucht trifft dies hauptsächlich auf Brustkrebs zu. Hieran starben im Jahr 2017 in Deutschland 18.396 Frauen und 192 Männer (Radtke 2021).

Männer und Frauen leben im Durchschnitt unterschiedlich lang

Die unterschiedliche Häufigkeit der lebensverlängernden und lebensverkürzenden Merkmale bei Männern und Frauen in Tab. 1 illustriert einen epidemiologischen Befund, den die Evolutionspsychologen Kruger und Nesse (2006, S. 92) bereits vor über 15 Jahren so formulierten: „Being male is now the single largest demographic risk factor for early mortality in developed countries.“ Der Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung (bzw. dem durchschnittlichen Sterbealter) zwischen Männern und Frauen von mehreren Jahren gilt für alle heute lebenden Gesellschaften. Er bewegt sich entsprechend Tab. 2 zwischen 2 und 10 Jahren und beträgt für Deutschland 5 Jahre. Interessanterweise sind die in Tab. 1 gelisteten Persönlichkeitsunterschiede zwischen Männern und Frauen in Gesellschaften, in denen beide Geschlechter durch verfassungsmäßig garantierte Rechte formal gleichgestellt sind, sogar am größten. Dies wurde zunächst in einer Studie von Costa et al. 2001 publiziert sowie 2018 von Giolla und Kajonius unter Einsatz des Fragebogens International Personality Item Pool Representation of the NEO PI‑R (IPIP-NEO; 120 Items) in einer Online-Befragung mit über 130.000 Teilnehmenden repliziert.

Tab. 2 Durchschnittliche Lebenserwartung von Männern und Frauen in verschiedenen Ländern und Regionen (Statista Dossier 2021)

Gründe für die relative Kurzlebigkeit der Männer könnten in der Genetik oder der Sozialisation zu suchen sein. Um beide Aspekte trennen zu können, wurden quasi-experimentelle Längsschnittstudien durchgeführt, die als „Klosterstudien“ und „Lebensstilstudien“ bekannt sind.

Warum leben Männer kürzer?

Die sog. Klosterstudien bestehen aus drei demografisch-epidemiologischen Forschungsprojekten und sind eine deutsch-österreichische Koproduktion (nähere Informationen unter https://cloisterstudy.eu/COMMS/). Das Kloster wird hier als Lebensraum (Setting) betrachtet, in dem Männer und Frauen annähernd gleiche Lebensbedingungen haben. Untersucht wurde die Entwicklung der Lebenserwartung für beide Geschlechter ab dem 25. Lebensjahr. Die Auswertung der Sterbetafeln von 9569 Ordensfrauen und 7022 Ordensmännern zeigt für das Jahr 2000 eine im Vergleich zu Frauen der Normalbevölkerung um etwa ein Jahr höhere Lebenserwartung der Nonnen. Mönche lebten im Vergleich zu Männern der Normalbevölkerung ca. 4 Jahre länger. Der geschlechtsbezogene Unterschied in der Lebenserwartung betrug im Kloster-Setting nur noch ca. 2 Jahre. Dadurch konnte belegt werden, dass der Klosterkontext zwar bereits grundsätzlich lebensverlängernd wirkt, aber von den weitestgehend egalitären sozialen Bedingungen im Kloster hauptsächlich die männlichen Mitglieder profitierten. Dies gilt als Beleg für die deutliche Dominanz sozialisationsbedingter Ursachen der Frühsterblichkeit von Männern gegenüber biologischen bzw. genetischen Ursachen (Luy 2021). Zusammenfassend wurden mittlerweile in unterschiedlichen Forschungssträngen die im Folgenden behandelten vier Ursachenkomplexe ermittelt.

Biologische bzw. genetische Ausstattung

Männer haben, im Gegensatz zu Frauen, statt 2 vollständigen X‑Chromosomen mit jeweils 1098 Genen (Ross et al. 2005) nur ein X‑Chromosom und ein sehr viel kleineres Y‑Chromosom mit nur 20 Genen (Zrzavý et al. 2009). Dieses Defizit gilt als Ursache für die höhere Sterblichkeit männlicher Feten und Säuglinge, die höhere Anfälligkeit für X‑chromosomal vererbte Erkrankungen und die durchschnittlich gegenüber Frauen etwas schwächeren Immunreaktionen des männlichen Körpers. Zudem wird das männliche Sexualhormon Testosteron mit höherer Risikobereitschaft bzw. Aggressivität und einer höheren Anfälligkeit für kardiovaskuläre Erkrankungen in Verbindung gebracht (zusammenfassend: Hossin 2021). Die Übersterblichkeit von Männern beträgt bei der häufigsten Todesursache weltweit, der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (Mortalität: Herzinfarkt: 40–60 %, Hirnschlag: 10–20 %), und Kontrolle aller übrigen Faktoren gegenüber Frauen 13 % (Parvar et al. 2021). Das etwas weniger reaktive Immunsystem von Männern zeigt sich aktuell auch in der höheren Sterberate von Männern nach einer Infektion mit dem „severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“ (SARS-CoV-2); bis Anfang Januar 2022 starben in Deutschland 60.047 Männer und 52.693 Frauen durch die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19; Bergmann et al. 2021; Radtke 2022).

Risikoverhalten

Männer arbeiten häufiger in Berufen mit höherem Unfallrisiko (z. B. im Hoch- und im Tiefbau ca. 98 % oder in der Rohstoffgewinnung ca. 88 %), während Frauen mehr psychisch belastende Arbeiten ausführen (z. B. in der Erziehung ca. 84 % oder in Gesundheitsberufen ca. 80 %; Rudnicka 2022). Nach den Repräsentativdaten der DEGS1 weisen 13,1 % der Frauen und 18,5 % der Männer im Alter zwischen 18 und 79 Jahren einen tendenziell riskanten Alkoholkonsum auf (Lange et al. 2016). So wird der besonders hohe Alkoholkonsum russischer Männer als Hauptgrund für den Spitzenplatz von Russland bei der geschlechtsbezogenen Diskrepanz der Lebenserwartung gesehen (Tab. 2). Dies lässt sich zudem daran ablesen, dass von der russischen Regierung eingeleitete Maßnahmen zur Reduktion des Alkoholkonsums zu einer unmittelbaren Steigerung der Lebenserwartung führten (WHO 2019). Alkoholmissbrauch verursacht Todesfälle jedoch nicht nur durch körperliche Schäden wie Förderung von Tumoren, Leberzirrhose oder Alkoholdemenz, sondern auch durch eine Erhöhung der Aggressivität und Risikobereitschaft unter Alkoholeinfluss. So waren 2020 in Deutschland 11.135 Männer, aber nur 1651 Frauen alkoholisiert an Unfällen mit Personenschaden beteiligt (Kords 2021). Männer sind auch häufiger Opfer von Gewaltverbrechen als Frauen. Im Jahr 2017 waren in Deutschland 158.594 und 68.120 Frauen Opfer von Gewaltkriminalität, bei tödlichen oder potenziell tödlichen Delikten waren die Opfer in 1973 Fällen Männer und in 915 Fällen Frauen (Bundeskriminalamt 2018).

Bildung und Sozialstatus

Etwas zugespitzt trifft die Aussage zu: Männer haben dieselben gesundheitlichen Risikofaktoren wie Unterschichtangehörige. Über die Gesamtbevölkerung betrachtet, ohne Stratifizierung nach Geschlecht, bringt in Europa niedrige Bildung ein 2fach erhöhtes Mortalitätsrisiko mit sich (Mackenbach et al. 2008). Das im vorhergehenden Abschnitt berichtete Risiko- und Suchtverhalten in Bezug auf Tabak‑, Alkohol- und Drogenkonsum ist bei niedrigem sozialen Status durchgehend höher als bei hohem Sozialstatus. In Deutschland beträgt die Differenz in der Lebenserwartung zwischen der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe bei Frauen 4,4 Jahre und bei Männern 8,6 Jahre (Lampert et al. 2019). Etwa 38 % der Männer mit niedrigem Sozialstatus schätzen ihren eigenen Gesundheitszustand mittelmäßig bis sehr schlecht ein (bei Frauen 41 %). Bei Männern mit hohem Sozialstatus sind dies nur etwa 16 % (bei Frauen 17 %). In Deutschland lebt ein Mann mit niedrigem sozialen Status im Durchschnitt 16 Jahre kürzer als eine Frau mit hohem sozialen Status (RKI 2015). Diese Zahl zeigt, dass die Faktoren für ein längeres oder kürzeres Leben nicht nur einzeln auftreten, sondern auch kumulativ wirken.

Gesundheitsverhalten

Frauen reden mit anderen (auch medizinischem Personal) eher über Symptome, nehmen diese besser und früher wahr und geben Schwächen offener zu. Männer nehmen hingegen seltener professionelle Hilfe in Anspruch. Hier kollidieren direkt die männlichen Geschlechterstereotypen mit den erwarteten Eigenschaften der sog. Krankenrolle („sick role“), die vom Soziologen Parsons in den 1950er-Jahren identifiziert und später an die Entwicklungen moderner Gesundheitsversorgung angepasst wurde (Faller 2019). Demnach gilt: „[1.] … being in a state of illness is not the sick person’s own fault … [2.] … exemption from ordinary daily obligations and expectations, for example, staying at home in bed instead of going to … office. [3.] … expectation, …, of seeking help from some kind of institutionalized health service agency“ (Parsons 1975, S. 262). In Bezug auf die Entbindung von beruflichen Verpflichtungen, der Bettruhe und der Hilfesuche zeigen jedoch zusammenfassende Daten eines Literatur-Reviews zum sog. Präsentismus (trotz Krankheit zur Arbeit gehen) eine Trendumkehr: Während in älteren Studien Männer generell mehr Präsentismus zeigten, trifft dies in neueren Studien nur noch für die Arbeiterschaft zu und nicht mehr für Personen in leitenden Positionen und mit Festanstellung in Vollzeit. Als Erklärung vermuten die Autoren den zunehmenden Druck auf Frauen, sich in Positionen, die früher fast ausschließlich Männern vorbehalten waren, mehr beweisen zu müssen (Steinke und Badura 2011). Im Bereich der Prävention und Vorsorge für die eigene Gesundheit sind Männer durchgehend weniger aktiv als Frauen. So nahmen 2018 44 % der Männer und 50 % der Frauen in Deutschland (gemittelt über alle Altersgruppen) den von den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) angebotenen Check-up wahr. Bei der Krebsvorsorge ist der Unterschied noch sehr viel deutlicher: Hier rechneten die GKV 2020 6,7 Mio. Fälle bei den Männern ab, aber mehr als 5‑mal so viele (35,1 Mio.) bei den Frauen (www.gbe-bund.de).

Nachdem hiermit einige empirisch gesicherte Fakten als Begründung der Kurzlebigkeit der Männer vorliegen, stellt sich die Frage, ob mit der höheren Lebenserwartung von Frauen mehr Leiden und eine höhere Krankheitslast einhergehen. Diese beiden Begriffe werden hier im Sinne der englischen Begriffe „sick“ (sich krank fühlen, an einer Krankheit leiden) und „ill“ (krank sein, auf Basis einer zugeschriebenen Diagnose) verwendet, da der Begriff „kränker“ im Deutschen nicht eindeutig ist.

Leiden Frauen mehr als Männer und, wenn ja, warum?

In einer groß angelegten europäischen Studie mit Daten von ca. 130.000 Erwachsenen aus 25 EU-Staaten, die in der international renommierten Fachzeitschrift The Lancet publiziert wurde, fasst die Forschungsgruppe unter der Überschrift „Ungleichheit in gesunden Lebensjahren“ zusammen: Frauen in Deutschland haben nach dem 65. Lebensjahr noch eine Lebenserwartung von 20 Jahren und verbringen davon 5 Jahre in guter Gesundheit; Männer haben zwar ab 65 Jahren eine um 3 Jahre kürzere Lebenserwartung, verbringen aber in diesem Zeitraum von 17 Jahren mit 5,5 Jahren sowohl absolut, aber v. a. relativ zur verbleibenden Lebenszeit mehr Jahre in guter Gesundheit als Frauen (Jagger et al. 2008).

Krankheitslast von Frauen gegenüber Männern

Eine höhere Morbidität von Frauen gilt sowohl für viele psychische Erkrankungen als auch für chronische Erkrankungen wie z. B. Osteoporose, rheumatoide Arthritis und Herzinsuffizienz sowie Multimorbidität im hohen Alter. So zeigen die Ergebnisse der DEGS1-MH (MH steht für „mental health“) eine insgesamt höhere Betroffenheit der Frauen bei psychischen Erkrankungen mit einer 12-Monats-Prävalenz von 33 % gegenüber 22 % bei Männern (mindestens eine Diagnose ohne Nikotinabhängigkeit). Mit Blick auf die konkrete Krankheitslast verzeichneten die Krankenhäuser in Deutschland 2019 bei den Frauen 10.280.051 und bei den Männern 9.478.367 Fälle (Gesundheitsberichterstattung [GBE] des Bundes 2022). Deutlich drastischer ist die Differenz jedoch bei der Pflegebedürftigkeit. Hier sind zwei Drittel Frauen. Auch die durch die Pflege nahestehender Personen erzeugte psychische Belastung betrifft überwiegend Frauen (Saß et al. 2021).

Die insgesamt höhere Krankheitslast von Frauen bei gleichzeitig höherer Lebenserwartung wird als Gender health paradox bezeichnet. Die Tatsache einer höheren durchschnittlichen Krankheitslast von Frauen ist jedoch nicht automatisch mit größerem Leiden gleichzusetzen. Eine detaillierte Betrachtung der spezifischen Krankheitslast von Frauen macht dies jedoch plausibel.

Spezifisches Krankheitsspektrum mit hohem Leidenspotenzial

Zum Krankheitsspektrum mit einer erhöhten Morbidität von Frauen gehören auch Autoimmunerkrankungen, wie multiple Sklerose (2019: 30.084 Frauen, 15.138 Männer), Arthrose (2019: 252.868 Frauen, 171.435 Männer) und nichtinfektiöse Darmerkrankungen (2019: 53.144 Frauen, 41.658 Männer; GBE 2022). Diese Krankheiten sind zwar heute besser behandelbar als früher, gehen aber v. a. aufgrund der meist chronisch-progredienten Verläufe immer noch mit vielen Einschränkungen und Leiden einher. Warum Frauen hier häufiger erkranken, wird auf deren gegenüber Männern reaktiveres Immunsystem zurückgeführt. Ein eigentlich biologischer Vorteil wirkt sich demzufolge negativ aus. Dies zeigt sich auch aktuell in der Coronapandemie. Eine Studie mit knapp 20.000 gegen COVID-19 geimpften Personen aus den USA zeigt bei Frauen eine gegenüber Männern eine um 65 % größere Häufigkeit von Impfreaktionen (Beatty et al. 2021). Es liegt nahe, dies auch als einen Grund anzusehen, warum weltweit 14,5 % der Frauen über 50 Jahre, aber nur 12,8 % der Männer die Impfung ablehnen (Bergmann et al. 2021).

Die höhere Rate an affektiven psychischen Störungen von Frauen (2019: 174.110 Frauen, 114.124 Männer mit F3X-ICD-10-Diagnosen) schlägt sich in häufigeren Suizidversuchen nieder (Wolfersdorf und Plöderl 2016). Die Zahl der vollendeten Suizide ist jedoch bei Männern mit 6842 Selbsttötungen im Jahr 2019 in Deutschland mehr als 3‑mal so hoch wie bei Frauen (Anzahl der Suizide = 2199). Der Anteil der Männer an der Suizidrate in Deutschland ist auch nicht rückläufig, sondern im Gegenteil seit 1980 von 63,9 % auf nun 75,7 % angestiegen (Schellhase 2022), obwohl sich die Gesamtzahl der Suizide in Deutschland von 1980 bis heute von über 18.000 auf ca. 9000 halbiert hat (während der Coronapandemie ist die Gesamtzahl der Suizide zwar von 9041 im Jahr 2019 auf 9206 im Jahr 2020 gestiegen, ist damit aber immer noch niedriger als in allen Jahren davor; Destatis 2022a). Bei den 15- bis 29-jährigen Männern ist weltweit der Suizid die zweithäufigste, in Deutschland die häufigste Todesursache (Banaszczuk 2019). Das Phänomen der höheren Rate an Suizidversuchen bei Frauen und gleichzeitig erhöhter Rate vollendeter Suizide bei Männern wird ebenfalls als Gender paradox oder direkt als „Suizidparadox“ (Banaszczuk 2019) bezeichnet. Eine Erklärung für die hohe Rate an Suizidversuchen bei Frauen wird in verschiedenen Ursachen gesucht. Zum einen haben Frauen v. a. im mittleren Lebensalter im Vergleich zu Männern oft weniger anspruchsvolle und weniger erfüllende berufliche Tätigkeiten. Frauen sind nach wie vor wesentlich stärker in die Kindererziehung involviert und erleben daher häufiger einen sog. Karriereknick als Männer (bei erwerbstätigen Eltern, deren jüngstes Kind unter 3 Jahren alt war, nahmen 2019 42,2 % der Frauen und nur 2,6 % der Männer die Elternzeit in Anspruch; Destatis 2022b).

Umbrüche im Leben, wie der Auszug von Kindern („empty nest“) sowie Verlust an körperlicher Attraktivität und Leistungsfähigkeit, die mit psychosomatischen Beschwerden einhergehen können, werden bei Männern eher mit Ernährungs- und Bewegungsempfehlungen behandelt als bei Frauen, bei denen insbesondere die Menopause immer noch häufig pathologisiert und medikalisiert wird. Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE 2017) spricht sich z. B. auf ihrer Webseite in einer Pressemitteilung vom 24.08.2017 für die Hormontherapie bei Frauen mit Wechseljahresbeschwerden aus, obwohl eine große Studie in der Fachzeitschrift JAMA im selben Jahr zeigt, dass das Risiko, infolge der Therapie harninkontinent zu werden, um ein Vielfaches höher ist (8,8 %iges Schadensrisiko) als der mögliche präventive Nutzen z. B. zur Verhinderung von Osteoporose (0,4 %ige Nutzenwahrscheinlichkeit; Daten aus S3-Leitlinie Peri- und Postmenopause AWMF 2020, S. 152). Die generell stärkere Medikalisierung bei Frauen zeigt sich auch in der repräsentativen DEGS1. Hier gaben gut 85 % der Frauen und nur knapp 64 % der Männer an, in den letzten 7 Tagen Arzneimittel eingenommen zu haben (RKI 2012). Dabei ist es für Frauen schwieriger, Medikamente evidenzbasiert in einer therapeutisch wirksamen Dosis verordnet zu bekommen, da die Medikamenten- und Therapieforschung nach wie vor männerzentriert ist (Regitz-Zagrosek 2014).

Ergebnisse der Lebensstilstudien

Der wichtigste Punkt aber, warum Frauen mehr leiden und länger leben als Männer, liegt nach den Erkenntnissen der sog. Lebensstilstudien (Luy und Di Guilio 2006) in deren größerer Umsicht, z. B. im Sinne des Achtens auf die eigene Gesundheit, und einer Orientierung auf eine gute Zukunft anstelle einer möglichst genussvollen Gegenwart. In diesen Studien wurden im Verlauf von insgesamt 14 Jahren ab 1984 bei 1353 westdeutschen 60- bis 69-Jährigen verschiedene Gesundheitsparameter erfasst, wie Ernährung, Bewegung, Tabak- und Alkoholkonsum, Jobsituation, Lebensumstände und Bildung. Auf Basis von Interviews wurden anschließend zunächst unabhängig vom Geschlecht unterschiedliche Lebensstile mithilfe von multiplen Korrespondenzanalysen (MCA) ermittelt. Es ergaben sich die 4 statistisch trennbaren Lebensstile „Genießer“ („active bon vivants“, 45 %), „Umsichtige“ („interventionists“, 34 %), „Unachtsame“ („nihilists“, 14 %) und „ehemalige Workaholics“ („past workaholics“, 6 %), wobei die Prozentzahl jeweils den Gesamtanteil von Männern und Frauen angibt, die sich diesem Lebensstil zuordnen ließen. Interessant sind die ersten beiden Lebensstile, da sich den beiden letzten nur insgesamt ein Fünftel der Personen zuordnen ließen und es hier außerdem keine signifikanten Geschlechtsunterschiede gab. In die Kategorie der „Genießer“ ließen sich 70 % aller Männer und 21 % der Frauen einordnen, bei den „Umsichtigen“ waren es 11 % Männer und 58 % Frauen. Die Berechnung des Mortalitätsrisikos nach 14 Jahren ergab eine Verdoppelung in der Gruppe der „Genießer“ gegenüber den „Umsichtigen“ („odds ratio“ [OR] = 2,05), weitestgehend unabhängig vom Geschlecht. Das bedeutet, wenn Frauen sich so verhalten wie die meisten Männer, leben sie auch kürzer, oder andersherum: wenn Männer sich so verhalten wie die Mehrzahl der Frauen, leben auch sie länger (Luy 2021).

Wie lassen sich die Erkenntnisse zur geschlechtsspezifischen Morbidität und Mortalität für die Psychotherapie nutzen?

Aus den bisherigen Ausführungen geht klar hervor, dass für das Gender health paradox nicht das biologische Geschlecht ursächlich ist, sondern die gelebte Geschlechterrolle und die Konstruktion von Geschlecht und damit auch – soziologisch betrachtet – eine gesellschaftlich zugewiesene Ungleichheitsdimension (Kuhlmann 2016). Dies verweist auf zwei Aspekte, nämlich zum einen darauf, wie sich Geschlecht auf Krankheit und Gesundheit auswirkt, und zum anderen auf den generellen Umgang mit dem Thema Geschlecht.

Jenseits der Statistik: Dimensionen und Erlebnisweisen von Geschlecht

Die in diesem Beitrag berichteten Befunde und Schlussfolgerungen beruhen auf Daten empirischer Studien, in denen das Geschlecht als binäre Kategorie mit Selbstzuordnung Mann/männlich und Frau/weiblich erfasst wurde. Hierbei wird eine weitestgehende Deckungsgleichheit von biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität suggeriert. Da, wie u. a. bei den Ausführungen zu den Ergebnissen der Kloster- und Lebensstilstudien zu sehen war, die Sozialisation einen wesentlich stärkeren Einfluss auf die geschlechtsbezogene Lebensquantität und -qualität hat als das biologische Geschlecht, wäre es eigentlich angemessener, die Variable Geschlecht über die Frage zu erfassen, welchem Geschlecht sich jemand zu wie viel Prozent zuordnet. Allerdings müsste dann vorher der Unterschied zwischen biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität erklärt werden, um überhaupt die Validität der Frage sicherzustellen, und es müssten auch die Kategorien außerhalb der binären Zuordnung als Antwortmöglichkeit gegeben sein (vertiefend zu diesem Aspekt: Döring 2013). Abgesehen von dieser wissenschaftlichen Herausforderung bei der Einbeziehung von „Geschlecht“ in die Forschung spielen die geschlechtliche Zuordnung und Identifikation im Rahmen der Psychotherapie in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle.

Präsenz von Geschlecht

Beide Seiten im therapeutischen Prozess sind, ob bewusst oder nicht, im Hinblick auf Geschlecht präsent. Im Zusammenspiel von biologischer Kategorie und Geschlechterrolle nehmen sie sich gegenseitig als Frau, Mann, Transmann, Transfrau oder nonbinäre Person wahr. Das Ergebnis dieser Wahrnehmung spiegelt sich bereits in der Anrede wider. Laut S3-Leitlinien (DGfS 2019, Langfassung, S. 16) sollten transidente Personen auf deren Bitten hin mit von ihnen gewünschten Pronomen angeredet werden. Den Behandelnden wird generell eine Selbstreflexion zu eigener Geschlechtsidentität, Geschlechterrollen, gesellschaftlichen Normen usw. empfohlen, um nicht einer projektiven Psychopathologisierung der Behandlungssuchenden Vorschub zu leisten. Wenngleich sich diese Empfehlungen in erster Linie an Behandelnde von transidenten Personen mit Transitionswunsch richten, sind sie angesichts der großen gesellschaftlichen Bedeutung des Themas „Gender“ auch gut auf den allgemeinen psychotherapeutischen Behandlungskontext übertragbar.

Geschlechtsbezogenes Handeln und Genderbewusstsein

Im Rahmen der Gesundheitsversorgung werden unter dem Begriff „Gendermedizin“ die in diesem Beitrag ausführlich vorgestellten Unterschiede in der Mortalität und Morbidität von Frauen und Männern erforscht und diskutiert. Hierbei wird seit Ende der 1990er-Jahre unter den Stichworten „Männergesundheit“ und „Frauengesundheit“ auf unterschiedliche therapeutische Anforderungen in Medikation, Diagnostik und Krankheitsverläufen fokussiert (Regitz-Zagrosek 2014). Von dieser Herangehensweise sind durchaus eine zumindest teilweise Auflösung des Gender health paradox und eine Verringerung des „gender health gap“ zu erwarten. Es ist folglich im medizinischen und im psychotherapeutischen Behandlungskontext wichtig, sich nicht nur über die Präsenz von Geschlecht im Klaren zu sein, sondern auch ein Bewusstsein für das Agieren in unterschiedlichen Geschlechterrollen zu haben. Hierfür steht der Begriff „doing gender“. Dieser mündet in einem Konzept der sog. Intersektionalität, in dem Sex und Gender nicht mehr länger nebeneinander stehen, sondern Gender übergeordnet ist und unser Handeln als sexuelle Wesen bestimmt oder, noch radikaler gedacht, sich beide Kategorien in einer strukturellen Ungleichheitsdimension auflösen. Geschlecht ist in diesem Sinne „nur“ eine weitere institutionell verankerte Ungleichheitskategorie (Kuhlmann 2016), vergleichbar mit sozialer Schicht oder unterschiedlicher Hautfarbe, die im besten Fall kulturelle Diversität fördert, sich aber auch als Sexismus manifestieren kann (Berger 2021). Dem Thema „Geschlecht“ angemessen zu begegnen, setzt eine Reflexion der Werte, Normvorstellungen und Interessen hinsichtlich der eigenen Wahrnehmung als sexuelles Wesen (Sex), geschlechterrollenbezogenen Handelns (Doing gender) und des Bewusstseins der gesellschaftlichen Präsenz und Bedeutung von Geschlecht („gender awareness“) voraus.

Fazit für die Praxis

  • Die Langlebigkeit von Frauen gegenüber Männern ist nach wie vor ein robustes Phänomen, das unter dem Begriff „Gender health paradox“ bekannt ist, und dessen Ursache hauptsächlich im sozialisierten und nicht im biologischen Geschlecht liegt.

  • Aufgrund der rasanten Entwicklung des Genderthemas ist eine ständige Reflexion eigener Einstellungen und eigenen Handelns auf der Basis von Geschlechterrollen auch dann sinnvoll, wenn es nicht unmittelbar um Transidentität und Geschlechtsinkongruenz in der Psychotherapie geht.