Ambulante Psychotherapie wird zu zwei Dritteln von Frauen und zu einem Drittel von Männern in Anspruch genommen. Diese Unterschiede der Inanspruchnahme setzen sich in anderen Bereichen des Gesundheitswesens fort. Die Vermutung liegt nahe, dass dies in der erhöhten Symptombelastung von Frauen begründet ist. Die Literatur zeigt allerdings, dass Inanspruchnahmeverhalten und Symptombelastung relativ unabhängig voneinander und Geschlechterunterschiede selbst dann zu finden sind, wenn sich die Symptombelastung von Männern und Frauen annähert. Die vorliegende Studie untersucht Geschlechtsunterschiede bei der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Versorgungsangebote in Österreich und diskutiert diesbezügliche Ursachen und potenziell zu ziehende Konsequenzen in der Therapie.

Einleitung

Es ist vielfach belegt, dass es teils deutliche Geschlechtsunterschiede bei der Häufigkeit psychischer Erkrankungen gibt (Wittchen und Hoyer 2011). Frauen leiden häufiger an Essstörungen, Depressionen und Panikstörungen; wohingegen Männer häufiger Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen aufweisen. Geschlechtsunterschiede zeigen sich auch in der Inanspruchnahme von Psychotherapie (Riecher-Rössler 2008). Ambulante Psychotherapie wird zu zwei Dritteln von Frauen und zu einem Drittel von Männern in Anspruch genommen (Strauß et al. 2002). Diese Unterschiede setzen sich in anderen Bereichen des Gesundheitswesens fort. So nehmen Männer weniger häufig medizinische Behandlungen in Anspruch als Frauen (Ladwig et al. 2000; Bertakis et al. 2000). Die Vermutung liegt nahe, dass die erhöhte Symptombelastung von Frauen zur höheren Inanspruchnahme führt. Die Literatur zeigt allerdings, dass diese beiden Faktoren relativ unabhängig voneinander sind und die Geschlechterunterschiede auch zu finden sind, wenn sich die Symptombelastung von Männern und Frauen annähert (Ladwig et al. 2000). Stattdessen wird vermutet, dass Unterschiede in den gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber Männern und Frauen die Unterschiede in der Inanspruchnahme erklären. Die typischen geschlechtsspezifischen Erwartungen erschweren es Männern, Bedenken und Sorgen um ihre Gesundheit auszudrücken (Yousaf et al. 2015a). Dies behindert ihre Fähigkeit, professionelle psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen (Hammer und Vogel 2010).

Nicht nur die Mehrheit der Patient*innen ist weiblich, auch die Mehrheit der Psychotherapeut*innen sind Frauen (Schigl 2019). Fast drei Viertel aller Psychotherapeut*innen sind weiblich. Das bedeutet, dass in der Praxis am häufigsten Frauen von Frauen behandelt werden.

Die Besonderheiten der österreichischen Psychotherapieversorgung und -ausbildung lassen offen, ob die bisherigen Studienergebnisse auch in Deutschland anwendbar sind. Nur ein sehr geringer Teil der psychotherapeutischen Behandlung in niedergelassener Praxis wird vollständig durch die Krankenkasse finanziert (Löffler-Stastka und Hochgerner 2021). Der größte Teil der Patient*innen muss die ambulante Psychotherapie bis auf einen Kostenzuschuss von 28 € selbst bezahlen. Die Ausbildung zum/zur Psychotherapeut*in ist in Österreich, wie zukünftig auch in Deutschland, eine Ausbildung, die ohne Psychologiestudium zugänglich ist (Datler et al. 2021). Bisher wurden keine Studien zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der psychotherapeutischen Versorgung in Österreich veröffentlicht. Die vorliegende Studie untersucht geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Inanspruchnahme von ambulanter Psychotherapie anhand einer großen Stichprobe psychisch kranker Menschen in stationärer Behandlung.

Material und Methoden

Stichprobe

Eine Stichprobe mit 1909 Patient*innen, 1224 (64 %) Frauen und 685 (36 %) Männer, wurde über ihre psychotherapeutische Vorbehandlung sowie ihre geplante weiterführende Behandlung befragt. Die Patient*innen befanden sich aufgrund einer psychischen Erkrankung in stationärer Behandlung in einer psychosomatischen Klinik in Österreich. Das durchschnittliche Alter der Patient*innen betrug 45,5 Jahre (SD ± 11,9 Jahre). Frauen waren im Durchschnitt 44,8 Jahre (SD ± 11,9 Jahre) alt, wohingegen Männer 46,6 Jahre (SD ± 11,3 Jahre) alt waren.

Das Psychosomatische Zentrum Waldviertel (PSZW) umfasst das Universitätsklinikum für Psychosomatische Medizin Eggenburg und die psychiatrische Rehabilitationsklinik Gars am Kamp. Die aktuelle Stichprobe setzt sich aus 1064 Patient*innen aus dem Universitätsklinikum Eggenburg und 845 aus der Rehabilitationsklinik Gars am Kamp zusammen. In der Klinik Eggenburg werden v. a. Patient*innen mit Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (ICD-10 F60–F69 = 12,6 %), affektiven Störungen (ICD-10 F30–F39 = 22,3 %), psychischen und Verhaltensstörungen durch Alkohol (ICD-10 F10 = 12,8 %), neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen (ICD-10 F40–F48 = 34 %), Essstörungen (ICD-10 F50 = 15,8 %) und verschiedenen anderen Störungsbildern 2,5 % behandelt. In der Rehabilitationsklinik Gars am Kamp werden überwiegend Menschen mit affektiven Störungen (ICD-10 F30–F39 = 63,6 %) sowie neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen (ICD-10 F40–F48 = 28,3 %) therapiert (Riffer et al. 2017, 2018; Sprung et al. 2021).

Setting

Die Daten des PSZW wurden zwischen Juli 2017 und Juli 2018 erhoben. Das Universitätsklinikum Eggenburg ist eine wichtige Anlaufstelle für chronisch psychisch kranke Menschen und hält 100 stationäre Betten vor. Die interdisziplinäre Behandlung erfolgt in Kompetenzbereichen, die nach unterschiedlichen Störungsbildern gegliedert sind. In den Kompetenzbereichen werden Menschen mit Traumafolgeerkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, affektiven, Angst- und Zwangsstörungen, Sucht und Abhängigkeitserkrankungen, chronischen Schmerzerkrankungen sowie Essstörungen behandelt (Riffer et al. 2016). Der stationäre Aufenthalt im Universitätsklinikum Eggenburg umfasst 8 bis 12 Wochen, in denen die Patient*innen eine intensive und störungsspezifische Therapie erhalten. Einschlusskriterium der Studie ist die Aufnahme im PSZW im oben angeführten Zeitraum. Aufgrund des vielfältigen Therapieangebots ist die Therapiefähigkeit der Patient*innen entscheidend für die Aufnahme. Ausschlusskriterien sind akute Psychosen, suizidales Verhalten und Patient*innen mit akuter Intoxikation. In der psychiatrischen Rehabilitationsklinik Gars am Kamp beträgt die Aufenthaltsdauer in der Mehrheit der Fälle 6 Wochen. Die ebenfalls interdisziplinäre Behandlung ist störungsunspezifisch.

Erhebungsverfahren

Im Rahmen der routinemäßigen Evaluation wurden zu Beginn und gegen Ende des stationären Aufenthalts soziodemografische und sozioökonomische Informationen, gesundheits- und krankheitsbezogene Informationen sowie Informationen zu psychotherapeutischer Vorbehandlung und geplanter weiterführender Behandlung, ermittelt. Die Daten wurden mithilfe eines computerbasierten Erhebungsverfahrens, dem Computer-based Health Evaluation System (Evaluation Software Development [ePRO, CHES], Innsbruck, Österreich; Holzner et al. 2012) erhoben und anschließend mithilfe eines Statistikprogramms (SPSS, Version 24.0) ausgewertet.

Statistische Datenauswertung

Soziodemografische und sozioökonomische Informationen sowie Angaben zu psychotherapeutischer Vorbehandlung und geplanter weiterführender Behandlung wurden in Bezug auf geschlechtsspezifische Unterschiede analysiert. Die Daten wurden deskriptiv ausgewertet und anschließend inferenzstatistisch mithilfe des χ2-Tests auf signifikante Unterschiede in den Häufigkeitsverteilungen geprüft. Bei einem p-Wert <0,05 unterscheidet sich das Antwortverhalten der Frauen von dem der Männer.

Ergebnisse

Sozioökonomische und krankheitsbezogene Daten

Die Ergebnisse der sozioökonomischen Datenauswertung bezüglich Arbeitsunfähigkeit und Haushaltseinkommen der Patient*innen bei Klinikaufnahme sind in Tab. 1 jeweils im geschlechtsspezifischen Vergleich dargestellt. Zum Zeitpunkt der Aufnahme waren 71,5 % der Patient*innen arbeitsunfähig. Etwas mehr als ein Drittel (37,4 %) gaben an, dass sie in den letzten 12 Monaten länger als 30 Wochen arbeitsunfähig waren.

Tab. 1 Dauer der Arbeitsunfähigkeit und Haushaltseinkommen bei Klinikaufnahme, differenziert nach dem Geschlecht

Hinsichtlich der Nutzung des Gesundheitssystems zeigten sich geschlechtsspezifische Unterschiede. Mehr als ein Viertel der Frauen (28,4 %) verbrachten in den letzten 12 Monaten länger als 6 Wochen zur stationären Behandlung im Krankenhaus, im Gegensatz zu 17,5 % der Männer. Männer gingen im Vergleich zu Frauen signifikant seltener zum Arzt. Bei den Frauen gingen 23,9 % in den letzten 12 Monaten mehr als 20-mal zum Arzt. Dieser Anteil war bei Männern mit 17,2 % ebenfalls hoch, aber niedriger als bei den Frauen (χ2  = 17,53; p ≤ 0,001).

Bezogen auf das Haushaltseinkommen fand sich ebenfalls ein geschlechtsspezifischer Unterschied (χ2  = 27,71; p < 0,001). Der Anteil der Frauen mit einem Niedrigsteinkommen (< 1000 €) war deutlich höher als der der Männer.

Mehr als die Hälfte (58 %) der Patient*innen waren demnach chronisch krank. Der größte Teil der Patient*innen litt seit mehr als 2 Jahren an einer psychischen Erkrankung (70 %). Angaben zum Beginn der Erkrankung finden sich in Abb. 1.

Abb. 1
figure 1

Zeitpunkt des Erkrankungsbeginns vor der Klinikaufnahme im Vergleich zwischen Frauen und Männern

Behandlungsbezogene Daten

Die Ergebnisse zu psychotherapeutischer Vorbehandlung und geplanter weiterführender Behandlung sind den Tab. 2 und 3, jeweils für Männer und Frauen getrennt, zu entnehmen.

Tab. 2 Vor der Klinikaufnahme in Anspruch genommene psychotherapeutische Behandlung, differenziert nach dem Geschlecht
Tab. 3 Bei Klinikentlassung geplante psychotherapeutische Weiterbehandlung, differenziert nach dem Geschlecht

Vor der stationären Behandlung hatten Männer (79 %) seltener eine ambulante psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen als Frauen (84 %) (χ2  = 7,41; p < 0,01). Bei Klinikaufnahme hatte die Behandlung bei 58 % der Frauen und 47 % der Männer bereits länger als ein Jahr gedauert. Bei den Personen, die eine Psychotherapie in Anspruch genommen hatten, unterschieden sich zusätzlich die Behandlungsdauer (χ2  = 24,31; p < 0,001) und -intensität (χ2  = 24,70; p < 0,001) zwischen Männern und Frauen. Männer nahmen weniger Sitzungen in Anspruch, und die Therapie hatte eine geringere Gesamtdauer. Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigten sich auch hinsichtlich der Gründe für bisher fehlende psychotherapeutische Behandlung (Abb. 2). Deutlich mehr männliche (45 %) als weibliche (26 %) Patient*innen gaben an, keinen Bedarf bzw. keine Notwendigkeit für eine Behandlung gesehen zu haben. Frauen gaben häufiger als Männer an, dass sie keine Behandlung in Anspruch nahmen, weil ihnen die finanziellen Mittel fehlten.

Abb. 2
figure 2

Gründe, warum vor der Klinikaufnahme keine psychotherapeutische Vorbehandlung in Anspruch genommen wurde

Bei ihrer Entlassung gaben mehr als die Hälfte (57 %) der Patient*innen an, keinen Zugang zu einer kassenfinanzierten ambulanten Psychotherapie zu haben. Jene Patient*innen, die einen kassenfinanzierten ambulanten Psychotherapieplatz in Anspruch nahmen, warteten lange auf diesen: 40 % bis zu 5 Wochen.

Die Gründe dafür, keine weiterführende psychotherapeutische Behandlung zu planen, wiesen ebenfalls Geschlechterunterschiede auf. Männer planten demnach seltener, eine weiterführende psychotherapeutische Behandlung in Anspruch zu nehmen, als Frauen (χ2  = 14,75; p ≤ 0,001). Die Ergebnisse sind Tab. 3 zu entnehmen. Bei den Gründen gegen eine Weiterbehandlung berichteten Frauen häufiger als Männer, keine ausreichenden finanziellen Mittel zu haben.

Diskussion

Chronisch psychisch kranke Männer, die in einer Klinik in Österreich in stationärer psychosomatischer Behandlung waren, hatten vor der Behandlung weniger häufig psychotherapeutische und niedergelassene ärztliche Versorgungsangebote in Anspruch genommen als Frauen. Dies stimmt mit bisherigen Ergebnissen überein (Yousaf et al. 2015a). Im Besonderen hat sich gezeigt, dass Frauen sehr viel häufiger als Männer psychotherapeutische Behandlungen aufsuchen, obwohl sie nicht unbedingt häufiger psychisch krank sind (Ernst 2001). Als Ursache wird die traditionelle männliche Geschlechterrolle vermutet. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass es Männern weniger als Frauen erlaubt ist, Schwäche zu zeigen und mehr Unabhängigkeit verlangt wird. Dadurch wird es Männern erschwert, Sorge um ihre Gesundheit auszudrücken, was die Kommunikation mit dem Gesundheitspersonal behindern kann (Yousaf et al. 2015a). In diesen Zusammenhang wird deutlich, dass es Männern, besonders solchen mit traditionellem Rollenverständnis, schwerer fällt, Hilfe in Anspruch zu nehmen (O’Neil 2008; Yousaf et al. 2015b). Dies ist auch aufgrund der häufigen komorbiden somatischen Erkrankungen sowie der erhöhten Mortalität von psychisch kranken Menschen besonders problematisch (Wittchen et al. 2011). Vermutlich trägt dieser Umstand dazu bei, dass Männer in Österreich durchschnittlich 5 Jahre kürzer leben als Frauen und eine dreifach höhere Suizidrate haben (Statistik Austria 2018). Darüber hinaus fanden Studien, dass es einen Zusammenhang zwischen dem seltenen Hilfesuchverhalten von Männern und ihrer höherer Sterberate gibt (Hale et al. 2010).

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie belegen, dass Männer auch ambulante psychotherapeutische Behandlung mit weniger Sitzungen und für eine kürzere Dauer in Anspruch nehmen als Frauen. Die ist möglicherweise ein Hinweis darauf, dass es bei Männern häufiger zu Therapieabbrüchen kommt als bei Frauen. Die Behandlungsmotivation von Männern könnte durch geschlechtsspezifische Behandlungsstrategie gefördert werden. Dazu gehört, dass Männer klar strukturierte Beratungsangebote bevorzugen (Krause-Girth 2004; Rudolf 2002), in denen sie an Entscheidungsprozessen beteiligt werden (Seidler et al. 2018). Folgende Gründe werden für eine mangelnde Inanspruchnahme psychosozialer und medizinischer Versorgungsangebote bei psychisch kranken Männern diskutiert: Scham hinsichtlich der Inanspruchnahme und das Bedürfnis nach emotionaler Kontrolle (Yousaf et al. 2015b). Verglichen mit Frauen, berichten Männer über mehr Schamerleben (Doherty und Kartalova-O’Doherty 2010).

Zudem zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass Frauen trotz geringerem Einkommen weniger kassenfinanzierte Plätze als Männer nutzen. Die Ergebnisse geben einen Hinweis darauf, dass besonders Frauen mit psychischen Erkrankungen vermehrt unter mangelnden finanziellen Mitteln leiden, sodass sie sich eine Psychotherapie nur leisten können, wenn sie kassenfinanziert ist. Um eine nachhaltige Stabilisierung der Verbesserung durch den stationären Krankenhausaufenthalt zu gewährleisten, ist eine ambulante Psychotherapie jedoch notwendig (Eichert 2016). Die Studienergebnisse spiegeln eine Ungleichheit in der Behandlung von psychischen und physischen Erkrankungen wider, da Behandlungen körperlicher Erkrankungen flächendeckend finanziert werden, psychischer Erkrankungen in Österreich allerdings nicht.

Die Daten beschränken sich auf Patient*innen in stationärer psychosomatischer Behandlung mit chronifizierten Verläufen. Zukünftige Studien sollten prüfen, ob sich die Ergebnisse auf weitere Patientengruppen übertragen lassen. Dennoch bestätigen die Ergebnisse anhand der großen Stichprobe Geschlechtsunterschiede bei der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Behandlung.

Fazit für die Praxis

  • Männer mit psychischen Erkrankungen nehmen weniger häufig eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch und gehen auch seltener zum Arzt als Frauen.

  • Frauen mit psychischen Erkrankungen können eine notwendige psychotherapeutische Behandlung aufgrund fehlender finanzieller Mitteln teilweise nicht in Anspruch nehmen.

  • Männer geben häufiger als Frauen an, keinen Bedarf/keine Notwendigkeit für eine Psychotherapie zu sehen.