Editorische Vorbemerkung

Die vom Gesetzgeber im vergangenen Jahr verabschiedete Reform der Psychotherapieausbildung hat zur Folge, dass die bestehenden Psychologie-Bachelor- und Psychologie-Master-Studiengänge an die neuen Regelungen angepasst werden müssen. Dadurch werden auch neue Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung der Psychotherapie geschaffen. Bei der Frage, wie die Psychotherapie der Zukunft aussehen soll, wird kaum ein Thema so kontrovers diskutiert wie die Rolle der Verfahrensvielfalt in Forschung, Aus- und Weiterbildung.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie und der Fakultätentag Psychologie haben aus diesem Anlass Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Psychotherapierichtungen und Interessensgruppen (einschließlich Vertreterinnen und Vertretern medizinischer Verbände, des Wissenschaftlichen Beirats, der Bundesärzte- und Bundespsychotherapeutenkammer; Abb. 1) am 24. und 25.10.2019 zu einem konstruktiven Dialog eingeladen. Als Ergebnis dieses Symposiums wurden 20 Thesen zur Zukunft der Psychotherapie formuliert, die im Anhang dargestellt sind. Zusätzlich wurden erste Ideen zusammengetragen, wie sich Aspekte der Verfahrensvielfalt strukturell weiterentwickeln lassen.

Abb. 1
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Teilnehmer/-innen des Symposiums „Zukunft und Vielfalt der Psychotherapie“, 24. und 25.10.2019 in Osnabrück. (Foto: Roman Osinsky)

Nachfolgend werden die sog. Osnabrücker Thesen wiedergegeben, einschließlich der Angaben zu jenen Personen, die an dem Dialog teilgenommen haben. Hier wird deutlich, dass sich nicht alle dazu durchringen konnten, die Thesen zu unterzeichnen – teilweise aus inhaltlichen Gründen, teilweise weil sie Gruppierungen repräsentieren, deren Zustimmung zu dem Papier kurzfristig gar nicht einzuholen gewesen wäre.

Wichtig ist der Hinweis, dass die im Anhang gelisteten Ideen keineswegs einen Diskussionskonsens darstellen, sondern als Anregung für weitere Diskussionen gedacht sind, die gern auch in der Zeitschrift Psychotherapeut im Sinne von Leserbriefen oder Stellungnahme willkommen sind.

Für die Herausgeber: Bernhard Strauß

Osnabrücker Thesen zur Psychotherapie

Verabschiedet im Schloss zu Osnabrück, 25.10.2019Footnote 1 – Ergebnis des Symposiums „Zukunft und Vielfalt der Psychotherapie“.

Präambel.

Das Symposium „Zukunft und Vielfalt der Psychotherapie“ wurde vom Fakultätentag Psychologie und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie organisiert. Zielsetzung war es, prominente Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Psychotherapierichtungen und Interessensgruppen zu einem konstruktiven Dialog über Zukunft und Vielfalt der Psychotherapie einzuladen und nach Möglichkeit konsentierte Thesen zu erarbeiten. Anlässlich der Reform des Psychotherapeutengesetzes und der damit verbundenen kontroversen Diskussionen um die Verfahrensvielfalt in der psychotherapeutischen Forschung, Aus- und Weiterbildung wurde die Notwendigkeit eines solchen Dialogs deutlich. Aus den Diskussionen des Symposiums gingen hervor:

  • die hier vorgestellten Thesen zu „Zukunft und Vielfalt in der Psychotherapie“,

  • ein Anhang, der erste zusammengestellte Möglichkeiten zur Förderung von zukunftsrelevanten Themen und eines therapeutischen Pluralismus auflistet. Diese Vorschläge stellen keine konsentierten Abschlusspositionen dar, sondern eine Sammlung zum Beginn einer weiterzuführenden Diskussion zur Entwicklung der Vielfalt der Psychotherapie in Forschung, Aus- und Weiterbildung.

Vision

  1. 1.

    Die Zukunft der Psychotherapie hat begonnen: Es besteht jetzt eine große Chance, das Feld fachlich weiterzuentwickeln.

  2. 2.

    Im Jahr 2050 sollte die Entwicklung eines gemeinsamen „core knowledge“ (Kompetenzen, Wissen, Methodik) und einer gemeinsamen Sprache in der Psychotherapie fortgeschritten sein.

  3. 3.

    Um das zu erreichen, ist die kontinuierliche und systematische Zusammenarbeit unterschiedlich spezialisierter Kollegen/Kolleginnen in Forschung, Praxis und Ausbildung wichtig.

  4. 4.

    Psychotherapieverfahren (im Sinne der Psychotherapierichtlinie) haben ihre historische Bedeutung und können zur Orientierung sinnvoll sein. Eine zu enge Definition von Verfahrensgrenzen ist für eine wissenschaftlich fundierte Weiterentwicklung (Ausbildung, Forschung, Versorgung) der Psychotherapie nicht hilfreich.

  5. 5.

    Vielfalt in der Entwicklung der Psychotherapie ist wichtig und förderungswürdig.

Forschung und Versorgung

  1. 6.

    In der psychotherapeutischen Praxis und Forschung ist eine stärkere Orientierung an der funktionalen Gesundheit/Teilhabe (im Sinne der Internationalen Klassifikation der funktionalen Gesundheit, Behinderung und Gesundheit [International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF] der WHO) wichtig.

  2. 7.

    Die Angebots- und Anreizstrukturen der Psychotherapie sollten sich stärker am Versorgungsbedarf ausrichten.

  3. 8.

    Es wird eine stärkere Orientierung auf bislang vernachlässigte Gruppen nahegelegt, insbesondere Menschen mit chronischen (körperlichen) Erkrankungen, Menschen mit körperlichen und intellektuellen Behinderungen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen im höheren Lebensalter, dissoziale Jugendliche, Kleinstkinder, bildungsferne Schichten, Heimbewohner, Bewohner (anderer) geschlossener Einrichtungen.

  4. 9.

    Informationen/Daten aus Routineversorgung, Modellprojekten und Implementierungsforschung sollen verstärkt als Quelle der Weiterentwicklung genutzt werden. In der Psychotherapie sollten mehr größere Verbundprojekte angestrebt werden.

  5. 10.

    Forschung zu differenzieller Indikationsstellung/Bedarfsfeststellung ist sinnvoll und sollte spezifisch gefördert werden (Wer braucht was wann für wie lange? Was sind Prädiktoren, Mediatoren und Moderatoren von Therapieverläufen?)

  6. 11.

    Der Austausch zwischen psychologischer Grundlagen‑, Diagnostik- und Interventionsforschung sollte gestärkt werden.

  7. 12.

    Der Austausch zwischen Psychotherapieforschung und -praxis (Forschungspraxen, Prävention, Rehabilitation) sollte gestärkt werden.

Aus‑, Fort- und Weiterbildung

  1. 13.

    Aus- und Weiterbildung sollen zum lebenslangen Lernen befähigen.

  2. 14.

    In Studium, Weiter- und Fortbildung ist die Orientierung an der wissenschaftlichen Empirie notwendig.

  3. 15.

    Digitalisierung und neue Technologien haben eine zunehmende Bedeutung und müssen in der Psychotherapie verstärkt berücksichtigt werden. Kompetenzen, Chancen und Risiken sind in der Aus- und Weiterbildung zu vermitteln.

  4. 16.

    Bei Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen ist eine höhere kulturelle Diversität wünschenswert und förderungswürdig. Psychotherapie ist in vielen Fällen eine interkulturelle Begegnung, sodass die Aus‑, Fort- und Weiterbildungen in der Psychotherapie dies berücksichtigen sollen.

  5. 17.

    Inter- und transdisziplinäre Teamarbeit sowie die Kompetenzen in sozialrechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen sind in der Aus- und Weiterbildung zu berücksichtigen.

  6. 18.

    Die Kompetenz zur Selbstreflexion, auch in der Wissenschaft und bei den Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen in Klinik und Praxis ist ein wichtiges Aus- und Weiterbildungsziel.

  7. 19.

    Die wissenschaftliche Evidenzlage, einschließlich bestehender Stärken und Schwächen/Lücken, ist zu allen anerkannten Psychotherapieverfahren und -methoden in der Aus- und Weiterbildung sachlich korrekt und nach vergleichbaren wissenschaftlichen Kriterien darzustellenFootnote 2.

Allgemeines

  1. 20.

    Es werden „vertrauensbildende Maßnahmen“ bei der Strukturentwicklung der zukünftigen Aus- und Weiterbildungsstätten (Uni-Institute für Psychologie/Psychotherapie; Weiterbildungsinstitute für Psychotherapie) zwischen allen Beteiligten nahegelegt.

Gesprächsleitung

Prof. Dr. C. Antoni Prof. (Vorsitzender des Fakultätentags)

Dr. W. Rief (wiss. Co-Chair)

Prof. Dr. B. Strauß PD (wiss. Co-Chair)

Dr. H. Vogel (Schriftführer)

Unterzeichner

Prof. Sylke Andreas (Klagenfurt; psychodyn. Verfahren); Prof. Harald Baumeister (Ulm, neue Medien in der Psychotherapie); Prof. Christina Bermeitinger (Hildesheim; Psychotherapie als Teil des Psychologiestudiums); Prof. Markus Bühner (München; Psychotherapie als Teil des Psychologiestudiums); Prof. Franz Caspar (Bern; Individualisierung in der Psychotherapie); Prof. Cornelia Exner (Leipzig; klinische Neuropsychologie); Dr. Gordon Feld (ZI Mannheim, Nachwuchswissenschaftler); Prof. Thomas Heidenreich (Esslingen; neue Verfahren); PD Dr. Christina Hunger-Schoppe (Heidelberg; systemische Therapie); Katharina Janzen (Studierende; Psychologie-Fachschaften-Konferenz [PsyFaKo]); Luisa Jungheim (Studierende; PsyFaKo); Prof. Christine Knaevelsrud (Berlin; neue Medien in der Psychotherapie); Prof. Wolfgang Lutz (Trier; allgemeine Wirkfaktoren); Prof. Jürgen Margraf (Bochum; kogn. Verhaltenstherapie); Prof. Andreas Mühlberger (Regensburg, neue Medien in der Psychotherapie); Dr. Rüdiger Retzlaff (systemische Therapie im Kindes- und Jugendalter, Heidelberg); Prof. Silvia Schneider (Bochum; kognitive Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter); Prof. Elisabeth Schramm (Freiburg; neue Verfahren); Prof. Svenja Taubner (Heidelberg; psychodyn. Therapie, neue Verfahren); Prof. Brunna Tuschen-Caffier (Freiburg; kognitive Verhaltenstherapie).

MitdiskutantInnen

Prof. Cord Benecke (Kassel; psychodyn. Hochschullehrer); Dr. Ulrike Borst (Konstanz; systemische Therapie; vor dem Treffen erkrankt); Dr. med. Heidrun Gitter (Bundesärztekammer); Prof. Sabine Herpertz (Heidelberg; Psychotherapie in der Psychiatrie/Medizin); Prof. Gereon Heuft (Ärztlicher Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie); Prof. Johannes Kruse (Gießen/Marburg; Psychotherapie in der Psychosomatik/Medizin); Dr. Dietrich Munz (Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer [BPtK]), Dr. Helene Timmermann (Hamburg; psychodynamische Therapie im Kindes- und Jugendalter; Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten [VAKJP])

Anhang: Zu diesem Schreiben gehört ein Anhang, der erste zusammengestellte Möglichkeiten zur Förderung von zukunftsrelevanten Themen und eines therapeutischen Pluralismus auflistet.