Etwa 15 % der Bevölkerung leiden an psychischen Erkrankungen. Für die Betroffenen hält das deutsche Gesundheitssystem eine Vielzahl von Behandlungsangeboten in unterschiedlicher Intensität bereit – vom vollstationären Behandlungsangebot über teilstationäre Versorgungsmöglichkeiten bis hin zu ambulanten Therapieangeboten. Bislang wird bei der Behandlung jedoch wenig berücksichtigt, dass die gesamte Familie von einer psychischen Erkrankung betroffen sein kann. Das im Innovationsfond des Gemeinsamen Bundesausschusses (GB-A) geförderte „Children of mentally ill parents-network“ (CHIMPS-NET) verfolgt das Ziel, die bisherige Regelversorgung um familienorientierte neue Versorgungsformen zu erweitern.

Hintergrund

Psychiatrische Regelversorgung von Erwachsenen

Im stationären Behandlungskontext einer psychiatrischen Klinik für Erwachsene bleibt oft unberücksichtigt, dass die Patienten und Patientinnen auch Eltern sein können und minderjährige Kinder zu versorgen haben. Nicht regelhaft wird dies in der Familienanamnese erfragt. Im Verlauf der Behandlung in einer erwachsenenpsychiatrischen Klinik finden nur vereinzelt Familiengespräche mit den Kindern statt. Häufig sind Stationen auch nicht darauf eingestellt, dass Kinder ihre Eltern besuchen. Es werden kaum Familienzimmer mit Spielzeugen oder familienfreundliche Wartebereiche bereitgehalten, in denen sich Kinder willkommen fühlen können. In der Mehrzahl der Fälle herrscht in erwachsenenpsychiatrischen Kliniken keine Willkommenskultur für minderjährige Kinder ihrer Patienten und Patientinnen. Mit Angehörigen sind im erwachsenenpsychiatrischen Kontext die Partner/-innen von Patientinnen und Patienten gemeint.

Kinder und Jugendliche psychisch erkrankter Eltern

Epidemiologische Daten zu Entwicklungsrisiken und psychischen Auffälligkeiten

Epidemiologische Schätzungen ergeben (z. B. Grube und Dorn 2007), dass etwa 10–30 % der psychisch erkrankten Mütter minderjährige Kinder haben. In Deutschland haben etwa 3 Mio. Kinder unter 18 Jahren einen psychisch erkrankten Elternteil, mit dem sie in der Mehrzahl der Fälle zusammenleben. Empirische Untersuchungen belegen das Entwicklungsrisiko dieser Kinder und Jugendlichen: Circa 60 % der betroffenen Kinder entwickeln im Laufe ihres Lebens eine eigene psychische Erkrankung (Mattejat und Remschmidt 2008). Kinder psychisch erkrankter Eltern weisen 3–7‑fach höhere Auffälligkeitsraten gegenüber Kindern gesunder Eltern auf (Wiegand-Grefe et al. 2009) und haben häufig eine schlechtere Lebensqualität (Radicke et al. 2021). Auch die Familienfunktionalität in Familien mit psychisch erkrankten Eltern kann beeinträchtigt sein; es lassen sich enge Zusammenhänge zum Befinden der Kinder psychisch erkrankter Eltern feststellen (Wiegand-Grefe et al. 2019; Sell et al. 2021). In der für Deutschland repräsentativen epidemiologischen BELLA-StudieFootnote 1 ergeben sich für 21,9 % aller Kinder und Jugendlichen Hinweise auf psychische Auffälligkeiten (Ravens-Sieberer et al. 2007). Steffen et al. (2018) fanden in einer Analyse von Krankenkassendaten, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die auf Jahresebene mindestens eine Diagnose einer psychischen Störung erhielten, von 23 % im Jahr 2009 auf 28 % im Jahr 2017 gestiegen war.

Die elterliche psychische Erkrankung kann sich in vielfältiger Weise auf die Entwicklung der Kinder auswirken. So kann die Eltern-Kind-Interaktion durch die Erkrankung beeinträchtigt sein. Etliche Studien zeigen Zusammenhänge insbesondere der frühen Eltern-Kind-Interaktionen mit der Entwicklung der Kinder auf. Beispielweise wurde in Untersuchungen der frühen Mutter-Kind-Interaktion deutlich, dass sich depressive Mütter ihren Säuglingen gegenüber passiver und weniger sensitiv verhalten als gesunde Mütter (Tronick und Reck 2009; Hatzinikolaou und Murray 2010). Externalisierende Verhaltensstörungen von Kindern und Jugendlichen sind wiederum mit einem Mangel an positivem Elternverhalten, wie Feinfühligkeit, emotionaler Zuwendung und Akzeptanz, verknüpft (Mäntymaa et al. 2004; Petermann und Petermann 2006; Smeekens et al. 2007). Kinder, deren Eltern eine Persönlichkeitsstörung aufweisen, zeigen die höchsten Auffälligkeitsraten und den ungünstigsten Entwicklungsverlauf (Wiegand-Grefe et al. 2011b). Über Interaktionsstörungen und eingeschränkte elterliche Erziehungskompetenzen hinaus sind die Kinder und Jugendlichen oft zusätzlichen psychosozialen Belastungsfaktoren ausgesetzt. So können chronische psychische Erkrankungen mit wiederholten Trennungserlebnissen oder schwierigen sozialen Lebenssituationen einhergehen. Bedeutsam ist auch das erhöhte Erkrankungsrisiko durch eine genetische Disposition, wie es z. B. bei Schizophrenie oder bipolaren Störungen von besonderer Relevanz ist.

Versorgungssituation in Deutschland

Trotz des erhöhten Erkrankungsrisikos und der vielfältigen Entwicklungsrisiken gibt es bislang noch keine regelhafte Versorgung für Kinder und Jugendliche psychisch erkrankter Eltern in Deutschland. Die meisten Angebote haben befristeten Projektcharakter und sind bislang zumeist nicht regelhaft etabliert oder richten sich nur an eine spezielle Zielgruppe, wie z. B. die Kinder depressiver Patienten und Patientinnen. Wieder andere Angebote richten sich explizit nicht an Kinder und setzen für die Teilnahme an Angehörigengruppen ein Mindestalter von 14 oder 16 Jahren voraus. Die Arbeit in einer der in Deutschland an einigen Stellen eingeführten Eltern-Kind-Tageskliniken schildert beispielhaft die Arbeit von Müller et al. (2015). Für psychisch schwer kranke bzw. schwerstkranke Mütter, die einer vollstationären Behandlung mit spezifischer Fachkompetenz bedürfen, offenbarte eine Erhebung von Jordan et al. (2012) eine gravierende Unterversorgung um den Faktor 10. Dabei machen die Praxis und die Forschung deutlich, dass Kinder die Erkrankung ihrer Eltern wahrnehmen und für sich nach einem Erklärungsmodell suchen, was bisweilen sehr angstauslösend sein kann, wie die folgenden Fallbeispiele bestätigen (ausführlicher: Wiegand-Grefe und Taczkowski 2021).

Fallbeispiel 1.

Der 11-jährige Tom erlebt seit Jahren die Krankheitsschübe seiner Mutter mit, die an einer paranoiden Schizophrenie leidet. Während des letzten Krankheitsschubs las der Junge heimlich die Packungsbeilagen der Psychopharmaka seiner Mutter, um sich Informationen zu beschaffen. Nach Lektüre der Nebenwirkungen vermutete er, dass seine Mutter an einer Herzerkrankung leide.

Fallbeispiel 2.

Die 5‑jährige Emma kennt seit Langem die Antriebslosigkeit ihres depressiven Vaters. Auf dem Weg zum ersten gemeinsamen Gespräch nach dem CHIMPS-Ansatz fragt sie ihre Mutter, ob der Papa Krebs habe, wie die Oma. Die habe auch immer im Bett gelegen und sei dann gestorben.

Paradigmenwechsel – von der individuumszentrierten hin zur familienorientierten Versorgung

Deutschland hat ein sehr weit entwickeltes, hoch spezialisiertes Versorgungssystem – aber: Es krankt daran, dass im Fokus aller Versorgungssysteme, sei es im Medizinsystem in der Behandlung von Erwachsenen oder von Kindern (geregelt im SGB V) oder in den Unterstützungsmaßnahmen im Jugendhilfesystem (geregelt im SGB VIII) individuumszentriert gearbeitet wird. Das sehr gute, jedoch individuumszentrierte Gesundheitssystem umfasst kaum familienorientierte Versorgung, z. B. Angebote zu Prävention und Therapie von Angehörigen chronisch und/oder schwer erkrankter Menschen. Im Auftrag des jeweiligen Behandlers oder Unterstützers, der den Fokus und den Schwerpunkt der jeweiligen Interventionen definiert, steht immer der einzelne Mensch, sei es ein Erwachsender oder ein Kind (ausführlich: Wiegand-Grefe und Taczkowski 2021). Wenn ein Mensch schwer erkrankt ist, betrifft dies aber die ganze Familie. Alle Angehörigen, einschließlich der Kinder und Geschwister, sind durch eine schwere Erkrankung im Familiensystem hoch belastet, sei es eine schwere psychische oder eine körperliche Erkrankung eines Familienmitglieds. Und zwar gilt dies unabhängig davon, ob der erkrankte Mensch ein Elternteil oder ein Kind ist. Die Familie kommt mit ihren Sorgen und Fragen im Versorgungssystem aber kaum vor. Im Versorgungskontext werden die psychisch erkrankten Erwachsenen, auch die erkrankten Kinder betrachtet. Aber bislang werden die psychisch erkrankten Erwachsenen wenig in ihrer Rolle als Eltern wahrgenommen, als Mütter und Väter, die für ihre Kinder in vielerlei Hinsicht da sein müssen. Und die Kinder und Jugendlichen psychisch erkrankter Eltern werden bislang trotz erhöhtem eigenen Erkrankungsrisiko im Versorgungssystem bislang nicht ausreichend in der Regelversorgung berücksichtigt (Wiegand-Grefe und Taczkowski 2021). Familienorientierte Therapien sind im Versorgungssystem nicht vorgesehen – es gibt keine Ressourcen der Behandler, keine Abrechnungsziffern, keine familienfreundlichen Wartebereiche etc. Familientherapie ist keine Krankenkassenleistung. Allenfalls werden Angehörige gelegentlich im Versorgungssystem berücksichtigt – so können einzelne Sitzungen mit Angehörigen als Angehörigengespräche, beispielsweise Sitzungen mit den Eltern im Rahmen der Psychotherapie eines Kindes, abgerechnet werden. Aber fachlich ist zwischen Angehörigenarbeit und konsequenter Familientherapie zu unterscheiden. Die Angehörigenarbeit dient der Unterstützung der Behandlung des Einzelnen, während Familientherapie die ganze Familie im Blick hat. Die Loyalitäten und Identifizierungen der Behandler und Behandlerinnen mit ihrem Gegenüber sind jeweils sehr unterschiedlich. Diese eingeschränkte Perspektive aller Versorgungssysteme hat fatale Folgen und erhebliche, auch gesundheitsökonomische Konsequenzen. So könnte u. a. diese fehlende Familienorientierung wesentlich dazu beitragen, dass sich psychische Erkrankungen über die Generationen hinweg fortsetzen und von einer transgenerationalen Weitergabe ausgegangen werden muss (Wiegand-Grefe und Taczkowski 2021).

Es ist wünschenswert, dass sich die Familienorientierung stärker im Versorgungssystem etabliert. Einerseits könnte sich durch die Anerkennung der systemischen Therapie, die die Familie in ihrer Konzeptbildung der Systeme eher berücksichtigt, die Versorgung auch von Familien verändern und eine familienorientiertere Perspektive ins individuumszentrierte Versorgungssystem eingebracht werden. Andererseits gibt es derzeit durch den GB‑A eine Förderpolitik, die möglicherweise die Versorgungslandschaft ebenfalls beeinflussen und hoffentlich diesbezüglich verbessern wird: den Innovationsfond. Im Innovationsfond des GBA werden seit 2016 Versorgungsansätze gefördert (sog. neue Versorgungsformen), die Versorgungslücken identifizieren und für diese Lücken eine Versorgung anbieten sollen (Wiegand-Grefe und Taczkowski 2021). Dies geschieht in Form von Einzelprojekten, regionalen Modellvorhaben oder auch großen bundesweiten Verbünden, wie sie die Verbünde für Familien mit Kindern mit einer seltenen Erkrankung (CARE-FAM-NET) oder für Kinder und Jugendliche mit psychisch kranken Eltern darstellen (CHIMPS-NET).

Der Verbund CHIMPS-NET wird beispielhaft für eine familienorientierte Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychisch erkrankten Eltern in diesem Beitrag vorgestellt.

Children of mentally ill parents – network

Der im Innovationsfonds des GB‑A finanzierte Verbund CHIMPS-NET verfolgt das Ziel, neue Versorgungsformen der gesetzlichen Krankenversicherung bereitzustellen, die die bisherige Regelversorgung erweitern sollen. Ausführlichere Informationen finden sich im Studienprotokoll (Wiegand-Grefe et al. subm.). Bei erfolgreicher Evaluation der 4 neuen Versorgungsformen des CHIMPS-NET-Verbunds, CHIMPS‑T, CHIMPS-MFT und CHIMPS‑P sowie iCHIMPS, können diese in die regelhafte Versorgung überführt werden. Dabei steht CHIMPS‑T für die therapeutische Intervention (Therapie, „therapy“), CHIMPS-MFT für die „Multifamilientherapie“ („multifamily therapy“) und CHIMPS‑P für eine kurze „Prävention“ („prevention“) und iCHIMPS für die Online-Intervention mit Jugendlichen. Die Interventionen und das methodische Design der randomisierten kontrollierten Evaluationsstudien sind in Studienprotokollen beschrieben (Dülsen et al. subm.; Wiegand-Grefe et al. subm.). Das heißt, über die Fördermittel des Innovationsfonds lassen sich die bestehenden Versorgungsstrukturen (hoffentlich) erweitern.

Implementierungsperspektive

Der Verbund CHIMPS-NET hat auch die Perspektive der Implementierung im Blick. Es wird heutzutage davon ausgegangen, dass nicht nur evidenzbasierte, in klinischen randomisiert-kontrollierten Studien („randomized controlled trials“, RCT) evaluierte Interventionen für eine jeweils klar definierte Zielgruppe, hier die Kinder und Jugendlichen psychisch erkrankter Eltern, bereitstehen müssen. Auch die Prozesse der Implementierung selbst sollten im Fokus sein (Baumeister 2014; Petermann 2014). Hindernisse und Barrieren der Implementierung sollten verstanden und geebnet, Zugangswege zur Versorgung gebahnt werden. Mittlerweile hat sich auch in Deutschland die Implementierungsforschung zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt und verbreitet (Wensing und Grol 2019).

Für diese Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen psychisch erkrankter Eltern wurde in CHIMPS-NET als bundesweitem Verbund mit 20 klinischen Standorten (immer in Vernetzung zwischen Kliniken für Psychiatrie und für Kinder- und Jugendpsychiatrie und regional unter Beteiligung der Jugendhilfe) erstmals in Deutschland in dieser Größenordnung ein systematisches Implementierungsmodell entwickelt und in RCT-Implementierungsstudien geprüft.

Das Implementierungsmodell CHIMPS-NET basiert auf wegweisenden Arbeiten australischer Wissenschaftler, die als Pioniere der Implementierungsforschung für diese Zielgruppe gelten können: Darryl Maybery und Andrea Reupert (z. B. Maybery und Reupert 2009). Im Implementierungsmodell CHIMPS-NET werden die Erkenntnisse dieser australischen Arbeiten, die auch über Skandinavien (z. B. Norwegen) nach Europa gelangten (z. B. Lauritzen und Reedtz 2015) in 3 systematisch aufeinander abgestimmte Implementierungsinterventionen übersetzt und als 3 Teilprojekte (TP) im Verbund realisiert.

Implementierungsmodell CHIMPS-NET

(Abb. 1)

Abb. 1
figure 1

Implementierungsmodell CHIMPS-NET zur sektorenübergreifenden, indikationsgeleiteten und schweregradgestuften Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis 21 Jahren und ihre psychisch kranken und suchtkranken Eltern. TP Teilprojekt

Die 3 Implementierungsinterventionen werden als 3 Teilprojekte (TP 01–03) durchgeführt, und zwar: T 01: optimale Zugangswege (ein Teilprojekt unter Projektleitung von Silke Pawils, Hamburg); TP 02: Wissen und Fertigkeiten der Fachkräfte (unter Projektleitung von Svenja Taubner, Heidelberg) und TP 03: systematisches Screening (unter Projektleitung von Sibylle Maria Winter, Berlin). Eine übergeordnete Implementierungsstudie ci-Chimps evaluiert den Erfolg dieser systematischen Implementierungsinterventionen und -projekte in einem multizentrischen RCT-Design, das im Studienprotokoll beschrieben wird (Laser et al. subm.). Zwei dieser Implementierungsinterventionen aus CHIMPS-NET werden im vorliegenden Heft ausführlicher beschrieben (vgl. die Beiträge von Tauber et al. und von Winter et al.).

Diesen Implementierungsprojekten folgen im Modell die präventiven und therapeutischen Interventionen selbst (TP 04a, b). Zudem wird die CHIMPS-Intervention (unter Leitung von Harald Baumeister) als Online-Intervention für Jugendliche iCHIMPS weiterentwickelt (TP 05).

Alle 4 Interventionen werden begleitend medizinisch-biometrisch, gesundheitsökonomisch und qualitativ (TP 06–08) unter Leitung von Antonia Zapf, Jan Zeidler & Johann-Matthias Graf von der Schulenburg, Reinhold Kilian sowie Martin Heinze & Sebastian von Peter evaluiert. Eine externe klinische Qualitätssicherung (unter Leitung von Gerald Willms, aQua Institut, Göttingen, TP09) begleitet den Transfer der Interventionen unter klinischer Versorgungsperspektive und entwickelt ein Qualitätsmodell für alle Interventionen.

Neue Versorgungsformen als Teil der Gesundheitsversorgung – Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis

Der CHIMPS-NET-Verbund will in seiner Ausrichtung verschiedene Ziele erreichen. Es soll zum einen eine hohe Qualität der wissenschaftlichen Untersuchung gewährleistet werden, die sich durch eine methodisch hochwertige und umfassende Evaluation auszeichnet. So sollen beispielsweise neben den biometrischen Wirksamkeitsbelegen auch gesundheitsökonomische Evaluationen vorgelegt werden, konkret die kurz- und langfristigen Kosten sowie die Verbesserung der Lebensqualität, die durch die Interventionen erreicht werden. Hierzu wird mit 4 Partnern aus den Bereichen Biometrie, Gesundheitsökonomie, Qualitätssicherung und qualitative Evaluation zusammengearbeitet. Für Details zur Methodik der multizentrischen Evaluationsstudien wird nochmals auf das Studienprotokoll verwiesen (Wiegand-Grefe et al. subm.). Für ein korrektes und datenschutzsicheres Datenmanagement und -monitoring wird ein externes „clinical trial center“ (CTC North) beauftragt. Um das Angebot bekannt zu machen, und um eine möglichst breite Zielgruppe zu erreichen, wird mit Partnern und Partnerinnen der Öffentlichkeitsarbeit (Homepage: Jörg Dirmaier) sowie der Vernetzung mit der Jugendhilfe (AFET, Koralia Sekler) und Gemeindepsychiatrie (Birgit Görres, Nils Greve) eng zusammengearbeitet. Um diese familienorientierten Versorgungsformen in die Versorgung der gesetzlichen Krankenkassen aufzunehmen, wurde der CHIMPS-NET-Verbund, wie im Innovationsfonds üblich, so konzipiert, dass von Projektbeginn an gesetzliche Krankenkassen als gleichberechtigte Verbundpartner gewonnen wurden. Mit allen teilnehmenden Krankenkassen (Techniker Krankenkasse, BARMER, DAK, Mobil Krankenkasse, Kaufmännische Krankenkasse, IKK Classic, AOK Baden-Württemberg und AOK Hessen als Konsortialpartner, weitere Krankenkassen sind dem Selektivvertrag und dem Verbund als Kooperationspartner beigetreten) wurden zu Projektbeginn Selektivverträge nach § 140a SGB V abgeschlossen. Bei erfolgreicher Evaluation des Projekts sollen diese mit den Krankenkassen für die Projektlaufzeit abgeschlossenen Selektivverträge verlängert werden. Damit wären die CHIMPS-Interventionen als neue Versorgungsformen Teil der selektivvertraglichen Versorgung der teilnehmenden gesetzlichen Krankenkassen. Dieses Vorgehen zeichnet den Verbund CHIMPS-NET aus: zusätzlich zur fundierten wissenschaftlichen Untersuchung wird von Beginn an die Versorgungsnähe berücksichtigt. Das heißt, eine zeitnahe Überführung der wissenschaftlichen Ergebnisse in die Regelversorgung ist explizit vorgesehen. Damit realisiert der CHIMPS-NET-Verbund eine enge Verknüpfung zwischen Wissenschaft und Praxis – hier konkret eine verbesserte Versorgungssituation der Kinder und Jugendlichen mit psychisch erkrankten Eltern.

Klinischer Ansatz

Im Folgenden wird am Beispiel des CHIMPS-Ansatzes beschrieben, wie sich neue, familienorientierte Versorgungsformen in das Gesundheitssystem integrieren lassen können. Es geht darum, ein versorgungsnahes und breit einsetzbares Angebot zu schaffen. Mit dem CHIMPS-Ansatz wird beispielhaft ein Präventions- und Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit psychisch erkrankten Eltern und ihrer Familien vorgestellt.

Der CHIMPS-Ansatz basiert konzeptuell auf 3 Säulen: 1. auf einem Theoriemodell (Wiegand-Grefe et al. 2011a), 2. auf Bedarfsanalysen betroffener Familien (Wiegand-Grefe 2010) und 3. auf der psychoanalytischen Familientherapie. Das Theoriemodell definiert gemäß einem Modell von Mattejat et al. (2000) die beiden Säulen Krankheitsbewältigung und Familienbeziehungen, aus denen therapeutische Ansatzpunkte der Interventionen abgeleitet werden. In Bedarfsanalysen wurde ermittelt, dass sich von einer psychischen Erkrankung betroffene Eltern den Einbezug der gesamten Familie in die Behandlung wünschen. Um das Angebot möglichst vielen Kindern und Jugendlichen mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Familien zugänglich zu machen, wurde es diagnoseübergreifend entwickelt. Darüber hinaus ist es für einen breiten Altersbereich von Kindern und Jugendlichen ab der Geburt bis ins junge Erwachsenenalter einsetzbar. Das Konzept ist also unabhängig von der elterlichen Diagnose ab der Geburt eines Kindes bis zum jungen Erwachsenenalter anwendbar, sofern die Bedingungen für eine ambulante Behandlung gegeben sind. Bei Bedarf kann das Konzept auch aufsuchend durchgeführt werden. Es handelt sich um ein niederfrequentes Konzept, dass sich über ein halbes Jahr erstreckt. Es kann verschiedene Behandlungen von einzelnen Familienmitgliedern unkompliziert begleiten oder auch diesen vorausgehen. Für erkrankte Eltern im stationärem Behandlungskontext wird mit CHIMPS-NET eine ambulante Nachsorge für die ganze Familie realisiert.

Das Grundkonzept des CHIMPS-Ansatzes ist in einem Manual beschrieben (Wiegand-Grefe et al. 2011a), daher wird an dieser Stelle nur zusammenfassend auf die Inhalte verwiesen. Der CHIMPS-Ansatz hat sich im Setting der 6 bis 8 Sitzungen auch von den Arbeiten von Beardslee (2009) zu depressiven Eltern anregen lassen, hat jedoch andere Gesprächsinhalte und therapeutische Interventionen. Der Ansatz erweitert damit Beardslees Ansatz um eine psychodynamische Perspektive, um psychodynamische Interventionstechniken, psychodynamische Ziele sowie um den Gegenstand und die Zielgruppe (er ist störungsübergreifend für alle elterlichen Diagnosegruppe und eine breite Altersgruppe der Kinder konzipiert). Die 3 übergeordneten Ziele der CHIMPS-Intervention sind:

  • Ein Verständnis der Erkrankung sowie der Paar- und Familiendynamik aus einer psychodynamischen, mehrgenerationalen Perspektive, um die transgenerationale Dynamiken für Familien und Therapeuten transparenter und verstehbarer zu machen.

  • Eine angemessene Krankheitsbewältigung, die bei Bedarf beispielsweise eine altersgerechte Information und Aufklärung aller Familienmitglieder über die elterliche Erkrankung beinhalten kann. Hier kann auf bewährte Psychoedukationselemente, wie z. B. passende Kinderbücher, zurückgegriffen werden.

  • Eine Verbesserung der innerfamiliären und außerfamiliären Beziehungen und des sozialen Netzwerkes der Familie. So kann z. B. gemeinsam überlegt werden, welche Bezugspersonen ergänzend für das Kind da sein können, um eine Entlastung des erkrankten Elternteils bei gleichzeitiger Unterstützung des Kindes herbeizuführen.

Der CHIMPS-Ansatz ist seit nunmehr 10 Jahren gut evaluiert (Wiegand-Grefe et al. 2021). Er verbessert nachweislich die psychische Gesundheit und die Lebensqualität der Kinder, die Krankheitsbewältigung und die innerfamiliären Beziehungen (z. B. Wiegand-Grefe et al. 2012, 2013).

Im Folgenden wird am Beispiel des CHIMPS-Ansatzes beschrieben, wie sich neue, familienorientierte Versorgungsformen in das Gesundheitssystem integrieren lassen können. Mit den neuen Versorgungsformen auf der Grundlage des CHIMPS-Ansatzes werden mehrere Präventions- und Therapieprogramme für Kinder und Jugendliche psychisch erkrankter Eltern und ihrer Familien vorgestellt und in CHIMPS-NET realisiert.

Weiterentwicklung des Ansatzes in passgenaue Versorgungsformen

Die CHIMPS-NET-Interventionen sollen möglichst passgenaue Angebote für unterschiedliche Bedarfe der Familien anbieten und damit den sehr unterschiedlichen Ausgangslagen Rechnung tragen (Infobox 1). Sie sind versorgungsnah und bieten deshalb Unterstützungsmaßnahmen in unterschiedlicher Intensität an – ganz nach Bedarf und klinischer Indikation, also je nach Indikation und gesundheitlicher Ausgangslage der Familien:

  • eine kurze Prävention, CHIMPS‑P, für funktionale Familien mit belasteten, aber psychisch gesunden Kindern,

  • die CHIMPS-MFT für belastete Familien mit Kindern, auch wenn diese bereits eigene Auffälligkeiten zeigen und die Familien vom Gruppenformat profitieren können,

  • und die therapeutische Intervention, CHIMPS‑T, für weniger funktionale Familien, für die ein Gruppenformat nicht geeignet ist.

In den folgenden Abschnitten werden die 4 Interventionsformen CHIMPS‑T, CHIMPS-MFT, CHIMPS‑P und iCHIMPS skizziert. Für weitergehende Informationen wird wieder auf die Studienprotokolle verwiesen (Wiegand-Grefe et al. subm.; Dülsen et al. subm.). Die CHIMPS-NET-Interventionen werden an 20 Standorten (zumeist in Kooperation zwischen einer Klinik für Erwachsenenpsychiatrie, einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Jugendhilfe) in Deutschland in 15 Bundesländern angeboten.

Infobox

Die Interventionen in CHIMPS-NET richten sich passgenau nach dem Bedarf der Familie und bieten je nach gesundheitlicher Ausgangslage eine Prävention, eine Gruppenintervention oder eine Therapie. Alle Konzepte und Interventionen sind diagnoseübergreifend und in einem weiten Altersbereich ab der Geburt bis ins junge Erwachsenenalter einsetzbar.

CHIMPS-T – therapeutisches Angebot für Familien mit hohem Unterstützungsbedarf

An dieser Stelle erfolgt lediglich ein Überblick, um ein grobes Verständnis für die Intervention zu schaffen: An ein Erstgespräch mit der Familie schließen sich 2 bis 3 Eltern- bzw. Paargespräche an und danach Einzelgespräche für jedes Kind der Familie. Den Abschluss bilden 3 Gespräche mit der gesamten Familie. Das Angebot CHIMPS‑T umfasst also 3 Abschnitte mit Eltern‑, Kind- und Familiengesprächen, die sich über ca. 8 Sitzungen erstrecken. Die Sitzungen werden niederfrequent in 2‑ bis 3‑wöchigen Abständen angeboten. Die familientherapeutische Intervention findet über ein halbes Jahr hinweg statt. Zur ausführlichen Beschreibung wird auf das oben genannte Manual von Wiegand-Grefe et al. (2011a) verwiesen. Inhaltlich werden stets die Krankheitsbewältigung und die Familienbeziehungen adressiert sowie Verbesserungsmöglichkeiten erarbeitet. Ziel der Familiengespräche ist es, die unterschiedlichen Sichtweisen, neu gewonnene Erkenntnisse und Wünsche der Familienmitglieder zusammenzutragen. Wird die elterliche psychische Erkrankung besprochen, kann die Therapeutin bei der Aufklärung des Kindes unterstützen. Den Abschluss bilden weitergehende Empfehlungen an die Familie, wie z. B. die Empfehlung einer psychotherapeutischen Behandlung des Kindes oder des Partners bzw. der Partnerin. Aktuell wird der Ansatz für Eltern mit Persönlichkeitsstörungen und anderen schweren Störungen unter dem Einfluss der übertragungsfokussierten Psychotherapie („transference-focused psychotherapy, TFP“; Yeomans et al. 2017) weiterentwickelt.

CHIMPS-MFT – multifamilientherapeutisches Gruppenangebot für belastete Familien

Die Intervention CHIMPS-MFT erstreckt sich ebenfalls über 8 Sitzungen. Im multifamilientherapeutischen Setting werden die Themen „Krankheitsbewältigung“ und „Familienbeziehungen“ bearbeitet, zusätzlich werden die Ressourcen der Familienmitglieder betrachtet. Grundlage dieser multifamilientherapeutischen Arbeit ist die mehrgenerationale Arbeit mit dem Genogramm. Der Ansatz ist in einem Manual beschrieben (Wiegand-Grefe et al. 2020).

CHIMPS-P – präventives Angebot für gut funktionierende Familien

Die kurze Prävention CHIMPS‑P aus 3 Sitzungen orientiert sich inhaltlich an den 3 Familiengesprächen des Chimps-Ansatzes (Manual: Wiegand-Grefe et al. 2011a). Aufgrund der hohen Funktionalität der Familie wird auf die Eltern- und Einzelgespräche mit den Kindern verzichtet. Sollten sich jedoch Hinweise auf einen erhöhten Unterstützungsbedarf geben, kann darauf selbstverständlich eingegangen werden. Die Prävention CHIMPS‑P mit 3 Familiengesprächen setzt keine Approbation als Qualifikation voraus, sondern kann beispielsweise auch von SozialpädagogInnen mit familientherapeutischer Weiterbildung durchgeführt werden.

iCHIMPS

Ferner wird in CHIMPS-NET unter der Projektleitung von Harald Baumeister, Ulm, eine auf dem CHIMPS-Modell basierende Online-Intervention, iCHIMPS, für Jugendliche mit psychisch erkrankten Eltern entwickelt (https://esano.klips-ulm.de/de/trainings/fur-jugendliche/ichimps/). Mit iCHIMPS wird eine Intervention für belastete Jugendliche bereitgestellt, deren Eltern nicht an familienorientierten Interventionen interessiert sind.

Fazit

  • Die 4 Interventionsformen nach dem „Children-of-mentally-ill-parents“(CHIMPS)-Ansatz stellen ein bedarfsorientiertes Vorgehen dar, das diagnoseübergreifend und in einem breiten Altersbereich einsetzbar ist.

  • Alle 4 Interventionen werden in jeweils eigenen „randomized controlled trials“ (RCT) evaluiert, das Design dieser RCT wird in den Studienprotokollen publiziert.

  • Im Fall einer positiven Evaluation würde die Versorgung über die Selektivverträge in die Routineversorgung gelangen. Damit würde ein ausdrücklich familienorientierter Ansatz in die regelhafte Versorgung psychisch Erkrankter aufgenommen werden. Das wäre ein wichtiger Schritt von einem individuumszentrierten Vorgehen zu einer stärker familienorientierten Sichtweise.