Ein Hochschulstudium ist ein Übergangs- und Durchgangsraum; die hiermit verbundene Lebensphase wird traditionell als Spätadoleszenz oder junges Erwachsenenalter, heute meist als „emerging adulthood“ (Arnett 2015), bezeichnet – eine Phase der Verselbstständigung bei gleichzeitiger teilweiser oder vollständiger ökonomischer Abhängigkeit. In dieser sollten eine eigenständige soziale, berufliche und partnerschaftliche Orientierung, eine „eigene Identität“ entwickelt, der „Lebenskompass“ für die nächsten Abschnitte eingestellt werden.

In dieser Phase liegen Chancen und Möglichkeiten oft nahe an der Gefahr der Desorientierung und des Scheiterns.

Circa 20 bis 25 % der Studierenden weisen ausgeprägte psychische Belastungen auf (Techniker Krankenkasse 2015; Heilmann et al. 2015), am häufigsten depressive Verstimmungen. Circa die Hälfte der Studierenden mit studienerschwerenden Einschränkungen hat eine psychische Erkrankung als einzige oder sich am stärksten aufs Studium auswirkende Einschränkung (Middendorf et al. 2017). Beeinträchtigte Studierende wechseln häufiger ihren Studiengang und unterbrechen ihr Studium doppelt so häufig wie nichtbeeinträchtigte (Middendorf et al. 2017).

Durch die Bologna-Reform hat sich der Beratungs- und Behandlungsbedarf von Studierenden offensichtlich verlagert (Klug et al. 2013). Eine vergleichende Auswertung der Daten der Psychotherapeutischen Ambulanz für Studierende in Göttingen, bezogen auf die „traditionellen“ Studiengänge (Diplom, Magister) und das Bachelor-Master-System, zeigt, dass Studierende in den „neuen“ Studiengängen häufiger wegen auf das Studium bezogener Probleme und in früheren Semestern Beratung und Therapie aufsuchen als in den „alten“ Studiengängen. Mit den neuen Studiengängen konnte das Problem der Studienabbrecher nicht entschärft werden. Im Gegenteil: Circa 30 % der Studierenden verlassen heute Universitäten und Fachhochschulen ohne einen Abschluss, am häufigsten wegen Leistungsproblemen. Dass die Ursache lediglich in den, politisch gewollten, gestiegenen Studentenzahlen und der Entwertung anderer Berufsabschlüsse liegt, darf bezweifelt werden. Insgesamt ist von einem weiter steigenden Beratungs- und Behandlungsbedarf auszugehen. Bereits in der Zeit von 2010 bis 2015 stiegen die Zahlen der Erstgespräche und die Gespräche im Rahmen der offenen Sprechstunde in der Psychotherapeutischen Ambulanz für Studierende (PAS) in Göttingen um ca. 30 %.

Ein hoher Bedarf an Beratung und Therapie wurde an deutschen Universitäten bereits vor 50 Jahren festgestellt und führte 1966 zur Gründung der „Ärztlich-psychologischen Beratungsstelle für Studenten“ an der Universität Göttingen als eine der ersten derartigen Einrichtungen in Deutschland. Im Vorfeld der bald darauf einsetzenden „Studentenunruhen“ wurde aufgrund von Suiziden unter Göttinger Studierenden hiermit eine Einrichtung geschaffen, in der eine auf die besondere Lebensphase und die hochschulspezifische Situation bezogene flexible psychotherapeutisch-psychiatrisch-psychosomatische Versorgung mit Einzelbehandlungen und besonderen Gruppenangeboten etabliert wurde. Diese alters- und bezugsgruppenspezifische Behandlung (Sperling 1969) wurde sprunghaft zunehmend angenommen. Schon damals standen Arbeitsstörungen im Zentrum, aber auch Symptome, die heute als „Burn-out“, „Depression“ oder „Prokrastination“ bezeichnet würden, seinerzeit als „Müdigkeit“ (Sperling 1967) oder „Apathie“ (Sperling und Jahnke 1974a, 1974b) in Erscheinung traten.

Die Problematiken haben sich im Laufe der Jahrzehnte verschoben. Zum Teil sind neue hinzugekommen, u. a. durch die Migrationsbewegungen der letzten Jahre. Diesem veränderten Bedarf versuchen die vielen Beratungs- und Therapieeinrichtungen für Studierende an deutschen Hochschulen durch Veränderungen ihrer Angebote gerecht zu werden. Die Psychotherapeutische Ambulanz für Studierende, die in Göttingen aus der Ärztlich-psychologischen Beratungsstelle hervorging, bietet z. B. Beratungen und Therapien auch in englischer, französischer und spanischer Sprache an, eine tägliche offene Sprechstunde, die auch anonym aufgesucht werden kann, eine medizinische Sprechstunde zur Abklärung v. a. der Notwendigkeit antidepressiver Medikation, Gruppen zur Prokrastination, zur Internetsucht, zum Umgang mit Burn-out und leichteren depressiven Störungen, zum Umgang mit sozialen Ängsten, zur achtsamkeitsbasierten emotionalen Regulierung sowie psychodynamisch-interaktionelle Gruppen. Hinzu kommen enge Vernetzungen mit dem psychiatrischen Dienst und mit den psychotherapeutischen Stationen der Universitätsmedizin sowie mit niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen.

Dieses Heft der Zeitschrift Psychotherapeut soll das Spektrum der aktuellen Problematiken, Störungen sowie Behandlungsanforderungen und -möglichkeiten bei Studierenden aufzeigen.

Im ersten Beitrag gehen Frank-Hagen Hofmann, Michael Sperth und Rainer Matthias Holm-Hadulla auf die psychischen Belastungen von Studierenden sowie die Beratungs- und Behandlungsmöglichkeiten ein, stellen die Herausforderungen an Beratungs- und Therapieeinrichtungen für Studierende dar, skizzieren die Übergänge von Beratung zu Therapie sowie deren Gemeinsamkeiten und weisen auf die Effizienz auch kurzfristiger Prozesse hin.

Inge Seiffge-Krenke stellt das Konzept der „emerging adulthood“ als besondere Phase zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter, bisher als „Spätadoleszenz“ bzw. „junges Erwachsenenalter“ bekannt, mit ihren besonderen Anforderungen durch verzögerte Identitätsentwicklung, einen starken Selbstfokus, das Gefühl des „being in-between“ und die instabile Berufs‑, Partnerschafts- und Wohnsituation dar und geht auf die Besonderheiten für die Beratung und die Therapie in dieser Phase ein.

Die transgenerationalen Folgen der Migration im Hinblick auf Bildung und Adoleszenz sowie die dabei wesentlichen familiendynamischen Konstellationen beleuchtet Vera King auf der Grundlage einer umfassenden Interviewstudie. Die hierbei wirksamen Konflikte zeigen sich vermutlich auch in der bei Studierenden mit Migrationshintergrund erhöhten Rate von Studienabbrechern (Heublein et al. 2017).

Margarita Engberding, Anna Höcker und Fred Rist beschreiben die Symptomatik der Prokrastination, die ein „Dauerbrenner“ in allen hochschulbezogenen Beratungs- und Therapieeinrichtungen ist, in Psychotherapien bei niedergelassenen Psychotherapeuten oft unbemerkt und unbehandelt bleibt, und zeigen an der Universität Münster entwickelte verhaltenstherapeutische Möglichkeiten zu deren Bearbeitung auf.

Mit Prokrastination häufig verbunden ist das Störungsbild der Internetsucht, die am stärksten in Gestalt der Computerspielsucht auftritt. Dieses ist oft assoziiert mit affektiven Störungen, sozialen Ängsten und anderem Substanzmissbrauch. Die Erscheinungsformen dieser zunehmend auch in der Behandlung von Studierenden wichtigen Störung, ihre Verbreitung und ein Konzept zu deren Behandlung beschreiben Klaus Wölfling, Michael Dreier, Kai W. Müller und Manfred E. Beutel.

Lena Hennig, Micha Strack, Margarete Boos und Günter Reich stellen eine Untersuchung an über 1000 Göttinger Studierenden zum Zusammenhang zwischen sozialer Unterstützung und psychischer Belastung vor. Dieser zeigt sich deutlich, wobei Studierende anscheinend nicht isolierter sind als eine nicht studierende Vergleichsgruppe. Offenbar ist die Quantität im eigenen sozialen Netzwerk wichtig. Die Quelle der sozialen Unterstützung (Familie, Freunde, Partner/-in) nimmt keinen statistisch signifikanten Einfluss.

Günter Reich und das Behandlungsteam der Psychotherapeutischen Ambulanz für Studierende in Göttingen beschreiben abschließend das Spektrum der Behandlungsfälle in dieser Einrichtung anhand von skizzierten Beratungs- und Therapieverläufen. Die vielfältigen Dynamiken und Behandlungsmöglichkeiten von Arbeitsstörungen werden so verdeutlicht.