Traditionell gilt Psychotherapie als „talking cure“, also als Behandlungsverfahren, das durch das Miteinanderreden Heilung ermöglicht. Mit welchen Erwartungen Personen der Psychotherapie begegnen, ist wichtig für die Auswahl von Behandlungsoptionen und den Verlauf von Therapien. Annahmen darüber, was Personen ohne Therapieerfahrung vom Miteinanderreden in der Psychotherapie erwarten, sind jedoch kaum erforscht. Ein besseres Verständnis von derartigen – gesellschaftlich vermittelten – Annahmen über Psychotherapie kann hilfreich sein, um mit Erwartungen von Patient:innen und deren Angehörigen zielgerichtet zu arbeiten und potenziellen Missverständnissen vorzubeugen.

Einleitung

Psychotherapie kann nicht als losgelöst vom gesellschaftlichen Kontext gesehen werden, in dem die Therapie stattfindet (Avissar 2016). Soziale und mediale Repräsentationen beeinflussen bereits, ob Psychotherapie überhaupt in Erwägung gezogen wird, und welche Hilfsangebote als effektiv oder stigmatisiert wahrgenommen werden (Kushner und Sher 1991; Michalopoulou et al. 2017; Corrigan 2004; Tzur Bitan und Abayed 2020). Eine fehlende Passung von Erwartung und Therapiegeschehen kann sich zudem negativ auf die Zufriedenheit mit der Therapie auswirken (Seligman et al. 2009). Entsprechend wird davon ausgegangen, dass eine gelungene Auseinandersetzung mit den Erwartungen von Patient:innen die therapeutische Beziehung stärken kann (Dew und Bickman 2005; Fende Guajardo und Anderson 2007).

Noch nicht ausreichend erforscht ist, inwiefern sich die subjektiven Konzepte zur Wirkweise von Psychotherapie von therapieunerfahrenen Menschen von denjenigen Annahmen unterscheiden, die einer professionellen Sichtweise entsprechen. Es wird davon ausgegangen, dass Psychotherapie über ein Zusammenspiel (Pfammatter und Tschacher 2012, 2016; Tschacher et al. 2014) allgemeiner Wirkfaktoren (Grawe 1995; Jørgensen 2004; Lambert und Ogles 2004) und schulenspezifischer Therapietechniken wirkt (Gumz et al. 2017; Pfammatter 2012, 2016). Insbesondere die mediierenden Prozesse, wie kognitive Veränderungen und die therapeutische Beziehung, erscheinen bedeutsam (Baier et al. 2020). Während es also Forschung zur Frage gibt, wie Veränderungen in der Psychotherapie zustande kommen, existieren nur wenige Untersuchungen dazu, welche Annahmen Menschen ohne Psychotherapieerfahrungen diesbezüglich haben. Tzur Bitan und Abayed (2020) beschrieben auf der Basis von Mixed-methods-Ansätzen, dass sich Erwartungen an die Wirkung von Psychotherapie auf 7 Skalen erfassen lassen: Erwartungen an den Aufbau einer positiven Beziehung, inwieweit die therapeutische Beziehung verbal thematisiert wird, inwieweit unterdrückte Inhalte exploriert werden, ob die Möglichkeit besteht, sensible Inhalte offen zu teilen, ob spezifische emotionale Probleme bearbeitet werden können, ob Resilienz gefördert wird und inwieweit man Werkzeuge für die kognitive Kontrolle erhält. Während Therapeut:innen i. Allg. stärker an die Wirksamkeit der therapeutischen Beziehung und deren verbaler Thematisierung glaubten, schienen Personen ohne Therapieerfahrung und Patient:innen zuversichtlicher, dass konkrete Hinweise und Werkzeuge in der Therapie wirken (Tzur Bitan und Abayed 2020). Die Autor:innen wiesen auf kulturelle Aspekte der Fragestellung hin: Die Erwartungen der Therapeut:innen sind im Kontext einer psychodynamisch-geprägten Therapietradition Israels zu betrachten. Entsprechende Untersuchungen in anderen Regionen stehen aus (Tzur Bitan und Abayed 2020). Ein Hinweis darauf, dass die angenommene Wirkung von Psychotherapie unter deutschen Therapeut:innen sich an ähnlichen Dimensionen orientiert, findet sich in der Studie von Pfammatter und Tschacher (2016). Eine offene Erhebung zur Sichtweise von Personen ohne Therapieerfahrung liegt bisher jedoch nicht vor.

Dem sprachlichen Austausch kommt in allen Therapieschulen und der populären Darstellung von Psychotherapie eine wichtige Rolle zu (Gumz et al. 2015; von Sydow 2007; Orchowski et al. 2006). Dennoch existiert das Vorurteil, in der Psychotherapie werde viel geredet, aber es geschehe eigentlich nichts (Löffler-Stastka et al. 2010). Um sprachliche Mediatoren der Veränderung und sprachliche Wirkfaktoren zu erfassen, wurden 23 Therapeut:innen (Verhaltenstherapie [VT], tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapie [TP], analytische Psychotherapie [AP]) und 16 Patient:innen (VT, TP, AP) dazu interviewt, welche kurativen Aspekte des Miteinanderredens sie in der Therapie erlebten (Marx et al. 2021; Wulf et al. 2021). Die Therapeut:innen und Patient:innen beschrieben ein breites Spektrum: Beispielsweise äußerten sie, dass durch das Miteinanderreden das Erleben differenziert und strukturiert wird, emotionale Unterstützung und Resonanz erlebt werden sowie Handlungsfähigkeit erzeugt wird (Marx et al. 2021; Wulf et al. 2021). Unbekannt ist jedoch, welche Erwartungen Personen ohne Therapieerfahrung konkret an das Miteinanderreden in der Psychotherapie haben, und wie sie sich therapeutische Veränderungen erklären.

Ziel der vorliegenden Studie

Ziel der Studie ist es, ein besseres Verständnis für gegenwärtige Annahmen zu therapeutischen Prozessen zu erhalten und so weitere Ansatzpunkte für Kommunikationskampagnen, die Entstigmatisierung von Psychotherapie und die therapeutische Auseinandersetzung mit Erwartungen zu erarbeiten.

Die Forschungsfrage lautet: Welche Aspekte prägen das Bild, dass Menschen ohne Therapieerfahrung von der Wirkung des Miteinanderredens in der Therapie haben?

Methoden

Studiendesign und Datenerhebung

Es handelt sich um eine querschnittliche Mixed-methods-Studie in Form einer qualitativen Kategorienbildung mit anschließender quantitativer Häufigkeitsanalyse. Die Daten wurden im Sommer 2021 anonym mithilfe der Online-Plattform SoSci Survey (Leiner 2021) erhoben. Die Studieninfos wurden auf der ersten Seite der Untersuchung digital zur Verfügung gestellt, anschließend wurde die Zustimmung zur Studienteilnahme digital eingeholt. Eine Aufwandsentschädigung gab es nicht.

Rekrutiert wurden die Teilnehmer:innen online über soziale Medien (Facebookgruppen, Instagram) sowie über private Netzwerke. In den sozialen Netzwerken war die Information nur für Personen sichtbar, die bereits Mitglied in den Facebookgruppen waren, mit Personen befreundet waren, die die Infos teilten oder ihnen folgten. Der Teilnahmeaufruf bestand aus zwei kurzen Sätzen zur Studie, dem Link zur Teilnahme und der Bitte, die Untersuchung auch an Familie, Freunde und Bekannte weiterzuleiten. In den forschungsaffinen Facebookgruppen wurde an dieser Stelle bereits explizit betont, dass Psychologiestudierende nicht an der Studie teilnehmen sollten.

Eingeschlossen wurden Personen, die mindestens 18 Jahre alt waren. Ausgeschlossen wurden Personen, die eigene Psychotherapieerfahrung, Erfahrung in psychotherapeutischer Beratung (Paar- und Familientherapie, psychologische Beratungsstellen) hatten und/oder beruflich einer psychologischen oder psychotherapeutischen Tätigkeit oder einem Psychologiestudium nachgingen.

Stichprobe

Der Einladung zur Online-Erhebung folgten 470 Personen. Zu Beginn der Online-Erhebung wurden die Ein- und Ausschlusskriterien abgefragt. Es wurden 245 Personen aufgrund ihrer therapeutischen Vorerfahrung, ihrer psychologischen beruflichen Tätigkeit oder ihres Psychologiestudiums ausgeschlossen. In die Studie eingeschlossen wurden 225 Personen (Tab. 1); die Daten dieser Personen gingen in die vorliegende Auswertung ein. Der Altersrange betrug 19 bis 91 Jahre. Das durchschnittliche Alter der Teilnehmer:innen betrug 27,53 Jahre (SD ± 9,93 Jahre).

Tab. 1 Soziodemografische Daten der Teilnehmer:innen

Instrumente und offene Fragestellung

Die Erhebung beinhaltete einen Fragebogen zu soziodemografischen Daten sowie eine Frage zur Vorerfahrung mit Psychotherapie und Beratung. Es wurde zudem die offene Frage: „Wie und auf welche Art und Weise hilft das Miteinanderreden in der Psychotherapie?“ gestellt, die schriftlich beantwortet werden sollte. Die Formulierung der offenen Frage ist angelehnt an ein von der Heigl-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt, in dem die kurativen Funktionen des Miteinanderredens in der Psychotherapie „bottom-up“ untersucht wurden. Hier wurden 16 Patient:innen (Wulf et al. 2021) und 23 Therapeut:innen (Marx et al. 2021) live dazu interviewt, welche kurativen Aspekte des Miteinanderredens sie in der Therapie erlebten. Mit der Frage sollten in der vorliegenden Studie gezielt grundlegende Annahmen über Psychotherapie erfasst werden, und nicht etwa, welche Faktoren eine Person für sich als wirksam annimmt. Die Hypothese war, dass die grundlegenden Annahmen den Diskurs stärker beeinflussen, also sich zum Beispiel darauf auswirken, ob jemand einer nahestehenden Person eine Psychotherapie empfehlen würde. Diese Unterscheidung entspricht etwa der Trennung in selbstbezogene Stigmatisierung und wahrgenommene Stigmatisierung von Psychotherapie/psychischer Gesundheit, die ebenfalls als zwei Facetten getrennt voneinander betrachtet werden (Jennings et al. 2015; Vogel et al. 2007).

Datenanalyse

Die Daten wurden mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet (Mayring 2015). Für die Analysen wurde das Programm MAXQDA Analytics Pro 2020 (Fa. VERBI GmbH, Berlin) verwendet. Die Darstellung orientiert sich an den „Standards for reporting qualitative research“ (O’Brien et al. 2014): Im ersten Schritt wurden die Codes/Kategorien von einem Primärteam (2 Studierende im Master-Studiengang Psychologie: B.J., A.N.) induktiv gebildet und zu Ober- und Subkategorien zusammengefasst. Dabei wurde berücksichtigt, dass inhaltlich unterscheidbare Teilaspekte der Antwort einer Person mit verschiedenen Codes versehen werden konnten (Mehrfachcodierung). Im zweiten Schritt wurden die Zuordnungen der Aussagen zu den Kategorien sowie die Benennung der Kategorien vom Sekundärteam (F.K., S.W.: Doktoranden und Psychotherapeut:innen in Ausbildung) überprüft und leicht überarbeitet. Im dritten Schritt führte A.G. (Professorin für Psychosomatik und Psychotherapie) ein weiteres Auditing durch. Diskrepanzen wurden markiert, hieran anschließend fand eine Konsensfindung im Gesamtteam statt. Im letzten Schritt wurden Häufigkeitsanalysen durchgeführt. Mögliche Unterschiede hinsichtlich der inhaltlichen Qualität in Abhängigkeit vom Geschlecht und Bildungshintergrund wurden ebenfalls mithilfe von MAXQDA Analytics Pro 2020 (Fa. VERBI GmbH, Berlin; VERBI 2020) geprüft. Dazu wurden Mixed-methods- und „Code-relations“-Funktionen in der Software verwendet.

Die Zuverlässigkeit und intersubjektive Nachvollziehbarkeit wurden zudem durch die Diskussion der Studienergebnisse in der Forschungsgruppe geprüft. Vorannahmen und Erwartungen der Projektmitarbeiter waren: B.J. erwartete, dass aus der Perspektive der Personen ohne Psychotherapieerfahrung das Miteinanderreden zu einer erheblichen emotionalen Entlastung der Patient:innen beiträgt. A.N. und A.G. gingen davon aus, dass die Teilnehmer:innen v. a. als relevant erachten, in der Therapie ohne Bewertung alles erzählen zu können, sich öffnen zu dürfen und dort professionelle Tipps und Ratschläge zu bekommen, die ihnen weiterhelfen. F.K. erwartete, dass die Befragten sich vom therapeutischen Miteinanderreden v. a. neue Sichtweisen erhofften, und eine stärkere Klarheit darüber, welcher Umgang mit empfundenen Leid richtig sei. S.W. erwartete, dass Personen ohne Therapieerfahrung sich durch das Miteinanderreden emotionale und handlungsbezogene Unterstützung erhoffen und sie ihr eigenes Erleben klarer verstehen.

Ergebnisse

Die Textlänge betrug je Antwort in Wörtern M = 14,57 (SD ± 11,79) und in Zeichen, einschließlich Leerzeichen, M = 97,44 (SD ± 77,66) bei einem Range von einem Wort (3 Zeichen, einschließlich Leerzeichen) bis 61 Wörtern (430 Zeichen, einschließlich Leerzeichen).

Die inhaltliche Qualität der Antworten wurde vom Primärteam in MAXQDA codiert. Eine hohe Qualität der Antworten wurde codiert, wenn tiefgehend und differenziert auf die gestellte Frage geantwortet wurde. Von einer niedrigen Qualität wurde ausgegangen, wenn oberflächlich bzw. pauschalisierend geantwortet wurde. Insgesamt zeigte sich, dass Antworten mit niedriger inhaltlicher Qualität kurz waren. Der umgekehrte Schluss konnte jedoch nicht gezogen werden, da auch viele kurze Antworten der Teilnehmenden eine hohe inhaltliche Qualität aufwiesen.

Um das Antwortverhalten näher zu charakterisieren, wurde zudem die grafische Darstellung der Code relations (Kodierungszusammenhänge) mit MAXQDA vom Forschungsteam überprüft. Hier gab es wenige Überschneidungen der inhaltlichen Qualität (Codierung der inhaltlichen Differenziertheit) der Antworten mit dem Bildungsstatus. Bezüglich des Geschlechts zeigte sich in den visuellen Code-relations-Analysen, dass die Antworten der männlichen Personen häufig kurz ausfielen und die inhaltliche Qualität der Antworten häufig als gering codiert wurde. Hier ist jedoch die unterdurchschnittliche Repräsentation der 18 männlichen Teilnehmer im Vergleich zu weiblichen Teilnehmerinnen (n = 207) zu berücksichtigen.

Aus der induktiven Analyse der offenen Frage „Wie und auf welche Art und Weise hilft das Miteinanderreden in der Psychotherapie?“ heraus wurden innerhalb des Codesystems 4 Oberkategorien entwickelt, die jeweils verschiedene Subkategorien einschließen (Tab. 2).

Tab. 2 Kategoriensystem zu den Erwartungen der Studienteilnehmer:innen (n = 225) an das Miteinanderreden in der Psychotherapie mit Häufigkeit der Nennung (absolut und in Prozent der Teilnehmenden) sowie illustrativen Aussagen

Die Teilnehmer:innen beschrieben, dass sie das Erleben der therapeutischen Beziehung als wirksam erwarteten (129 Codierungen in der gesamten Stichprobe; entspricht der zweitgrößten Anzahl der Nennungen aller Oberkategorien), etwa dass die Etablierung eines geschützten Raums und das Vertrauen dabei eine große Rolle spielen (26 Codierungen). Ebenso häufig wurde erwartet, Verständnis und Anerkennung im Gespräch zu erfahren (26 Codierungen) und, dass durch die persönliche verbale Interaktion Alleinsein und Isolation gelindert werden (26 Codierungen). Dass der/die Behandler:in eine neutrale Person sei und der objektive Blick helfe, wurde mehrfach angenommen (16 Codierungen). In einem ähnlichen Kontext standen die Annahmen, dass Behandler:innen weder verurteilen noch bewerten (13 Codierungen) und Patient:innen durch das Miteinanderreden Aufmerksamkeit und Interesse erfahren (9 Codierungen). Zudem ließen sich erlebte Unterstützung (8 Codierungen) und das Erleben gemeinsamer Arbeit in der Therapie (5 Codierungen) als formulierte Erwartungen ausmachen.

In der zweiten Oberkategorie wurde thematisiert, wie das Miteinanderreden aus Sicht von Lai:innen Erleichterung verschafft (45 Codierungen; entspricht der dritthäufigsten Oberkategorie). Dies wurde inhaltlich oft so konzeptualisiert, dass erwartet wurde, Ballast loszuwerden und in sich hineingefressene Dinge/Probleme von der Seele reden können.

Die dritte Oberkategorie beinhaltete Subkategorien, die den Erkenntnisgewinn beleuchten, den das Miteinanderreden erbringen kann. Es war die Oberkategorie mit den meisten Subkategorien und Codierungen (131). Vor allem der erwartete Perspektivwechsel spielte eine große Rolle (29 Codierungen). Auch wurde das Aussprechen von Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen als besonders hilfreich empfunden, um Klarheit zu gewinnen und die Dinge auf den Tisch zu bringen (26 Codierungen). In eine ähnliche Richtung wies die Subkategorie Aufarbeitung/Verarbeitung (19 Codierungen), wobei hier mehrfach die Auseinandersetzung mit (verdrängten) Erfahrungen (in der Kindheit) genannt wurde. Sich beim Miteinanderreden den Dingen und sich selbst bewusst zu werden, wurde erwartet (1 Codierungen 7), ebenso wie (Selbst‑)Reflexion (14 Codierungen) und die Erforschung von Ursachen (12 Codierungen).

Wie aus Sicht von Personen ohne Therapieerfahrung der sprachliche Austausch von Patient:in und Therapeut:in Veränderungen ermöglichen kann, wurde in der vierten Oberkategorie zusammengefasst. Dies war die Kategorie mit den wenigsten Codierungen (28). Zum einen ging es darum, Lösungsansätze zu erarbeiten bzw. Probleme konkret zu lösen (17 Codierungen). Zum anderen wurde vermutet, dass im Dialog aufgezeigt wird, wie man mit Problemen bzw. seiner Erkrankung umgehen kann (11 Codierungen).

Diskussion

Interpretation der Ergebnisse

Ziel der vorliegenden qualitativen Untersuchung war es, ein besseres Verständnis über die subjektiven Erwartungen zu den kurativen Funktionen des Miteinanderredens aus Sicht von Personen ohne Psychotherapieerfahrung zu erhalten. Die inhaltsanalytische Auswertung zeigt, dass die Teilnehmer:innen vielfältige und differenzierte Perspektiven darauf haben, wie das Miteinanderreden im psychotherapeutischen Kontext wirken kann. Die Teilnehmer:innen erwarteten die Wirksamkeit des Miteinanderredens in der Psychotherapie in Bezug auf die vier Hauptkategorien 1) Therapeutische Beziehung erleben, 2) Erleichterung verschaffen, 3) Erkenntnis gewinnen sowie 4) Veränderungen ermöglichen. Von diesen Hauptkategorien wurden Aspekte des Erkenntnisgewinns am häufigsten benannt. Hier werden folgende Erwartungen in Bezug auf das Miteinanderreden besonders oft erwähnt: Einen Perspektivwechsel erhalten und Klarheit schaffen. Am zweithäufigsten fanden Aspekte der Hauptkategorie Therapeutische Beziehung erleben Erwähnung. Vertrauen sowie Verständnis und Anerkennung durch den/die Therapeut:in werden als besonders bedeutend erachtet. Am dritthäufigsten wurde die Hauptkategorie Erleichterung verschaffen beschrieben. Hier sprachen die Befragten davon, Ballast loszuwerden und in sich hineingefressene Dinge und Probleme von der Seele reden zu können. Von allen Subkategorien der gesamten Untersuchung wurde diese mit Abstand am häufigsten genannt. Sie wurde sogar öfter erwähnt als Facetten der Hauptkategorie Veränderungsmöglichkeiten.

Insgesamt scheinen Personen ohne Psychotherapieerfahrung sehr differenzierte Erwartungen an das Miteinanderreden in der Psychotherapie zu haben. Psychotherapie scheint in den Augen der Befragten nicht wirkungsloses Gerede zu sein, sondern durch das therapeutische Gespräch wird aus Sicht der Befragten eine Vielzahl allgemeiner Wirkfaktoren umgesetzt bzw. werden mediierende Veränderungsprozesse initiiert. Viele in der Forschungsliteratur erwähnte allgemeine Wirkfaktoren der Psychotherapie und Mediatoren der Veränderung sind in der vorliegenden Untersuchung auch in den Konzepten der Personen ohne Psychotherapieerfahrung vorhanden: Von den allgemeinen Wirkfaktoren fanden sich beispielsweise die therapeutische Beziehung (Pfammatter und Tschacher 2016; Omer und London 1989; Grencavage und Norcross 1990), Einsicht (Tschacher et al. 2014), Handlungsfaktoren (Lambert und Ogles 2004), Perspektivenübernahme im Sinne von Mentalisierungsfähigkeit (Pfammater und Tschacher 2016) und Problembewältigung (Grawe 1995). Anders als in gängigen Systematiken der allgemeinen Wirkfaktoren (z. B. Grawe 1995) werden in der vorliegenden Untersuchung sowie in den in vorangegangenen Untersuchungen zu den Wirkfaktoren des Miteinanderredens aus Patienten- bzw. Therapeutenperspektive (Marx et al. 2021; Wulf et al. 2021) motivationale Klärung und Intentionsänderung nicht erwähnt. Dies könnte darauf hinweisen, dass diese kurative Funktion nicht direkt mit dem Miteinanderreden assoziiert wird.

Insbesondere die Hauptkategorien Erkenntnisgewinn und Erleben in der therapeutischen Beziehung erscheinen differenziert und bedeutsam. Dies steht im Einklang mit einer Studie mit britischen Jugendlichen, die vor einer Psychoanalyse besonders hohe Erwartungen an die affektive Beziehung zur Therapeutin/zum Therapeuten, an das Zuhören, das Angenommenwerden sowie an das ausführliche Gespräch und die Möglichkeit des Nachdenkens äußerten (Bury et al. 2007). Auch die Personen ohne Psychotherapieerfahrung im psychoanalytisch-geprägten Israel (Tzur Bitan und Abayed 2020) hatten ähnliche Erwartungen an den Aufbau einer positiven Beziehung, die Exploration unterdrückter Inhalte und die Möglichkeit, sensible Inhalte offen zu teilen. Allerdings wurden Werkzeuge kognitiver Kontrolle und das Fördern von Resilienz anders als bei Tzur Bitan und Abayed (2020) von den Personen in der vorliegenden Untersuchung kaum thematisiert. Da sich das Studiendesign und die genaue Fragestellung (Fokus auf das Miteinanderreden/Therapie allgemein) in diesen beiden Untersuchungen jedoch unterschieden, sollte ein Vergleich dieser Befunde zurückhaltend interpretiert werden. Die erwähnten Unterschiede hängen möglicherweise weniger mit den kulturellen Besonderheiten zusammen, sondern eher damit, dass Resilienz und kognitive Kontrolle eher langfristigere Ziele auf Ebene des Makro-Outcome sind, die nicht unmittelbar mit dem Miteinanderreden in Zusammenhang gebracht werden.

Die subjektiven Konzepte über die kurativen Funktionen des Miteinanderredens in der vorliegenden Studie waren denen der Therapeut:innen in der Studie von Marx et al. (2021) und denen der Patient:innen (Wulf et al. 2021) sehr ähnlich. Dies deckt sich mit den Ergebnissen von Tzur Bitan und Abayed (2020), die berichteten, dass sich die subjektiven Konzepte über die Wirkung von Psychotherapie zwischen Patient:innen und Personen ohne Therapieerfahrung statistisch nicht signifikant unterscheiden. Interessant ist, dass Erwartungen an das Miteinanderreden in der Psychotherapie spezifisch zu sein scheinen. So erwähnten jeweils mindestens 40 % der Befragten keine Beziehungsaspekte oder keine Aspekte des Erkenntnisgewinns. Dies könnte ein Hinweis auf die Bedeutsamkeit der individuellen Erwartungen an die Psychotherapie sein. Anknüpfend wäre sowohl theoretisch als auch für die praktische therapeutische Arbeit interessant, was von wem unter welchen Bedingungen erwartet wird, und ob sich die Erwartungen an verschiedene Therapieformen (VT, TP, AP, ST) unterscheiden. Dies böte die Möglichkeit, gezielt mit verschiedenen Erwartungen umzugehen und etwaige problematische Diskrepanzen (Seligman et al. 2009) früh zu bearbeiten.

Methodische Stärken und Schwächen

Für eine qualitative Studie ist die Stichprobengröße groß und erlaubte es uns, vielfältige Perspektiven einzubeziehen. Die Befragung war kurz gehalten und somit niedrigschwellig auch für solche Teilnehmer:innen zu beantworten, die womöglich von längeren Umfragen oder ausführlicheren Interviews abgeschreckt worden wären. Gleichzeitig waren die Antworten im Vergleich zu Interviews weniger tiefgehend, und Nachfragen waren für Teilnehmende nicht möglich.

Voraussichtlich beeinflusst durch die Rekrutierungsstrategie, die versuchte, Freiwillige vorrangig über Social-Media-Kanäle zu erreichen, ist die Stichprobe keinesfalls repräsentativ. Die hier herausgearbeiteten, erwarteten Wirkfaktoren stammen vorrangig von jungen deutschen Frauen, die mehrheitlich gut ausgebildet und (noch) kinderlos sind. Ihre Antworten lassen sich somit nicht verallgemeinern. Diese Einschränkung ist typisch für vergleichbare Studien. In der im Vergleich zur vorliegenden Untersuchung ähnlich aufgebauten Studie von Tzur Bitan und Lazar (2019) waren etwa 71 % der Teilnehmenden weiblich und mit einem mittleren Alter von 25,56 vergleichsweise jung. Auch für die – im Hinblick auf die Fallzahlen – vergleichbare Studie von Tzur Bitan und Abayed (2020) gelten Einschränkungen im Hinblick auf die Generalisierbarkeit: So waren dort unter den Therapieunerfahrenen ebenfalls 90 % der Teilnehmenden weiblich, das mittlere Alter betrug 22,5 Jahre, und der Bildungsgrad war hoch. Angesichts der oft problematischen Rolle von Maskulinitätsnormen (Chatmon 2020) auf die Wahrnehmung und Stigmatisierung des Themas sollte weitere Forschung stärker auf die Repräsentanz von Männern achten.

Auch können weitere Verzerrungseffekte nicht ausgeschlossen werden, da etwa Personen mit geringerer sprachlicher Kompetenz möglicherweise weniger für die Umfrage akquiriert werden konnten.

Ausblick

Insgesamt leistet die Erhebung den ersten Schritt in Richtung eines besseren Verständnisses der Erwartungen an Psychotherapie und insbesondere an das Miteinanderreden. Da v. a. jungen Frauen rekrutiert wurden, stehen weitere Untersuchungen in repräsentativeren Stichproben aus. Angesichts unterschiedlicher sozialer Kontexte und der zu erwartenden unterschiedlich geführten Diskurse um Gesundheit und Psyche erscheint eine zielgruppenspezifische Auseinandersetzung für ein Verständnis gesellschaftlicher Konstruktionen von Psychotherapie hilfreich. Auch die Frage, ob sich Annahmen über die Entstehung psychischer Störungen darauf auswirken, welche Erwartungen an Psychotherapie Personen ohne Therapieerfahrung entwickeln, scheint beispielsweise im Hinblick auf die Formulierung von Anti-Stigma-Kampagnen und Psychoedukation ein möglicher nächster Schritt. Interessant erscheint zudem mitzuerfassen, woher die Personen ihr Wissen über Psychotherapie haben, und ob sie selbst glauben, dass ihnen das Miteinanderreden in der Psychotherapie helfen könnte, bzw. ob sie selbst psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen würden. Für die zukünftige Untersuchung subjektiver Konzepte von Personen ohne Therapieerfahrungen könnte zudem bereichernd sein, welche Erwartungen dazu beitragen, unterschiedliche Formen von Psychotherapie als hilfreiche Option anzusehen oder selbst wahrzunehmen, und ob sich die Erwartungen an die Funktionen des Miteinanderredens bei verschiedenen Therapieschulen unterscheiden.

Perspektivisch sollten die Erwartungen an das Miteinanderreden in der Psychotherapie zudem mit den erlebten kurativen Funktionen des Miteinanderredens aus Sicht erfahrener Patient:innen verglichen werden. Dies erscheint insbesondere im Hinblick auf die optimale Aufklärung über die Wirkweise von Psychotherapie vielversprechend.

Ferner können künftig Erwartungsunterschiede zwischen Personen mit und ohne Therapieerfahrung sowie Psychotherapeut:innen untersucht werden. Hier erscheint plausibel, dass etwa der Faktor „Veränderung ermöglichen“ durch entsprechendes Fachwissen bei Therapeut:innen stärker ausdifferenziert beschrieben wird und sich auch bezüglich der Erwartungen Schulenunterschiede finden, vergleichbar zu den retrospektiv von Marx et al. (2021) berichteten Ergebnissen. Auch die zukünftigen Erwartungen von Personen mit Therapieerfahrung scheinen untersuchenswert zu sein, wobei mutmaßlich von vergangenen Erlebnissen auf zukünftige Erwartungen geschlossen wird und womöglich aus Sicht der Autor:innen die Rolle von kritischen Momenten interessiert (Gumz 2012).

Fazit für die Praxis

  • Personen ohne Psychotherapieerfahrung haben differenzierte und individuell spezifische Annahmen darüber, wie das Miteinanderreden in der Psychotherapie heilen kann.

  • Ein Austausch darüber, mit welchen Erwartungen an das therapeutische Miteinanderreden Patient:innen in eine Psychotherapie kommen, könnte zu Therapiebeginn hilfreich sein.

  • Die von den Teilnehmenden meistgenannte Subkategorie ist, dass man sich in der Psychotherapie den Ballast von der Seele redet. Erwartungen an das Miteinanderreden in der Psychotherapie betrafen in der vorliegenden Stichprobe darüber hinaus häufiger den Erkenntnisgewinn und das Erleben in der therapeutischen Beziehung, weniger das Ermöglichen von Veränderungen.