Unter dem Begriff der Medikalisierung wird die Ausweitung medizinischer Begriffe, Kategoriensysteme (z. B. Diagnosen) und Handlungsmuster auf „normale“ gesellschaftliche und alltägliche soziale Phänomene verstanden. In der Mitte des letzten Jahrhunderts bestand im Vergleich zu heute eine hohe Sensibilität für entsprechende Medikalisierungsprozesse, als deren Motive die Allmachtsfantasien einer zunehmend technologisch und naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin sowie die ökonomischen Interessen der Medizinakteure, einschließlich der Pharmaindustrie (Illich 2007), aufgefasst wurden. In der Psychiatrie und in der Psychotherapie – z. B. der Antipsychiatrie, aber auch der Psychoanalyse – wurden gesellschaftliche Pathologisierungstendenzen als Ausgrenzung von sozial nichtakzeptablem Erleben und Verhalten kritisiert oder als Versuch gewertet, potenziell Widerständiges – so werden in der Psychoanalyse die Neurosen durchaus auch heute noch verstanden – zu entschärfen.

Die letzten Jahrzehnte haben in einem abenteuerlichen Tempo die Entwicklung der Medizin sowie des Gesundheitssektors vorangetrieben und deren Gegenstand und Handlungsradius immens ausgeweitet. Diagnostiziert und behandelt werden nicht mehr nur Krankheiten – wie immer diese auch unter dem jeweiligen Zeitgeist definiert werden –, sondern auch Risikoprofile auf der somatischen und der psychischen Ebene. Als Hintergrund sind das ökonomische Interesse der Akteure im Gesundheitssystem und das biotechnologisch orientierte wissenschaftliche Selbstverständnis der Medizin anzusehen. Das Individuum in seiner körperlichen und biopsychosozialen Verfassung gerät zunehmend unter deren „Diktat“ und Handlungsmaximen, die sich in die Felder der Prävention, der Therapie und der Rehabilitation ausdifferenziert haben und so im Gesundheits- sowie Sozialbereich vielfältige Subdisziplinen kreieren, die dem Einzelnen sagen, wie ein „richtiges Leben“ auszusehen hat.

Eine substanzielle kritische Reflexion dieser Entwicklung hat sich im Zeitalter des Pragmatismus und des (warum auch immer?) Machbaren nicht mehr herausgebildet. Mit dem vorliegenden Schwerpunkheft des Psychotherapeut möchten wir für den Bereich der psychischen und psychosomatischen Phänomene die relevanten Grundlinien von Medikalisierungs- und Pathologisierungsprozessen aufzeigen, um die kritische Sensibilität und ein ebensolches Engagement auf einer fachbezogenen, aber auch gesellschaftlichen Ebene zu fördern. Die gesellschaftlichen, versorgungspolitischen und individuellen Bedingungen in ihrer Wechselbeziehung werden in der einleitenden Übersicht von Schneider thematisiert.

Seit der Jahrtausendwende und insbesondere in den letzten Jahren sind die Themen der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen zunehmend in die öffentliche und politische Diskussion geraten. Betont werden ihre epidemiologische, versorgungs- und sozialpolitische sowie volkswirtschaftliche Bedeutung. Dabei wird in der Regel ein Zusammenhang zwischen den gestiegenen Anforderungen und Belastungen der Arbeitswelt und dem Auftreten psychischer Erkrankungen diskutiert, und diese Sichtweise hat auf unterschiedlichen politischen/fachpolitischen Ebenen breite Resonanz gefunden. Für prekäre und unsichere soziale Lebenslagen, zu denen insbesondere die Arbeitslosigkeit oder die Arbeitsplatzunsicherheit gehören, wird ein gegenüber den Erwerbstätigen erhöhtes Erkrankungsrisiko berichtet.

Insbesondere die öffentliche Debatte um die modernen „Krankheitskonzepte“ wie Burn-out, Mobbing(-folgen) und die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) spiegelt die Sichtweise wider, nach der die zunehmenden Belastungen in der Arbeitswelt bzw. die komplexen Anforderungen in unserer Gesellschaft die Entstehung psychischer Erkrankungen fördern. Braungardt et al. zeichnen diese Entwicklung für das „Mobbing“ nach, Freyberger u. Kuwert für die PTBS.

Die Präsenz, die diese Themen in den öffentlichen Medien vom Spiegel, dem Fokus, dem Stern bis hin zur Apotheker Zeitung – zumeist prominent mit eindrücklichen Fotos von geplagten und erschöpften Individuen – sowie im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen aufweist, führt dazu, dass diese im Bewusstsein der Bevölkerung allgegenwärtig sind und individuell erlebter Stress schnell als Ausdruck einer psychischen Erkrankung gewertet wird. Diese Art von Attribuierungen wird dann im System der medizinischen Versorgung durch entsprechende Diagnosenstellungen sowie therapeutische und rehabilitative Maßnahmen bestätigt und weiter gefördert.

Eine zentrale Rolle spielen dabei die Vertreter der einschlägigen Fachgesellschaften, der Psychiatrie, der psychosomatischen Medizin und Psychotherapie sowie der psychologischen Psychotherapeuten. Dies sowohl über die inhaltliche und methodische Ausrichtung ihrer diagnostischen Modelle sowie über ihr therapeutisches Vorgehen, das seinen Ausgang im Sinne eines „furor sanandi“ in den Therapeutisierungsprozessen im Kontext des Psychobooms der späten 1960er und 1970er Jahre nahm. Kritisiert wird an den modernen psychiatrischen Diagnosemodelle [Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen, 4. Aufl. (DSM-IV) und Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Ausgabe (ICD-10) sowie künftig DSM 5 und ICD-11], dass diese den Krankheitsbegriff ausweiten, immer neue psychische Erkrankungen definieren und die Schwelle, ab wann wir von einer psychischen Erkrankung sprechen, heruntersetzen würden. Insbesondere die Arbeit von Stieglitz u. Hiller setzt sich mit dieser Thematik auseinander. Auf der Basis des so beschriebenen diagnostischen Verständnisses weisen die „Psychoexperten“ und auch die Ärzte im System der Primärversorgung eine starke Tendenz dahingehend auf, ihre Patienten, die sie oftmals über vielgestaltige diagnostische und therapeutische Prozeduren, einschließlich intensiver somatischer Verfahren, erst zu solchen gemacht haben, zu lange „krankzuschreiben“ und zu therapieren, wobei die medikamentöse Behandlung einen großen Stellenwert aufweist. Damit werden tendenziell Pathologisierungs- und Chronifizierungsprozesse initiiert und fortgeschrieben, die letztlich zu der großen Zahl an Berentungen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bei psychischen und psychosomatischen Patienten führen.

In diesen Prozessen konvergieren unterschiedliche Interessen, zu denen sowohl ökonomische – z. B. seitens der Pharmaindustrie und des medizinischen Versorgungssystems – als auch politische und ggf. ideelle Motive gehören. Als politisch – wenn auch vielleicht nicht bewusst – motiviert kann der Effekt angesehen werden, der sich aus der Transformation von sozialen in medizinische Probleme ergibt. Die Individuen bilden ihre Schwierigkeiten auf der Erlebens- und Verhaltensebene als individuell begründet ab und werden durch die Chronifizierungsprozesse in eine abhängige und passive Grundhaltung „gedrängt“. Sie verlieren ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit und damit auch potenziell die Initiative, sich aktiv an der Veränderung von kritischen gesellschaftlichen Verhältnissen zu beteiligen. Auf der ideellen Ebene können Prozesse der Identifizierung der Ärzte und Psychotherapeuten mit ihren Patienten von Bedeutung sein. Sie beabsichtigen, die Patienten zu entlasten und sehen ihre Behandlungsmaßnahme nach dem Motto „je mehr Psychotherapie umso besser“ als grundständig positiv an. Dabei sehen sie nicht, welche kritischen Effekte falsche Indikationen zur Psychotherapie oder ein Zuviel davon für die Individuen zur Folge haben können. Linden thematisiert diesen Gesichtspunkt in diesem Schwerpunktheft und argumentiert, dass Psychotherapeuten aufgrund unterschiedlicher Faktoren die Kompetenz verloren haben, „Gesundheit“ festzustellen.

In der Bevölkerung besteht in den letzten Jahrzehnten eine wachsende Offenheit für die Wahrnehmung innerseelischer sowie zwischenmenschlicher Prozesse und Konflikte, die darin resultieren kann, dass sich die Tendenz herausbildet, eigenes psychisches Erleben und Verhalten rasch als kritisch zu bewerten und psychische Befindlichkeitsstörungen (zu) früh als Ausdruck einer psychischen Erkrankung zu erleben. Dies gilt umso mehr, als dass unser gesellschaftlicher Alltag durch einen sehr hohen Anspruch an das körperliche und das psychosoziale Wohlbefinden charakterisiert ist, der dazu führt, dass Abweichungen von einem hehren Gesundheits- und Leistungsideal oftmals wenig toleriert werden. Daraus kann dann die verstärkte Attribuierung von körperlichen und psychischen Befindlichkeitsstörungen wie Erschöpfung, Niedergeschlagenheit, Trauer, sozialen Verunsicherungen und Ängsten als Ausdruck einer Krankheit resultieren. Die mit dem Krankenstatus verbundenen Gratifikationen im Sinne von Entlastungen (Arbeitsunfähigkeit, Berentung) oder Entschädigungen nach Unfällen (z. B. bei einer PTBS) nehmen dann den Charakter eines sekundären Krankheitsgewinns an, der die Chronifizierungsprozesse bedingen und verstärken kann. Rudolf (2012) hat diese unterschiedlichen Motivlagen seitens der Patienten und der Therapeuten kürzlich in der Schwesterzeitschrift Forum der Psychoanalyse thematisiert.

Die kritische – gesellschaftliche und individuelle – Reflexion über die fließenden Grenzen zwischen psychischer, sozialer und körperlicher Gesundheit und Krankheit muss in Beziehung zu den relevanten gesellschaftlichen Kontexten gestellt werden, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass primär soziale Problemstellungen in die Sprache der Medizin oder Psychiatrie/Psychosomatik übersetzt werden. Diese Perspektive ist nicht nur gesamtgesellschaftlich von Bedeutung, sondern auch für jeden Einzelnen, der im Gemenge zwischen seinen psychosozialen Herausforderungen und der eigene Befindlichkeit für sich einen guten und zufriedenen Weg finden muss und nicht Gefahr laufen will, als Patient in eine sozial passive und abhängige Position zu geraten. Dies soll nicht bedeuten, dass individuelles und soziales Leiden von unseren Professionen nicht ernst genommen werden muss.