Essstörungen gelten als schwerwiegende Erkrankungen mit hohen Chronifizierungsraten und langen Behandlungszeiten (Briegel et al. 2018). Auch subklinische Formen von Essstörungen bergen ein hohes Risiko für die Entwicklung einer manifesten Erkrankung, weshalb eine frühzeitige Diagnostik und Untersuchung von auffälligem Essverhalten und zugrunde liegenden Faktoren sinnvoll sind (Fichter 2015). Ein bedeutsamer Aspekt während der psychodynamischen Diagnostik und Behandlungsplanung stellt bei PatientenFootnote 1 mit Essstörungen, ebenso wie bei Patienten mit anderen psychischen Erkrankungen, die Erfassung der psychischen Struktur dar.

Theoretischer Hintergrund

Die aktuelle Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) definiert Struktur als die „Verfügbarkeit über psychische Funktionen in der Regulierung des Selbst und seiner Beziehung zu den inneren und äußeren Objekten“ (Arbeitskreis OPD 2014, S. 225). Zwischen dem psychodynamischen Strukturbegriff und Persönlichkeitsaspekten sowie Persönlichkeitsstörungen bestehen große Überschneidungen (Spitzer 2004).

Bei Patienten mit Essstörungen wurden bereits bestimmte akzentuierte Persönlichkeitseigenschaften beschrieben. So zeigen sich Patienten mit Anorexia nervosa häufig introvertiert, konfliktvermeidend und perfektionistisch (Dahlenburg et al. 2019). Zudem offenbaren sich bei ihnen ein geringer Selbstwert und eine eingeschränkte Emotionsregulationsfähigkeit (Hartmann et al. 2014). Ferner berichten Studien über ein unsicheres Bindungsverhalten (Pace et al. 2016). Zu dem Zusammenhang zwischen Essstörungen, deren Ausprägung und OPD-Struktur liegen bisher allerdings sehr wenige empirische Befunde vor. In einer Studie an 60 erwachsenen Patienten mit Essstörungen wurden die Werte einer Kontrollgruppe deutlich übertroffen (Rohde et al. 2019; Ehrenthal et al. 2012). Einige Studien belegen den Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und strukturellen Funktionen – auch bei Adoleszenten, wobei davon ausgegangen wird, dass Einschränkungen der strukturellen Funktionen das Risiko für die Entwicklung von psychischen Störungen erhöht (Huber et al. 2017). Bisher liegen jedoch keine spezifischen Untersuchungen zur psychischen Struktur bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen mit Essstörungen vor, obwohl dies für die Einordnung klinischer Befunde bei diesen Patienten wünschenswert wäre.

Das Ziel dieser Studie besteht daher in der Beschreibung struktureller Funktionen bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen mit unterschiedlicher Ausprägung von Essstörungssymptomatik. Es wird erwartet, dass sich die selbstberichtete OPD-Struktur zwischen 3 Gruppen mit keiner, geringer und ausgeprägter selbstberichteter Essstörungssymptomatik unterscheidet.

Material und Methoden

Stichprobe

Die Probandinnen wurden 2018 online auf sozialen Plattformen (Facebook und Instagram) rekrutiert. Darunter befanden sich auch Foren oder Profile, die sich mit den Themen Körperideale, Essstörungen oder Abnehmen beschäftigten. Die Daten wurden elektronisch mithilfe der Analyseplattform QuestionPro (www.questionpro.com/de) erhoben. Vor der Befragung wurden die Probandinnen über die Studie, die Freiwilligkeit der Teilnahme sowie den Datenschutz informiert. Per Button musste bestätigt werden, dass die Aufklärung gelesen und verstanden wurde sowie das Einverständnis zur Studienteilnahme erfolgt. Bei Minderjährigen wurde zusätzlich das Einverständnis der Eltern erfragt, indem per Klick bestätigt wurde, dass die Eltern die Studienaufklärung gelesen und einer Teilnahme zugestimmt haben. Da das Ziel der vorliegenden Studie in der Untersuchung von anorektischer Essstörungssymptomatik und psychischer Struktur bei Adoleszenten bzw. jungen Erwachsenen lag, wurden als Einschlusskriterien ein Alter zwischen 14 und 25 Jahren sowie ein Body-Mass-Index (BMI) im unter- oder im normalgewichtigen Bereich festgelegt. Insgesamt beantworteten 167 Probandinnen den kompletten Fragebogen, wobei 24 aufgrund eines BMI ≥25 kg/m2 aus den Analysen ausgeschlossen wurden.

Diagnostische Verfahren

Strukturiertes Inventar für Anorektische und Bulimische Essstörungen

Das Strukturierte Inventar für Anorektische und Bulimische Essstörungen (SIAB; Fichter und Quadflieg 1999) dient der Diagnostik klinischer Essstörungen. In der vorliegenden Studie wurden Fragen bzw. Items zu den Kerndiagnosekriterien einer Anorexia nervosa gemäß Internationaler Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10; Dilling et al. 2011) sowie in Anlehnung an das SIAB verwendet und per Selbstbericht von den Probanden beantwortet (Tab. 1). Für den Zweck der vorliegenden Studie wurden die Probandinnen im Anschluss in die 3 Gruppen „keine anorektische Essstörungssymptomatik“ (0 von 4 Kriterien; „K-AN“), „geringe anorektische Essstörungssymptomatik“ (1–2 von 4 Kriterien; „G-AN“) und „ausgeprägte anorektische Essstörungssymptomatik“ (3–4 von 4 Kriterien; „A-AN“) unterteilt. Probandinnen mit einer Vordiagnose einer Essstörung wurden von der ersten Gruppe ausgeschlossen (n = 2). Die beiden letzten Gruppen wurden im Kontext dieser Studie als subklinische Formen von Essstörungen aufgefasst, da mindestens ein Symptom der Kerndiagnosekriterien einer Anorexia nervosa gemäß ICD-10 (Dilling et al. 2011) erfüllt war. Psychometrische Daten des SIAB hinsichtlich der Reliabilität, der internen Konsistenz der Subskalen und der konvergenten Validität können als gut betrachtet werden (Fichter und Quadflieg 1999).

Tab. 1 Kerndiagnosekriterien der Anorexia nervosa (ICD-10) und zugehörige adaptierte Fragen bzw. Items in Anlehnung an das SIAB

Eating Disorder Inventory

Zur Erhebung essstörungsspezifischer und allgemeiner Psychopathologie wurde die gekürzte Version des Eating Disorder Inventory (EDI‑2; Paul und Thiel 2005) verwendet. Es erfasst 8 Skalen („Schlankheitsstreben“, „Bulimie“, „Unzufriedenheit mit dem Körper“, „Ineffektivität“, „Perfektionismus“, „Misstrauen“, „Interozeptive Wahrnehmung“, „Angst vor dem Erwachsenwerden“). Psychometrische Daten hinsichtlich Reliabilität und Validität des EDI‑2 können als befriedigend bis gut betrachtet werden (Kappel et al. 2012).

Fragebogen zur Strukturachse der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik

Zur Erhebung der psychischen Struktur wurde der Fragebogen zur Strukturachse der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik verwendet (OPD-SF; Ehrenthal et al. 2012). Der Fragebogen umfasst 8 Hauptskalen, mit denen 21 der 24 Subskalen der OPD-Strukturachse abgedeckt werden können (siehe Zusatzmaterial Tab. 1 in Ehrenthal et al. 2012). Zusätzlich wird ein Gesamtwert der Struktur über alle Skalen hinweg gebildet. Hohe Werte sprechen für eine hohe Beeinträchtigung der psychischen Struktur. Die interne Konsistenz der Skalen beträgt zwischen α = 0,72 und α = 0,91 (Cronbachs α) und kann demnach als befriedigend bis sehr gut eingeschätzt werden. Der OPD-SF ist zur Anwendung ab einem Alter von 13 Jahren geeignet (Bock et al. 2018).

Statistische Datenanalyse

Die Stichprobencharakteristika (Alter, BMI) der 3 Gruppen (K-AN, G‑AN, A‑AN) wurden mithilfe einfaktorieller univariater Varianzanalysen (ANOVAs) verglichen. Häufigkeitsanalysen bezüglich möglicher Vordiagnosen und (aktueller und/oder vergangener) psychotherapeutischer Behandlungen erfolgten mithilfe des χ2-Tests sowie paarweisen Post-hoc-Tests. Gruppenunterschiede hinsichtlich der allgemeinen und der essstörungsspezifischen Psychopathologie wurden mithilfe von ANOVAs (Skalen des EDI‑2 als abhängige Variablen) berechnet, „da die einzelnen Subskalen relativ unabhängige Merkmale widerspiegeln“ (Paul und Thiel 2005, S. 16). Für den OPD-SF kam/en eine einfaktorielle univariate Kovarianzanalyse (ANCOVA, Gesamtwert des OPD-SF als abhängige Variable) bzw. multivariate Kovarianzanalyse für die Strukturdimensionen des OPD-SF (MANCOVA, Skalen des OPD-SF als abhängige Variablen) zum Einsatz, wobei das Alter sowie Vorliegen von Vordiagnosen und psychotherapeutischen (Vor)Behandlungen als Kovariaten berücksichtigt wurden. Diese Aspekte wurden auf der Grundlage vorhandener Literatur als mögliche Einflussvariablen auf die OPD-Struktur identifiziert (Arbeitskreis OPD-KJ‑2 2014; Spitzer 2004). Sämtliche varianzanalytischen Berechnungen wurden einer Post-hoc-Analyse unter Zuhilfenahme des Tukey-B-Verfahrens unterzogen, sodass einer – im Rahmen vom multiplen Testen zu erwartenden – α‑Fehler-Inflation begegnet wurde (Field 2013). Die Voraussetzungen für die Durchführung varianzanalytischer Verfahren waren erfüllt (insbesondere hinreichende Normalverteilung, Homoskedastizität, Linearität, keine Ausreißer; Field 2013). Das Effektstärkemaß (ES) wurde mithilfe des partielles Eta-Quadrats (η2part) angegeben; zudem wurden die jeweiligen Konfidenzintervalle berechnet. Die Klassifikation der ES erfolgte für η2part mit η2part = 0,01 klein, η2part = 0,06 mittel und η2part = 0,14 groß. In einem weiteren Schritt wurden korrelative Zusammenhänge zwischen dem EDI‑2 und OPD-SF untersucht. Die genannten Kovariaten wurden abermals im Rahmen einer Partialkorrelation berücksichtigt. Die Korrelationshöhen wurden wie folgt eingeordnet: r = 0,1 gering, r = 0,3 mittel und r = 0,5 hoch. Die Interpretation sämtlicher ES erfolgte nach Cohen (1988). Das Signifikanzniveau wurde a priori auf α = 0,05 festgelegt. Die statistischen Berechnungen erfolgten mithilfe von IBM SPSS (Version 25.0).

Ergebnisse

Deskriptive Ergebnisse

38 Probandinnen wiesen keines der Kerndiagnosekriterien einer Anorexia nervosa auf und fielen damit in die Gruppe „K-AN“, 68 Probandinnen erfüllten eines bis zwei der Kerndiagnosekriterien und wurden damit der Gruppe „G-AN“ zugeordnet und 35 Probandinnen erfüllten drei bis vier der Kerndiagnosekriterien und zählten damit zur Gruppe „A-AN“. Die drei Gruppen unterschieden sich signifikant hinsichtlich Alter und BMI sowie dem Vorliegen von Vordiagnosen und psychotherapeutischen (Vor)Behandlungen bei großen Effektstärken für Alter und BMI (Tab. 2). Erwartungsgemäß ergaben sich darüber hinaus auf sämtlichen Skalen des EDI‑2 signifikante Gruppenunterschiede mit durchweg großen Effekten bei einer Spannweite von η2part = ,151 bis ,614 (Zusatzmaterial online: Tab. 4).

Tab. 2 Deskriptive Ergebnisse (Alter, Body-Mass-Index [BMI], Vordiagnosen, psychotherapeutische [Vor]Behandlungen)

Psychische Struktur

Das MANCOVA-Modell der OPD-SF-Skalen offenbarte signifikante Unterschiede zwischen den 3 Gruppen (F (16, 254) = 2,557; p = 0,001; η2part = 0,139; Wilk’s λ = 0,742). Auch nach Kontrolle der Kovariaten ergaben sich auf den einzelnen Skalen der Strukturdimensionen des OPD-SF sowie bezüglich des Gesamtwerts deutliche Unterschiede zwischen den 3 Gruppen mit durchweg signifikanten Befunden. Eine Ausnahme bildete die Strukturdimension Regulierung des Objektbezugs. Hierbei ergaben sich nach Kontrolle der Kovariaten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen. Die Gruppe A-AN zeigte auf sämtlichen berichteten Skalen und dem Gesamtwert des OPD-SF höhere Werte. Es wurden kleine bis große Effektstärken deutlich, die sich zwischen η2part = 0,044 (Objektwahrnehmung) und 0,139 (Bindungsfähigkeit an innere Objekte) bewegten (Tab. 3; Zusatzmaterial online: Abb. 1).

Tab. 3 Psychische Struktur (OPD-SF; MANCOVA [Skalen des OPD-SF] bzw. ANCOVA [Gesamtwert des OPD-SF]); Kovariaten: Alter, Vordiagnose, psychotherapeutische [Vor]Behandlungen)

Zusammenhang zwischen essstörungsspezifischer sowie allgemeiner Psychopathologie und psychischer Struktur

Sämtliche Skalen des OPD-SF standen – auch nach Kontrolle der Kovariaten – in einem signifikant positiven Zusammenhang mit den Skalen des EDI‑2, bei als gering bis hoch zu klassifizierenden Korrelationen (Zusatzmaterial online: Tab. 5).

Diskussion

Ergebnisinterpretation und Literaturvergleich

In der vorliegenden Studie wurde die psychische Struktur gemäß OPD bei weiblichen Adoleszenten und jungen Erwachsenen mit unterschiedlich ausgeprägter anorektischer Essstörungssymptomatik in einer Onlinestichprobe untersucht. Hierbei ergaben sich signifikante Unterschiede bei überwiegend mittleren bis hohen Effektstärken zwischen den 3 Gruppen auf 7 von 8 OPD-SF-Skalen sowie in Bezug auf den OPD-SF-Gesamtwert. Einzig auf der Skala der Regulierung des äußeren Objektbezugs offenbarten sich keine signifikanten Gruppenunterschiede. Es ist denkbar, dass bereits innerhalb der anorektischen Essstörungssymptomatik der Objektbezug so reguliert wird, dass betroffene Probandinnen diesbezüglich keine Probleme wahrnehmen (Reich und v. Boetticher 2017). Zudem zeigten sich geringe bis hohe Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Dimensionen der OPD-Struktur und essstörungsspezifischer Psychopathologie. Die Durchschnittswerte der OPD-SF-Struktur waren in Bezug auf sämtliche Strukturdimensionen und auch den Gesamtwert in allen 3 Gruppen höher als in vergleichbaren Stichproben (Bock et al. 2018; Ehrenthal et al. 2012).

Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen nur in Teilen die bisherigen Forschungsbefunde, da die Werte aller Gruppen deutlich über den Vergleichswerten lagen. So gaben beispielsweise Probandinnen der A‑AN-Gruppe auf allen OPD-Skalen höhere Werte an als Patienten in der Studie von Rohde et al. (2019). Auf einigen OPD-SF-Skalen fanden sich sogar höhere Werte bei Probandinnen der G‑AN-Gruppe als bei den Patienten mit manifester Essstörung in der Untersuchung von Rohde et al. (2019). Im Vergleich zu den Kontrollgruppen der Studien von Ehrenthal et al. (2012) sowie Bock et al. (2018) zeigten sich ebenfalls in allen hier erhobenen Gruppen deutlich höhere Werte. Da diese Unterschiede systematisch sind, stehen die hohen Werte möglicherweise im Zusammenhang mit dem methodischen Vorgehen. Die Daten der vorliegenden Studie wurden im Gegensatz zu allen bisherigen Studien zum OPD-SF nach Rekrutierung über Plattformen für soziale Medien generiert. Neben den Einschränkungen dieser Erhebungsvariante (s. Abschn. „Stärken und Schwächen“), existieren Spezifika, die die hohen Werte aller Gruppen erklären könnten. Zum einen kommt es mithilfe computergestützter Befragungen zu einer geringeren sozialen Präsenz, die die perzipierte Anonymität vergrößert und zu einer verminderten Bewertungsangst und stärkeren Selbstoffenbarung führt (Taddicken 2009). Berger (2018) argumentiert, dass es anhand des Onlineenthemmungseffekts (Vermeidung physischer Nähe, Blickkontakt und Mimik) zu einer intimeren Kommunikation komme. Zum anderen wird berichtet, dass sozial erwünschtes Antwortverhalten geringer ausgeprägt ist (Taddicken 2009). Bei den Probandinnen handelt es sich um eine Altersgruppe, für die die Nutzung digitaler Medien und sozialer Netzwerke einen hohen Stellenwert einnimmt (Lepkowsky und Arndt 2019) und für die die perzeptive Anonymität und der damit verbundene Onlineenthemmungseffekt eine größere Rolle als für erwachsene Probanden spielen könnten. Zum anderen könnten – aufgrund des ausgeprägten Perfektionismus sowie der vermeintlichen sozialen Anpassung und des damit verbundenen sozial erwünschten Antwortverhaltens (Dahlenburg et al. 2019) – bisherige Erhebungen im klassischen „face-to-face setting“ Verzerrungen aufweisen und die OPD-SF-Werte unterschätzen. Darüber hinaus könnte die Erhebung über soziale Medien, einschließlich spezieller Foren und Gruppen, die sich mit Essstörungen beschäftigen, zu einem Selektionsbias geführt haben, der besonders auf die Gruppe ohne selbstberichtete Essstörungssymptomatik zutrifft (K-AN). Letztlich sind diese Thesen jedoch aus den vorliegenden Daten nicht belegbar, weshalb weitere Untersuchungen notwendig sind, bevor endgültige Aussagen in Bezug auf Effekte von Onlineerhebungen über soziale Netzwerke getroffen werden können.

Stärken und Schwächen

Zunächst ist zu erwähnen, dass es sich bei der vorliegenden Studie um eine Querschnittsstudie handelt, wodurch nur begrenzt Rückschlüsse auf bestimmte Stadien von Essstörungen oder psychische Struktur – Aspekte, die sich longitudinal verändern – gezogen werden können. Um langfristige und kausale Aussagen über die Entwicklung der psychischen Struktur und erhöhter Essstörungssymptomatik sowie deren Zusammenwirken treffen zu können, benötigt es längsschnittliche Studien. Kritisch betrachtet werden muss ferner die geringe Fallzahl bei den Probandinnen der A‑AN- sowie K‑AN-Gruppe im Vergleich zu der G‑AN-Gruppe. Zudem muss bedacht werden, dass die Kerndiagnosekriterien einer Anorexia nervosa mithilfe von Fragen operationalisiert wurden, die an das SIAB angelehnt sind, für dessen abgewandelte Form jedoch keine Validierung stattgefunden hat. Insofern können – aufgrund des methodischen Designs – keine Aussagen zur psychischen Struktur bei klinisch diagnostizierten Patienten mit Anorexia nervosa getätigt werden. Darüber hinaus kann eine mögliche Stichprobenverzerrung aufgrund des „Coverage“-Effekts (d. h., dass bestimmte Gruppen im Internet besser erreichbar sind als andere) nicht ausgeschlossen werden. Dennoch bleibt zu erwähnen, dass insbesondere die Vorteile einer Onlinediagnostik bei bestimmten psychischen Störungsbildern, wie z. B. Essstörungen, beachtet werden müssen. Es handelt sich um ein Störungsbild, das sich typischerweise in der Adoleszenz (Briegel et al. 2018) und damit einer Altersgruppe manifestiert, für die die Nutzung digitaler Medien selbstverständlich erscheint (Lepkowsky und Arndt 2019). Zum anderen weisen Patienten mit Essstörungen häufig eine Krankheitsverleugnung auf, zeigen sich angepasst und antworten stark sozial erwünscht, weshalb hier die perzeptive Anonymität und der damit verbundene Onlineenthemmungseffekt einen positiven Effekt haben könnten.

Fazit für die Praxis

  • Neben dem manifesten Ausbruch einer Essstörungssymptomatik kann es zu subklinischen Formen essgestörten Verhaltens kommen.

  • Es zeigen sich deutliche Einschränkungen in der psychischen Struktur bei Probandinnen ohne klinisch diagnostizierte, jedoch mit selbstberichteter Essstörungssymptomatik.

  • Im Rahmen von Onlinemethodiken könnten Betroffene niedrigschwellig erreicht sowie Interventionen und Hilfsangebote offeriert werden, die neben der leitliniengerechten Therapie auch auf die strukturellen Defizite fokussieren.