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In den Placebogruppen von klinischen Studien zeigen sich z. T. beeindruckende Effekte. Verbesserungen um 10 oder mehr Punkte in der Hamilton-Depressionsskala oder im Beck-Depressionsinventar sind bei Depressionsstudien nicht selten (Leuchter et al. 2014; Stahl et al. 2010), sodass die starken Placeboeffekte auch dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Wirksamkeitsnachweise für Medikamente insbesondere im Bereich der Psychopharmaka immer schwieriger werden. In der Tat zeigen sich auch über die Jahre hinweg eher ansteigende positive Effekte in den Placebogruppen, zumindest im Bereich Depression (Rief et al. 2009a). Gründe können die intensivere Betreuung von Patientinnen und Patienten, ein verbessertes Monitoring, aber auch eine kritischere Analyse von Effekten sein. Im Gegenzug finden sich auch in den Placebogruppen starke Negativeffekte (Noceboeffekte), und der Anteil der berichteten Nebenwirkungen in den Placebogruppen ist substanziell (z. B. Amanzio et al. 2009; Rief et al. 2009b). Großes Aufsehen erreichte entsprechend eine jüngst veröffentlichte Metaanalyse, die zeigte, dass selbst in den Placebogruppen bei den Studien zur Impfung gegen die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) substanzielle Nebenwirkungen beschrieben werden; diese wiesen häufig ein ähnliches Muster wie die erwarteten häufigsten Nebenwirkungen der Impfstoffe auf (Haas et al. 2022). Wenn die in den Placebogruppen ablaufenden Effekte jedoch so stark sind, stellt sich die Frage, ob sie nicht auch systematisch zum Wohle von Patientinnen und Patienten eingesetzt werden können. Dazu ist es jedoch notwendig, sich auf die Analyse der beteiligten Mechanismen zu konzentrieren.

Allgemein wird der Erwartung von Patientinnen und Patienten eine sehr hohe Rolle zugesprochen, Placebo- und Noceboeffekte auszulösen (Petrie und Rief 2019). Erwartungen sind ein ausgesprochen spannendes Konstrukt, da sie nicht nur durch die psychologischen Prozesse gut charakterisierbar sind, sondern auch die neurophysiologischen Substrate gerade über die Konzepte des „prediction coding“ gut charakterisiert sind. Eine der wesentlichsten Aufgaben des Gehirns ist es, kontinuierlich Vorhersagen zu treffen, was als Nächstes geschehen wird, sodass sich der Organismus darauf vorbereitet. Dies ist offensichtlich ökonomischer und evolutionär sinnvoller, als ständig neu zu überlegen, wie man mit den aktuellen Informationen umgehen sollte. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Erwartungen nur einer von zahlreichen „Motoren“ von Placeboeffekten sind; andere psychologische Effekte können eng damit assoziiert sein, können jedoch z. T. auch als unabhängig davon betrachtet werden. So spielt es eine Rolle, ob Patienten Wahlmöglichkeiten bei Therapien haben: Bei selbstgewählten Therapien werden weniger Nebenwirkungen beschrieben. Als wertvoller wahrgenommene Interventionen sind effektiver als Interventionen, die als „billig“ empfunden werden. Eigene Vorerfahrungen (u. U. auch mit chemisch völlig unterschiedlichen Präparaten) oder beobachtete Behandlungserfahrungen von wichtigen anderen Personen prägen ebenfalls Placebo- und Noceboeffekte. Last but not least wird auch der therapeutischen Beziehung eine hohe Rolle zugesprochen: Werden Therapeutinnen und Therapeuten als warmherzig und kompetent beschrieben, haben nachfolgende Therapien eher höhere Placeboeffekte, und behandelte Patientinnen und Patienten geben weniger Nebenwirkungen an (Literatur zusammengefasst: Petrie und Rief 2019). Dass die therapeutische Beziehung auch in der Psychotherapie wesentlich zum Behandlungserfolg beiträgt, gilt als unbestritten (Bollmann et al. 2021); genauso dass auch Psychotherapie Nebenwirkungen auslösen kann (Richter 2021).

Es stellt sich die Frage, ob das Konzept des Placeboeffektes überhaupt auf Psychotherapie anwendbar ist. Einerseits wird für Psychotherapie die hohe Relevanz von „common factors“ beschrieben, und manche Autorinnen und Autoren gehen davon aus, dass solche Common factors den wesentlichsten Anteil an den Wirkmechanismen von Psychotherapie haben (Wampold und Imel 2015). Zwar wird diese Maximalposition vom Autor des vorliegenden Beitrags nicht geteilt, aber ein deutlicher Einfluss solcher Faktoren kann als unstrittig gelten. Außerdem ist für die Psychotherapieforschung wichtig zu beachten, dass Placeboeffekte in Abhängigkeit vom Störungs- und Problembild unterschiedlich stark sind, z. B. stärker bei Angsterkrankungen, aber schwächer bei Zwangsstörungen oder Psychosen (Khan et al. 2005). Dies bedeutet z. B., dass vom positiven Effekt einer Intervention bei Störungsbild x nicht automatisch auf eine ähnliche Wirksamkeit bei Störungsbild y geschlossen werden darf; ein auch in Metaanalysen zur Psychotherapie häufig vorkommender Fehler.

Trotzdem ergeben sich konzeptionelle Schwierigkeiten, wenn man das Prinzip des Placeboeffekts auf die Psychotherapie übertragen will. Bei biologischen Therapien kann der Placeboeffekt als die Rolle psychologischer Faktoren bei der Wirkung des (biologischen) Therapeutikums umschrieben werden. Eine solche Definition macht jedoch bei der Psychotherapie offensichtlich keinen Sinn. Psychologische Wirkfaktoren der Psychotherapie sind keine unspezifischen Faktoren, sondern spezifische Ingredienzen der Therapie. Diese können optimiert werden, um den Behandlungseffekt bei Patientinnen und Patienten zu maximieren und das Risiko von problematischen Nebeneffekten zu minimieren. Damit sind dies aber keine unspezifischen Faktoren, sondern genuiner Bestandteil psychologischer Interventionen. Trotzdem stellt sich die Frage: Wie kann eine Nutzung der Kenntnisse über den Placeboeffekt in der Medizin dazu beitragen, Psychotherapie in der Effektivität zu verbessern?

Wenn Patientenerwartungen einen wesentlichen Beitrag zu Behandlungserfolg, Misserfolg und Nebenwirkungen, aber auch zu Therapieabbrüchen leisten, muss es Aufgabe in der Psychotherapie sein, die Erwartungen von Patientinnen und Patienten sehr ernst zu nehmen, positive Erwartungen zumindest in einem realistischen Umfang zu steigern und negative Erwartungen zu adressieren, um sie für eine Veränderung zu flexibilisieren. Das Erwartungskonzept kann jedoch ausgeweitet werden, als ein Grundkonzept zum Verständnis psychischer Erkrankungen i. Allg. (Rief und Glombiewski 2016). Wenn Angsterkrankungen oder Depressionen primär über die spezifischen Erwartungen an sich selbst, an Umgebungsereignisse oder allgemeine Entwicklungen der Zukunft gekennzeichnet sind, definiert sich das Ziel von Psychotherapie neu als Maßnahme zur Erwartungsverletzung. Dies hat nebenbei durchaus Parallelen zu dem früh bei psychodynamischen Verfahren formulierten Prinzip der „korrigierenden Erfahrung“ (Alexander und French 1946) oder der Bearbeitung von Beziehungserfahrungen mit dem Ziel, dass frühere Beziehungserfahrungen weniger in gegenwärtige und zukünftige Beziehungen generalisiert werden, und ist auch Hauptziel bei den Verhaltensexperimenten in der kognitiven Verhaltenstherapie (Herzog und Jelinek 2021). Aber auch viele andere, störungs- und problemspezifische Erwartungen sind Gegenstand erfolgreicher Psychotherapien. (Was erwarte ich von meinem Partner? Welche Effekte erwarte ich durch Umweltbelastungen? Welches Infektionsrisiko erwarte ich für mich persönlich bei Coronapandemien?)

Wenn die Verletzung von bestehenden Erwartungen aber Hauptziel von Psychotherapien ist, wird eine Beschäftigung mit dem Thema, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Veränderung von Erwartungen vorliegen, für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zum wichtigen Ausbildungsgegenstand. Erwartungsveränderungen sind nicht nur Folge von korrigierenden neuen Erfahrungen oder, wie in Gesundheitskampagnen oftmals fälschlicherweise gedacht, von neuen Informationen, sondern der Effekt von Erwartungsveränderungen hängt von zahlreichen Einflussbedingungen ab. Wie vertrauenswürdig ist der Sender der neuen Informationen? Wie präzise wurden die eigenen Erwartungen im Vorfeld formuliert, sodass Erwartungsverletzungen überhaupt wahrgenommen werden können? Mit welchen „Kosten“ würde eine Veränderung eigener Erwartungen einhergehen (Würde dies z. B. von meinem sozialen Netzwerk akzeptiert werden? Wie peinlich wäre es für mich selbst, mich jahrelang an falschen Erwartungen orientiert zu haben?), und welcher Subtyp der Erwartungen wird denn gerade zum Gegenstand von Korrekturen? Zwischenzeitlich ist die Unterscheidung zwischen impliziten und expliziten Erwartungen nicht nur durch die Psychologie untermauert, sondern auch durch die Tatsache, dass unterschiedliche neurophysiologische Prozesse involviert sind (LeDoux und Daw 2018). Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass bei vielen psychotherapeutischen Interventionen sowohl die Interventionen selbst als auch die gemessenen Effekte sehr stark auf der Ebene expliziter Erwartungen stattfinden; wenn aber die bisherigen impliziten Erwartungen fortbestehen, muss befürchtet werden, dass weiterhin ein erhöhtes Rückfallrisiko vorliegt.

Ob bei erwartungsverletzenden Erfahrungen eine Erwartungsveränderung auftritt oder die eigenen Erwartungen trotz gegenteiliger Erfahrungen persistieren, hängt von der Dynamik zwischen Art der Erwartungsverletzung einerseits und kognitiven Immunisierungsstrategien andererseits ab. Mit kognitiven Immunisierungsstrategien beschreiben wir kognitive Prozesse nach der Erwartungsverletzung, die dazu dienen, die alte Erwartung trotz Erwartungsverletzung zu erhalten oder zu restaurieren (Kube et al. 2020; Rief und Joormann 2019). Typische Bewertungsprozesse können sein: „Es war die Ausnahme von der Regel“; „wenn das für andere zutrifft, muss dies noch lange nicht für mich zutreffen“; „das ist so extrem anders, als ich bisher gedacht habe, dass es nicht stimmen kann“; „der Sender der Information ist unglaubwürdig“ und anderes. Gerade bei stark chronifizierten psychischen Erkrankungen muss man davon ausgehen, dass auch starke kognitive Immunisierungsstrategien, die zur Stabilisierung der Erkrankung beigetragen haben, vorliegen. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass alle Menschen mit psychischen Erkrankungen immer wieder korrigierende Erfahrungen machen, z. B. ein freundliches Wort oder ein Lob für Menschen mit Depressionen, die davon ausgehen, dass sie solche Erfahrungen nie machen werden. Wenn eine Erkrankung länger persistiert, müssen also umso mehr Strategien entwickelt werden, um krankheitsinkongruente (positive) Erfahrungen abzuwerten. Hier ergibt sich eine Verknüpfung zu dem gerade in der Depressionsforschung häufig erhobenen Befund der „reward insensitivity“ (Weinberg et al. 2015), also dem zu schwachen Reagieren auf positive Erfahrungen. Somit ergeben sich als übergeordnete Therapieziele, einerseits überzeugende Erwartungsverletzungen zu induzieren und anderseits kognitive Immunisierungsstrategien zu hemmen.

Diese Bespiele machen deutlich, dass die Psychotherapie (und auch die Psychotherapieforschung) viel gewinnen kann, wenn sie sich ernsthaft mit den Mechanismen der Placebo- und Noceboforschung auseinandersetzt. Diese bieten den Schlüssel, Therapien (durchaus mit unterschiedlichem theoretischem Hintergrund) effektiver zu machen. Gleichzeitig gibt es bereits erste Beispiele, dass therapeutische Interventionen durch eine solche Fokussierung auch in zeitlich sehr kondensiertem Format hoch effektiv sein können (Rief et al. 2017). Die Leserinnen und Leser sind deshalb eingeladen, sich mit diesem transtheoretischen und transdiagnostischen Konzept einer erwartungsbasierten Psychotherapie zu beschäftigen. Die in dieser Ausgabe der Zeitschrift Psychotherapeut zusammengestellten Einzelbeiträge geben dazu Anregungen.

Winfried Rief, Marburg