Die phänomenologisch heterogenen und eher unscharf definierten dissoziativen Symptome gehören nicht nur zu den diagnostischen Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), sondern sind auch mit autoaggressiven Handlungen, erhöhtem Inanspruchnahmeverhalten und schlechteren Therapieergebnissen assoziiert. Obwohl sich die deutlich besser operationalisierte pathologische Dissoziation bei anderen Störungen als ein klinisch besser handhabbarer Parameter erwiesen hat als das breite Konstrukt der Dissoziation, ist pathologische Dissoziation bei der BPS bisher kaum analysiert worden.

Einleitung

Die Einführung „schwerer dissoziativer Symptome“ als neuntes diagnostisches Kriterium der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) im DSM-IV (American Psychiatric Association 1994) spiegelt einerseits die klinische Relevanz von Dissoziation bei dieser Erkrankung wider und hat andererseits vielfältige Forschung zu diesem Themenkomplex stimuliert (Korzekwa et al. 2009; Scalabrini et al. 2017).

Schwere dissoziative Symptome (operationalisiert über Werte ≥ 30 in der 28 Item umfassenden Dissociative Experiences Scale [DES-28; Bernstein und Putnam 1986; Spitzer et al. 2021], dem etabliertesten und international am häufigsten eingesetzten Selbstbeurteilungsverfahren zur Erfassung von Dissoziation [Spitzer und Wirtz 2017]), finden sich bei 25 % aller BPS-Patienten (Zanarini et al. 2008; Scalabrini et al. 2017). Im Langzeitverlauf von 10 Jahren leiden etwa 43 % der initial hochdissoziativen BPS-Patienten immer noch unter schweren dissoziativen Symptomen (Zanarini et al. 2008; Scalabrini et al. 2017).

Dissoziation bei der BPS ist mit vielfältigen klinisch-therapeutisch relevanten Korrelaten wie erhöhter Stressanfälligkeit, selbstverletzendem Verhalten, reduzierter Schmerzsensitivität und stressinduzierter Analgesie sowie hoher Inanspruchnahme des Gesundheitssystems assoziiert (Stiglmayr et al. 2008; Korzekwa et al. 2009; Scalabrini et al. 2017; Chung et al. 2020). Zudem gibt es Hinweise, dass dissoziative Phänomene zu Behandlungsbeginn den Therapieerfolg nachteilig beeinflussen (Kleindienst et al. 2011, 2016; Wilfer et al. im Druck).

Während ihre Relevanz bei der BPS unbestritten ist (Übersichten: Korzekwa et al. 2009; Scalabrini et al. 2017), besteht bis heute kein Konsens darüber, wie Dissoziation zu definieren und welche Symptomatik darunter zu subsumieren ist (Cardena 1994; Nijenhuis und van der Hart 2011). Ein fruchtbarer Ansatz zu begrifflicher und theoretischer Schärfung ist die Unterscheidung zwischen normal(psychologisch)er und pathologischer Dissoziation (Butler 2006; Spitzer et al. 2007). So basieren dimensionale Ansätze auf der sog. Kontinuumshypothese, die dissoziative Phänomene auf einem Kontinuum von alltäglichen Erfahrungen bis zu schwersten Formen wie bei der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) anordnet (Butler 2006; Spitzer et al. 2007). Hingegen gehen typologische Ansätze von einem qualitativen Unterschied zwischen normaler und pathologischer Dissoziation aus (Waller et al. 1996; Spitzer et al. 2007; 2017).

In ihrer Studie untersuchten Waller et al. (1996) die DES-Werte von DIS-Patienten und Gesunden mithilfe einer taxometrischen Analyse. Taxometrische Analysen zielen auf die Differenzierung zwischen Kontinua und distinkten Kategorien (Taxa). Die Studienergebnisse stützen den typologischen Ansatz. Demnach erscheint eine Differenzierung zwischen einem dimensionalen, nichtpathologischen und einem diskontinuierlichen, pathologischen Typus dissoziativer Phänomene gerechtfertigt zu sein. Interessanterweise konnten unter den 28 Items der DES-28 (Bernstein und Putnam 1986; Spitzer et al. 2021) 8 Items identifiziert werden, die als Indikatoren für pathologische Dissoziation fungieren, und eine eigenständige Skala bilden, die sog. DES-Taxon (DES-T). Neben dem Mittelwert der DES‑T kann auf Basis der 8 Itemrohwerte berechnet werden, ob der Patient zu der distinkten Gruppe mit pathologischer Dissoziation gehört (Taxon). Als einfache anzuwendende Alternative zu dieser Kategorisierung wurde ein Schwellenwert ≥ 20 in der DES‑T vorgeschlagen (Waller und Ross 1997; Waller et al. 2001). Die DES‑T differenzierte deutlich besser zwischen Patienten mit ausgeprägter dissoziativer Symptomatik bei dissoziativen Störungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und BPS sowie Patienten mit geringer Dissoziation bei anderen psychischen Erkrankungen und Gesunden als die DES-28 (Waller et al. 1996; Waller und Ross 1997).

Trotz der hohen Relevanz dissoziativer Phänomene bei der BPS ist das Konzept der pathologischen Dissoziation bisher kaum in diesem Kontext untersucht worden (Haaland und Landrø 2009). Dies ist umso erstaunlicher, als dass die DES‑T mit 8 Items nicht nur anwendungs- und auswertungsökonomischer ist als die DES-28, sondern auch auf ihre höhere klinische und wissenschaftliche Zweckmäßigkeit hingewiesen wurde (Waller et al. 2001). Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende explorative Studie bei einer größeren Stichprobe stationär behandelter BPS-Patienten folgende Fragestellungen:

  1. I.

    Wie viele BPS-Patienten leiden unter schwerer bzw. pathologischer Dissoziation?

  2. II.

    Wie stellen sich deren Assoziationen mit allgemeiner und Borderline-spezifischer Symptomatik dar?

  3. III.

    Wirkt sich ein hoher Schweregrad von Dissoziation zu Behandlungsbeginn nachteilig auf das symptombezogene Therapieergebnis aus?

Dabei wurden dimensionale (d. h. die kontinuierlich verteilten DES-28- und DES-T-Werte) und kategoriale Ansätze (d. h. die dichotome Unterscheidung in stark und gering ausgeprägte Dissoziation) angewandt. Dafür wurden 3 Indizes für klinisch relevant ausgeprägte Dissoziation (DES-Wert ≥ 30 vs. DES-T-Wert ≥ 20 vs. DES-Taxon [DES-T]) hinsichtlich ihrer klinischen Nützlichkeit verglichen.

Methodik

Studiendesign und Stichprobe

Die vorgestellten Analysen beruhen auf Daten einer naturalistischen, d. h. nichtexperimentellen und beobachtenden Psychotherapiestudie. Die Daten wurden an der Schön Klinik Bad Bramstedt im Schwerpunktbereich Persönlichkeitsstörungen erhoben, der 2008 vom Dachverband Dialektisch Behaviorale Therapie e. V. (DDBT e. V.) zertifiziert wurde. Das DBT-basierte Behandlungsprogramm umfasste neben Einzeltherapien (1–2/Woche) folgende Gruppentherapien: Basisgruppe, Fertigkeitentraining (mit den Schwerpunkten Interaktion, Stresstoleranz oder Emotionsregulation), Übungsgruppe, Achtsamkeitstraining und Bewegungstherapie. Neben dem DBT-basierten Behandlungsprogramm wurden Indikativgruppen für unterschiedliche Achse-I-Komorbiditäten sowie Kunst- und Ergotherapiegruppen und spezifische bewegungstherapeutische Gruppen (z. B. Ergometertraining) angeboten. Alle Patienten, die nach dem 01.12.2009 aufgenommen und vor dem 31.08.2011 entlassen wurden, nahmen an der Studie teil, sofern folgende Kriterien erfüllt waren:

  • BPS-Diagnose anhand des Strukturierten Klinischen Interviews für DSM-IV Achse-II-Störungen (SKID-II),

  • Alter ≥ 18 Jahre,

  • Ausschluss hirnorganischer oder schizophrener Störung,

  • Ausschluss unzureichender Sprachkenntnisse, geringer Intelligenz oder formaler Denkstörungen, die ein Bearbeiten von Selbstbeurteilungsverfahren unmöglich machen,

  • vollständige Werte auf der DES-28.

Die BPS-Patienten, die an der Studie teilnahmen, bearbeiteten Selbstbeurteilungsverfahren zur dissoziativen Symptomatik (DES-28, DES-T), zur Borderline-typischen Symptomatik (Borderline Symptom Liste, BSL-95) und zur allgemeinen Symptomatik (Gesundheitsfragebogen für Patienten, PHQ-D). Die entsprechenden Fragebogen wurden von 487 BPS-Patienten vor Beginn der Behandlung und von 342–361 BPS-Patienten nach Abschluss einer mindestens 6‑wöchigen Behandlung ausgefüllt; die unterschiedlichen Fallzahlen bei Aufnahme und Entlassung beruhen auf Patienten, die die Therapie vorzeitig beendeten. Alle Probanden gaben ihre schriftliche Einwilligung zur Teilnahme an der Studie, die unter Einhaltung der aktuellen Fassung der Deklaration von Helsinki durchgeführt und von der Ethikkommission der Universität zu Lübeck genehmigt wurde (AZ 11-178A).

Instrumente

Dissociative Experience Scale

Die DES-28 erfasst normale und pathologische dissoziative Symptome anhand von 28 Items (Bernstein und Putnam 1986; Spitzer et al. 2021). Acht dieser 28 Items bilden die DES‑T und erfassen ausschließlich schwere Symptome, die zur pathologischen Dissoziation zählen (Waller et al. 1996; Spitzer et al. 2017). Sowohl für die DES-28 als auch die DES‑T werden die Itemrohwerte summiert und anschließend durch die Anzahl der beantworteten Items dividiert. Der berechnete Mittelwert kann somit zwischen 0 und 100 schwanken, wobei höhere Werte eine stärkere Pathologie anzeigen. Anhand dieser kontinuierlich verteilten Mittelwerte der DES-28 bzw. der DES‑T können weitere Indizes für klinisch relevant ausgeprägte Dissoziation ermittelt werden: (i) DES-28-Werte ≥ 30 (Bernstein und Putnam 1986; Spitzer et al. 2021), (ii) DES-T-Werte ≥ 20 (Waller und Ross 1997; Waller et al. 2001) und (iii) Zugehörigkeit zur distinkten Kategorie der pathologischen Dissoziation (Taxon). Für Letzteres wird nicht der DES-T-Mittelwert, sondern es werden die Itemrohwerte genutzt, um die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, in diese Kategorie zu fallen; herkömmlich wird eine Wahrscheinlichkeit von 90 % gefordert (Waller et al. 1996; Waller und Ross 1997). Die DES-28 und DES‑T weisen befriedigende bis gute psychometrische Eigenschaften auf (Bernstein und Putnam 1986; Spitzer et al. 2021).

Gesundheitsfragebogen für Patienten

Der PHQ‑D erfasst auf störungsspezifischen Subskalen depressive (PHQ-9), ängstliche (Generalized Anxiety Disorder 7, GAD-7) und somatische Symptome (PHQ-15; Löwe et al. 2002). Die psychometrischen Eigenschaften der PHQ‑D gelten durchweg als gut (Gräfe et al. 2004).

Borderline Symptom Liste 95

Die BSL-95 erfasst mithilfe von 95 Items Borderline-typische Symptome in der vergangenen Woche. Diese Symptome können den Subskalen der Selbstwahrnehmung, Affektregulation, Autoaggression, Dysphorie, sozialen Isolation, Intrusionen und Feindseligkeit zugeordnet und zu einer Gesamtskala zusammengefasst werden. Die BSL-95 weist befriedigende psychometrische Eigenschaften auf (Bohus et al. 2000, 2007).

Statistische Auswertung

Neben deskriptiven Statistiken wurden zunächst aufgrund der dimensionalen DES-28- und DES-T-Werte die folgenden dichotomen Dissoziationsindizes berechnet: (i) DES-28-Werte ≥ 30, (ii) DES-T-Werte ≥ 20 und (iii) Zugehörigkeit zum Typus der pathologischen Dissoziation (Taxon). Ihre Häufigkeiten und ihre Übereinstimmung untereinander wurden mithilfe des Fleiss κ ermittelt. Anschließend wurde die Stichprobe anhand dieser Indizes in niedrig- bzw. hochdissoziative Patienten unterteilt und mithilfe von Varianzanalysen (ANOVA) hinsichtlich ihrer depressiven (PHQ-9), ängstlichen (GAD-7) und somatischen (PHQ-15) sowie ihrer Borderline-typischen (BSL-95) Symptome verglichen. Danach wurden Zusammenhänge zwischen dissoziativen Phänomenen (DES-28, DES-T) und den anderen psychopathologischen Symptomen (PHQ‑9, PHQ-15, GAD‑7, BSL-95) mithilfe der Korrelationen (nach Pearson) überprüft. Der Einfluss der dissoziativen Symptome auf behandlungsinduzierte Veränderungen in diesen psychopathologischen Symptomen wurde mithilfe hierarchischer linearer Regressionen untersucht. Dabei wurden die psychopathologischen Symptome der Patienten bei Aufnahme (erster Block) und ihre dissoziativen Phänomene bei Aufnahme (zweiter Block) als Prädiktorvariablen sowie die psychopathologischen Symptome der Patienten bei Entlassung als Kriteriumsvariable genutzt (Einschlussmethode). Alle Berechnungen wurden auf einem Signifikanzniveau von α < 0,05 durchgeführt. Zusätzlich zu dem Signifikanzniveau werden verschiedene Effektstärken berichtet (r, d, ∆R2, β), die nach üblichen Konventionen (Cohen 1988) interpretiert wurden. Alle Berechnungen wurden mit dem Computerprogramm Statistical Package for the Social Sciences, Version 27 (SPSS) durchgeführt.

Ergebnisse

Es wurden 487 BPS-Patienten (400 Frauen [82,1 %] und 87 Männer [21,8 %]) mit einem Durchschnittsalter von 31,8 Jahren (SD ± 9,8 Jahre) untersucht. Von diesen waren 250 ledig (51,3 %), 164 (33,7 %) verheiratet und 70 (14,3 %) geschieden oder verwitwet; eine feste Partnerschaft gaben 199 (40,9 %) an. Als höchsten erreichten Schulabschluss berichteten 129 Patienten das Abitur (26,5 %), 190 die mittlere Reife oder vergleichbare Abschlüsse (39,0 %), 132 den Hauptschulabschluss (2,1 %); die übrigen 36 Patienten (7,4 %) machten entweder keine Angaben (n = 4), waren noch in der Schule (n = 7), hatten einen Sonderschulabschluss erreicht (n = 22) oder die Schule ohne Abschluss verlassen (n = 3).

Der Anteil an Patienten mit DES-28-Werten ≥ 30 betrug 33,9 %; DES-T-Werte ≥ 20 fanden sich bei 37,6 % der Patienten, und zum Typus der pathologischen Dissoziation (DES-Taxon) gehörten 26,1 % der Patienten. Die Übereinstimmung der verschiedenen Indizes war durchweg hoch und schwankte zwischen κ = 0,66 und κ = 0,77(Tab. 1).

Tab. 1 Häufigkeit der Indizes für pathologische Dissoziation und deren Übereinstimmung (Cohens κ)

Dissoziation war sowohl mit allgemeiner Psychopathologie (PHQ-D) als auch Borderline-typischer (BSL-95) Symptomatik assoziiert: Patienten mit klinisch relevant ausgeprägter Dissoziation (d. h. DES-28-Wert ≥ 30 bzw. DES-T-Wert ≥ 20 bzw. Zugehörigkeit zum Taxon) hatten durchweg signifikant höhere Werte im PHQ‑D und der BSL-95 als Patienten mit gering ausgeprägter Dissoziation (Tab. 2). Die Unterschiede erreichten durchweg mittlere bis hohe Effektstärken (mit Ausnahme der BSL-Subskala Dysphorie). Die Korrelationskoeffizienten zwischen den kontinuierlich verteilten DES-28-Werten und PHQ-D- sowie BSL-95-Werten waren numerisch durchgängig höher als diejenigen der DES‑T, allerdings waren diese Unterschiede nicht signifikant (Ergebnisse aus Platzgründen nicht dargestellt).

Tab. 2 Allgemeine Psychopathologie (PHQ) und Borderline-Symptomatik (BSL) im Vergleich zwischen hoch- und niedrigdissoziativen Patienten mit BPS, differenziert nach verschiedenen Dissoziationsindizes

Die prädiktive Bedeutung von Dissoziation auf allgemeine (PHQ-D) und Borderline-typische Symptomatik (BSL-95) bei Entlassung nach mindestens 6‑wöchiger Behandlungsdauer ist in Tab. 3 dargestellt: Der Einfluss der kontinuierlichen DES-28-Werte bei Aufnahme auf die PHQ- und BSL-95-Werte bei Entlassung kann aus Spalte 2 abgelesen werden, die Bedeutung der kontinuierlichen DES-T-Werte aus Spalte 3. Die Befunde zu den dichotomen Indizes DES-28-Wert ≥ 30, DES-T-Wert ≥ 20 und Zugehörigkeit zum Taxon sind in den letzten 3 Spalten ersichtlich. Erwartungsgemäß zeigte sich, dass Dissoziation das symptombezogene Therapieergebnis negativ beeinflusste. Die kontinuierlichen DES-T-Werte hatten einen stärkeren negativen Effekt auf die Mehrzahl der Ergebnismaße als die kontinuierlichen DES-28-Werte. Bei den 3 dichotomen Indizes von klinisch relevant ausgeprägter Dissoziation hatte ein DES-T-Wert ≥ 20 durchweg die höchste prädiktive Bedeutung.

Tab. 3 Einfluss von Dissoziation auf das Behandlungsergebnis, differenziert nach verschiedenen Dissoziationsindizes

Diskussion

Während das eher unscharf definierte Konstrukt der Dissoziation bei der BPS intensiv untersucht worden ist (Übersichten: Korzekwa et al. 2009; Scalabrini et al. 2017), gibt es kaum Ansätze, die das klarer ausgearbeitete Konzept der pathologischen Dissoziation auf diesen Kontext übertragen haben. Daher zielte die vorliegende Studie darauf ab, deren Häufigkeit bei der BPS zu bestimmen, Zusammenhänge zwischen pathologischer Dissoziation und allgemeiner sowie Borderline-typischer Symptomatik sowie ihre prädiktive Bedeutung für das Behandlungsergebnis zu untersuchen. Zudem ging es darum, verschiedene Indizes von klinisch relevant ausgeprägter Dissoziation hinsichtlich ihrer klinischen Anwendbarkeit und Nützlichkeit zu vergleichen.

In einer vorherigen Studie (Zanarini et al. 2008) mit 290 stationären BPS-Patienten berichteten 26,2 % über schwere dissoziative Symptome (operationalisiert über DES-28-Werte ≥ 30), was zwar nicht deckungsgleich ist, aber einer ähnlichen Größenordnung des hier berichteten Befundes von 33,9 % entspricht. In einer anderen Studie mit 30 ambulanten und stationären BPS-Patienten fand sich pathologische Dissoziation (kategorial operationalisiert über DES-T-Taxon) bei einem Drittel (Haaland und Landrø 2009), was wiederum die 26,1 % in der vorliegenden Studie übersteigt. Dennoch lässt sich vorläufig schlussfolgern, dass ca. zwischen einem Viertel und einem Drittel aller BPS-Patienten unter klinisch relevanter Dissoziation leiden. Die verschiedenen Operationalisierungen führen zu unterschiedlichen Häufigkeiten mit einer Spannbreite von 26,1 bis zu 37,6 % in der vorliegenden Studie, zeigen jedoch überdurchschnittlich gute Übereinstimmungen (κ zwischen 0,66 und 0,77).

Die Studie legt eine Assoziation von Dissoziation mit allgemeiner und Borderline-typischer Symptomatik nahe: Hochdissoziative BPS-Patienten (unabhängig von der jeweiligen Operationalisierung) wiesen eine signifikant stärker ausgeprägte Symptomatik auf als niedrigdissoziative BPS-Patienten, wobei die korrespondierenden Effektstärken auf mittlere bis große Unterschiede hindeuten (mit Ausnahme der BSL-95-Subskala Dysphorie). Andere Studien hatten bereits eine Assoziation von Dissoziation und Selbstverletzungen bzw. Suizidversuchen herausgearbeitet (Zanarini et al. 2011; Wedig et al. 2012; Korzekwa et al. 2009), korrespondierend zur BSL-95-Subskala Autoaggression, die in der vorliegenden Studie in mittlerer Größe mit Dissoziation assoziiert war. Die stärkste Assoziation fand sich für die BSL-95-Subskala Intrusionen: Dies könnte einerseits an überlappenden Iteminhalten liegen, andererseits darauf beruhen, dass BPS-Patienten mit pathologischer Dissoziation häufiger (biografisch frühe) traumatische Erfahrungen gemacht haben als jene ohne, was psychopathologisch in Intrusionen und dissoziativen Symptomen zum Ausdruck kommen könnte. Für die letzte Vermutung spricht die mehrfach berichtete enge Assoziation zwischen Traumatisierungen und Dissoziation bei der BPS (Übersicht: Korzekwa et al. 2009).

In Übereinstimmung mit anderen Studien (Kleindienst et al. 2011, 2016; Wilfer et al. im Druck) erwies sich in dieser Studie Dissoziation als negativer Prädiktor für das symptombezogene Behandlungsergebnis am Ende einer stationären DBT. Dieser Befund gilt gleichermaßen für die allgemeine und für die Borderline-typische Symptomatik. Interessanterweise war pathologische Dissoziation sowohl als dimensionales wie auch als kategoriales Maß stärker mit einem ungünstigeren Therapieergebnis assoziiert als generelle Dissoziation. Innerhalb der verschiedenen kategorialen Indizes war ein DES-T-Wert ≥ 20 der stärkste negative Prädiktor. Da dieser Parameter auch mit den anderen Indikatoren für ausgeprägte Dissoziation ausreichend hoch übereinstimmte, könnte er sich aus klinischer Perspektive als ein schnell zu erfassendes und nützliches Kriterium erweisen, um BPS-Patienten hinsichtlich ihrer Dissoziationsneigung zu charakterisieren. Wird dieser Index angewandt, ergeben sich Differenzen in allgemeiner und Borderline-typischer Symptomatik zwischen hoch- vs. niedrigdissoziativen BPS-Patienten, deren Effektstärken sich nur wenig von denen unterscheiden, die bei Anwendung der anderen Indikatoren gefunden wurden. Auch andere Autoren (Waller und Ross 1997; Waller et al. 2001) halten die kurze DES‑T für ein anwendungsfreundlicheres und klinisch hilfreicheres Verfahren als die wesentlich längere DES-28.

Als Stärken der vorliegenden Studie sind die Größe und Repräsentativität der Stichprobe bezüglich zentraler soziodemografischer und klinischer Merkmale wie Alter, Geschlechterverhältnis, Ausmaß von Dissoziation und genereller Symptombelastung zu Therapiebeginn hervorzuheben (Kliem et al. 2010; Kröger et al. 2013; Zanarini et al. 2008; Scalabrini et al. 2017). Gleichwohl müssen auch methodenkritische Schwächen diskutiert werden. Dazu zählt insbesondere die ausschließliche Anwendung von Selbstbeurteilungsverfahren als Ergebnismaße; zukünftige Ansätze sollten daher zusätzlich fremdbeurteilte Zielparameter wie z. B. das psychosoziale Funktionsniveau, Suizidalität und Selbstverletzung berücksichtigen. Auch die Relevanz von evtl. Geschlechtereffekten sollte untersucht werden, da es erste Hinweise darauf gibt, dass Dissoziation bei Frauen einen negativen Prädiktor für das Behandlungsergebnis darstellen könnte, während dies bei Männern nicht der Fall zu sein scheint (Wilfer et al. im Druck). Ob pathologische Dissoziation auch ein Prädiktor für Therapieabbrüche und schlechtere Ergebnisse bei anderen evidenzbasierten Behandlungsansätzen für die BPS ist, wäre ebenfalls eine relevante Forschungsfrage. Abschließend ist zudem hervorzuheben, dass sich unsere Befunde auf stationäre BPS-Patienten beziehen, sodass deren Übertragbarkeit auf teilstationäre und ambulante Settings offen bleiben muss. Jenseits aller Methodenkritik und Vorläufigkeit unserer Ergebnisse untermauert diese Studie in Übereinstimmung mit anderen Befunden (Stiglmayr et al. 2008; Korzekwa et al. 2009; Scalabrini et al. 2017; Chung et al. 2020; Kleindienst et al. 2011, 2016; Wilfer et al. im Druck), dass ein Screening auf Dissoziation zu Behandlungsbeginn sinnvoll ist, weil ein hohes Ausmaß dissoziativer Psychopathologie auf einen höheren Schweregrad der BPS, selbstverletzendes Verhalten, reduzierte Schmerzsensitivität und stressinduzierte Analgesie, hohe Inanspruchnahme des Gesundheitssystems und einen potenziell ungünstigen Behandlungsverlauf verweist.

Fazit für die Praxis

  • Pathologische Dissoziation kann als Orientierungshilfe zur Abschätzung des Schweregrads einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und des Risikos für autoaggressive Handlungen dienen.

  • Sie kann über die Dissociative Experiences Scale – Taxon (DES-T) als einfaches und leicht anwendbares Selbstbeurteilungsverfahren unkompliziert erfasst werden. Für die klinische Praxis kann ein DES-T-Schwellenwert ≥ 20 empfohlen werden.

  • Der Vorschlag, alle BPS-Patienten mit der DES-28 zu screenen, erscheint vor dem Hintergrund der dargestellten Befundlage sinnvoll – allerdings ist ein Screening mit der wesentlich kürzeren DES‑T nicht nur anwendungs- und auswertungsfreundlicher, sondern auch mindestens ebenso informativ, hinsichtlich der Assoziation mit allgemeiner und Borderline-typischer Symptomatik sowie der prädiktiven Bedeutung für das Behandlungsergebnis.