Die neurowissenschaftliche Forschung hat in den vergangenen Jahren vermehrt Einblicke in neurokognitive und -physiologische Auffälligkeiten gewährt, die für psychische Störungen kennzeichnend sind. So wurde beispielsweise auf der Grundlage von neuropsychologischen Tests gefunden, dass Essstörungen wie die Binge-Eating-Störung durch neurokognitive Dysfunktionen gekennzeichnet sind, die in Beeinträchtigungen in der inhibitorischen Kontrolle und im Belohnungssystem bestehen, und zwar besonders bei der Verarbeitung von störungsrelevantem Material wie Nahrungsreizen (Kittel et al. 2015). Bildgebungsstudien, hauptsächlich auf Basis funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT), dokumentierten zudem eine differenzielle Aktivierung bestimmter Hirnregionen in der Verarbeitung von Nahrungsreizen, beispielsweise eine Hypoaktivität in präfrontalen Kontrollnetzwerken und eine Hyperaktivität im medialen orbitofrontalen Kortex. Solche Befunde legen ein verändertes Störungsverständnis nahe: Im Falle der Binge-Eating-Störung wäre in einem aktualisierten Störungsmodell die Aufrechterhaltung der Essanfälle durch inhibitorische Kontrolldefizite und eine erhöhte Belohnungssensitivität zu erklären, zusätzlich zu den „klassischen“ Aufrechterhaltungsfaktoren eines negativen Körperbildes und einer negativen Affektivität, sodass entsprechende neurowissenschaftlich fundierte Behandlungsempfehlungen abgeleitet werden können (Hilbert 2019). Denn in „klassischen“ psychotherapeutischen Ansätzen wie der kognitiven Verhaltenstherapie werden diese Faktoren zumeist nicht direkt adressiert.

Aufbauend auf neuropsychologischen und -physiologischen Befunden sowie den Ergebnissen struktureller und funktioneller Bildgebung wurden neurowissenschaftlich fundierte Therapieansätze entwickelt, die darauf abzielen, störungsrelevante neurokognitive und -physiologische Prozesse direkt zu verändern, beispielsweise das Neurofeedback für die Binge-Eating-Störung, das die inhibitorische Kontrolle in Bezug auf Nahrungsreize zu verbessern sucht (Blume et al. 2017). Mit der Entwicklung neurowissenschaftlich fundierter Therapieansätze ist die Erwartung verbunden, die Wirksamkeit von Psychotherapie weiter zu steigern, insbesondere wenn beide Ansätze direkt oder indirekt miteinander kombiniert werden. Obwohl für viele psychische Störungen wirksame evidenzbasierte Psychotherapie vorliegt, ist weiterer Verbesserungsbedarf gegeben.

Das Sonderheft der Zeitschrift Psychotherapeut gibt einen Überblick über verschiedene neurowissenschaftlich fundierte Therapieansätze. Aktuelle Studienergebnisse zu neurokognitiven Trainings, zum Neurofeedback sowie zur nichtinvasiven transkraniellen Hirnstimulation bei verschiedenen psychischen Störungen werden vorgestellt und in Bezug auf ihren Einsatz in der Psychotherapie diskutiert. Das vorliegende Sonderheft der Zeitschrift Psychotherapeut behandelt somit die Frage, ob neurowissenschaftlich fundierte Therapieansätze zukünftig eine wirksame Option in der Psychotherapie darstellen können.

Die „Cognitive Bias Modification“ bezeichnet eine relativ stark beforschte Familie von Interventionen, die darauf abzielen, kognitive Verzerrungen direkt zu behandeln, indem die Patienten anhand von neuropsychologischen Aufgaben trainiert werden, deren Kontingenzen bestimmte Verarbeitungsmuster selektiv begünstigen (MacLeod und Mathews 2012). Während aktuelle Übersichtsarbeiten der monotherapeutischen „Cognitive Bias Modification“ zur Veränderung von Aufmerksamkeits- und Interpretationsbiases zumindest kurzfristig eine mögliche Wirksamkeit für verschiedene psychopathologische Symptome bescheinigen (z. B. Jones und Sharpe 2017), gehen Tendolkar et al. der klinisch relevanten Frage nach, inwieweit die „Cognitive Bias Modification“ als Zusatzintervention die Effekte von Standardpsychotherapie bei Depression verbessern kann.

Neurofeedback ist eine spezielle Anwendung des Biofeedbacks, bei der bestimmte Aspekte der Hirnaktivität in Echtzeit erfasst und verarbeitet werden, um sie dem „Lerner“ – meist in Form eines einfachen visuellen Reizes – unmittelbar zurückzumelden, wobei dieser wiederum versuchen soll, den entsprechenden Parameter aktiv zu regulieren. Gelingt ihm die gewünschte Regulation (z. B. die Aktivität in einem bestimmten Frequenzbereich des Elektroenzephalogramms zu erhöhen), wird dies über visuelle und verbale Feedback-Signale (z. B. Lob durch den Trainer) positiv verstärkt. Hierbei sollen durch Mechanismen der klassischen und operanten Konditionierung eine verbesserte Selbstregulation der eigenen neuronalen Aktivität erreicht und schließlich dysfunktionale Hirnaktivierungsmuster „normalisiert“ werden. In der neurowissenschaftlichen Forschung wurde der Einsatz von Neurofeedback bisher v. a. für die Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Rahmen kontrollierter Studien überprüft; der Großteil der Trainings basiert auf der Methode der Elektroenzephalographie (EEG; Arns et al. 2014). In einer praxisorientierten Übersicht stellt Enriquez-Geppert den derzeitigen Stand der Forschung zu EEG-basiertem Neurofeedback dar, diskutiert seine Effizienz und stellt ein neueres Protokoll vor, nämlich ein frontomediales Theta-Training, das auf eine Verbesserung exekutiver Funktionen abzielt und somit potenziell weitreichende klinische Bedeutung hat.

Barth und Ehlis präsentieren eine Übersicht über Neurofeedback speziell zur Behandlung der adulten ADHS, für die – nach erfolgreicher Anwendung im Kindes- und Jugendalter – erst in den letzten Jahren regelmäßig entsprechende Studien durchgeführt wurden. Auch hier stehen bislang EEG-basierte Protokolle im Vordergrund, während sich Neurofeedback-Trainings, basierend auf anderen Modalitäten (z. B. funktionelle Nahinfrarotspektroskopie [fNIRS]; Hudak et al. 2017, 2018; Ehlis et al. 2018) und funktionelle Magnetresonanztomographie in Echtzeit (rtfMRT; Zilverstand et al. 2017) derzeit noch in der Entwicklung befinden. Im Rahmen einer Pilotstudie stellen Storchak et al. speziell die Entwicklung eines fNIRS-basierten Trainingsprotokolls vor, das auf eine Verringerung akustisch-verbaler Halluzinationen bei Patienten mit schizophrenen Erkrankungen abzielt. Karch et al. geben schließlich eine narrative Übersicht über den Einsatz der „Real-time“(rt)fMRT bei psychischen Erkrankungen, speziell mit Blick auf die Modulation emotionaler und motivationaler Prozesse.

Verfahren der nichtinvasiven Hirnstimulation ermöglichen die gezielte Modulation neuronaler Aktivität; im Rahmen entsprechender Protokolle ist entweder eine vorübergehende Inhibition oder Fazilitation (d. h. „Aktivierung“) kortikalen Gewebes möglich (Ehlis et al. 2016). Dabei werden – im Unterschied zu Neurofeedback-Trainings – externe Reize, häufig in Form von Magnetpulsen (repetitive transkranielle Magnetstimulation, rTMS) oder Strom (z. B. transkranielle Gleichstromstimulation [„transcranial direct current stimulation“, tDCS]), verwendet. Herrmann et al. geben in einem systematischen Review Aufschluss über zusätzliche Effekte transkranieller Magnetstimulation, die zur Behandlung von Angsterkrankungen – entweder kurz vor oder während expositionsbasierter Verhaltenstherapie – zum Einsatz kam. Fink und Exner integrieren weiterhin den Forschungsstand zur nichtinvasiven Hirnstimulation (rTMS und tDCS) zur Behandlung von Zwangsstörungen mit insgesamt vielversprechenden Ergebnissen.

In der Zusammenschau zeigt sich für verschiedene Störungsbilder zwar ein deutlicher Wissenszuwachs zu neurowissenschaftlich orientierten Interventionen. Vielfach unbeantwortet bleiben jedoch Fragen hinsichtlich: der Operationalisierung der Trainingsprotokolle (z. B. Bestimmung der Zielregion, Intensität); des Auftretens von Nebenwirkungen; der Absicherung der „wahren“ Effekte eines Trainings im Vergleich zu Placebobedingungen; der vergleichenden Wirksamkeit untereinander und hinsichtlich „klassischer“ Psychotherapie. Weitgehend unklar ist zudem, welche Patienten von neurowissenschaftlich orientierten Verfahren besonders gut profitieren. Eine groß angelegte Studie von Drysdale et al. (2017) zeigte beispielsweise, dass Patienten mit Depression sich anhand unterschiedlicher Auffälligkeiten in der fMRT-basierten Konnektivität in limbischen und frontostriatalen Netzwerken in vier neurophysiologische Subtypen aufteilen lassen, die zugleich den Behandlungserfolg von nichtinvasiver transkranieller Magnetstimulation vorhersagten. Ähnliche Befunde deuten sich auch für (erwachsene) Patienten mit ADHS an, die sich im Rahmen einer Cluster-Analyse in diskrete neurophysiologische „Biotypen“ – mit jeweils spezifischen Mustern funktioneller Auffälligkeiten – unterteilen ließen (Barth et al. 2018). Unklar bleiben des Weiteren häufig die klinisch-praktische Anwendbarkeit und der potenzielle additive Nutzen von neurowissenschaftlich orientierten Interventionen als Zusatz zu „klassischer“ Psychotherapie. Am Weitesten gediehen scheint der Bereich des adjuvanten EEG-Neurofeedbacks für die ADHS bei Kindern, das 2018 als ergänzende Behandlungsoption Eingang in die überarbeitete S3-Leitlinie Aufmerksamkeits‑/Hyperaktivitätsstörung im Kindes‑, Jugend- und Erwachsenenalter (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018) gefunden hat.