Muss die Notwendigkeit der Psychoedukation überhaupt noch besonders betont werden? Ein Blick in die Leitlinien der American Psychiatric Association (APA 2006) oder der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN 2006) vermittelt das beruhigende Gefühl, dass eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung ohne begleitende Psychoedukation völlig obsolet wäre. Und in der Tat: Jeder rational arbeitende Therapeut wird bei der klinischen Arbeit automatisch psychoedukative Elemente einfließen lassen. Er dolmetscht und versucht, die krankheitsrelevanten Aspekte in die Sprache des Patienten zu übersetzen, um dem Patienten bisher nichtbewusste Zusammenhänge zu erklären und damit „Aha-Erlebnisse“ zu ermöglichen. Diese „Weiterbildung“ in Sachen Erkrankung zählt zum allgemeinen Standard. Im Unterschied zu psychoedukativen Gruppenprogrammen, in denen ein klar definiertes Curriculum „systematisch, didaktisch-psychotherapeutisch“ abgehandelt wird, um „Patienten und Angehörige über die Krankheit und ihre Behandlung zu informieren, ihr Krankheitsverständnis und den selbstverantwortlichen Umgang mit der Krankheit zu fördern und sie bei der Krankheitsbewältigung zu unterstützen …“ (Bäuml u. Pitschel-Walz 2008, S. 3) bleibt im Einzelgespräch aber oft zu wenig Zeit, um die krankheitsrelevanten Details systematisch und in einer für die Betroffenen gut nachvollziehbaren Abfolge interaktiv zu erarbeiten. Im Tagesgeschäft werden immer wieder aktuelle Krisen den Vorzug vor der systematischen psychoedukativen Erarbeitung des Krankheitsbilds erhalten müssen. Laut einer neuerlichen Umfrage von Rummel-Kluge et al. (in Vorbereitung) hat sich der Anteil der Patienten mit einer schizophrenen Psychose, die im Jahr 2008 psychoedukative Gruppenprogramme erhalten haben, im Vergleich zu 2003 nur geringfügig von 21 auf 25% erhöht. Der Anteil der Angehörigen, die an psychoedukativen Gruppen teilnahmen, lag jeweils unter 5%. Dabei bestätigen neuere Metaanalysen (Lincoln et al. 2007; Xia et al. 2011), dass durch psychoedukative Gruppenprogramme, insbesondere bei bifokaler Ausrichtung, signifikante Effekte auf Rezidivrate, Wiederaufnahmen, psychopathologische Störungen und auch die Lebensqualität erzielt werden können. Um diese Interventionen als Standardtherapie anbieten zu können und die Voraussetzungen für eine fortlaufende Durchführung dieser Gruppenprogramme zu schaffen, bedarf es einer Ausbildungsoffensive in möglichst vielen Einrichtungen.

Im vorliegenden Themenschwerpunktheft „Psychoedukation“ der Zeitschrift Psychotherapeut werden einige interessante neue Aspekte dargestellt. In der eigenen Klinik wurde bei einer Stichprobe von 97 schizophren erkrankten Patienten systematisch nach jeder Sitzung die Teilnahmequalität aus der Fremdraterperspektive festgehalten; anhand einer 4-stufigen Likert-Skala wurde ein Global Score ermittelt, der am Ende der 8 Sitzungen die Bildung von 2 Extremgruppen („sehr gute“ und „mäßige“ Teilnahmequalität) erlaubte. In der Arbeit von Bäuml et al. [Technische Universität (TU) München] werden sowohl biografische und klinische Daten als auch neuropsychologische und psychopathologische Parameter zur Frage, ob dadurch die Identifizierung von besonders rückfallgefährdeten Patienten möglich ist, vergleichend gegenübergestellt.

Pitschel-Walz et al. (TU München) untersuchten, inwiefern ein psychoedukatives Angehörigengruppenprogramm im Rahmen eines naturalistischen Settings im Routinebetrieb einer offenen psychiatrischen Station Auswirkungen auf Wissen und „empowerment“ der Teilnehmer entfalten. Zum einen zeigt die Zahl von 54 Teilnehmern während des etwa 2-jährigen Rekrutierungszeitraums, dass die regelmäßige Einbeziehung von Angehörigen möglich ist, wenn zum Besuch der Gruppen entsprechend engagiert motiviert wird. Zum anderen offenbaren die Ergebnisse, dass bei allen Teilnehmern Wissen und Empowerment signifikant zunehmen. Interessanterweise entwickeln sich aber beide Domänen unabhängig voneinander; auch Angehörige ohne signifikanten Wissenszuwachs erleben eine Verbesserung ihres subjektiven Bewältigungsprofils (Empowerment). Dies unterstreicht, wie wichtig die von Professionellen initiierten psychoedukativen Gruppenprogramme für das Selbstwertgefühl und das Selbstbewältigungsvermögen der Angehörigen sind.

Neben der mangelnden „manpower“ wird in kleineren Abteilungen oft die nichtausreichende Zahl von Patienten der gleichen Diagnosengruppe beklagt. Rabovsky et al. (Basel) haben systematisch untersucht, inwiefern diagnosenübergreifende psychoedukative Gruppenprogramme überhaupt möglich sind und welche Auswirkungen sich im Einjahresverlauf im Vergleich zu einer Kontrollgruppe zeigen. Diagnosenübergreifende Psychoedukation erfordert die Konzentration auf weitgehend generalisierbare Aspekte wie das Vulnerabilität-Stressbewältigung-Modell, biochemische Abweichungen im Neurotransmittersystem, die Wirkweise der unterschiedlichen Psychopharmaka und die Wirkprinzipien psychotherapeutischer Verfahren, einschließlich Sensibilisierung für Frühwarnzeichen ganz allgemein sowie die Wichtigkeit von psychohygienischen Maßnahmen zur Stressreduktion im Besonderen. Die Gruppenprogramme waren nicht nur gut durchführbar; sie ließen auch signifikante Verbesserungen in den psychopathologischen Störungen und der Suizidalität erkennen. Die Rate an stationären Wiederaufnahmen war jedoch nur tendenziell verbessert; der Stichprobenumfang von nur 87 Patienten vereitelte signifikante Ergebnisse. Das Gefühl einer Solidargemeinschaft und das Erleben der Universalität des Leidens in der Gruppe wurden als wesentliche Wirkfaktoren, auch im Sinne des Antistigmaerlebens, postuliert.

Angesichts der immer noch existierenden Vorbehalte gegenüber Psychoedukation auch bei eindeutig diagnostizierten Patienten aus der Sorge heraus, diese mit spezifischem Wissen zu überfrachten und in ihrer Autonomieentwicklung zu beeinträchtigen, könnten die psychoedukativen Bemühungen bei Personen mit erhöhtem Psychoserisiko geradezu als spekulativ betrachtet werden. Zarafonitis et al. aus einem großen Forschungsverbund (Kompetenznetz Schizophrenie) untersuchten bei 128 hilfesuchenden Risikopatienten im Rahmen einer randomisierten, kontrollierten multizentrischen Studie die Auswirkungen eines psychoedukativen Programms im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mit supportiver Beratung. Neben einer guten Akzeptanz des Programms erscheint insbesondere die geringere Übergangsrate in psychotische Erkrankungsbilder bei der Interventionsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe nach 2 Jahren (6,3 vs. 20%) als sehr bemerkenswert.

Das geflügelte Wort „Persönlichkeitsstörungen sind keine Diagnose, sondern eine Beleidigung“ paraphrasiert sehr plakativ die Problematik bei der Durchführung von psychoedukativen Gruppenprogrammen für Borderline-Erkrankte. Rentrop et al. (TU München) beschreiben in ihrem Übersichtsbeitrag zum einen, dass es bisher kaum psychoedukative Programme für dieses Krankheitsbild gibt; zum andern wird das von ihnen entwickelte und implementierte psychoedukative Programm für Borderline-Patienten mit dezidierten Hinweisen für die konkrete Durchführung sehr anschaulich erläutert. Insbesondere die Sensibilisierung für den sorgfältigen Umgang mit kritischen Themen, wie z. B. die professionelle Handhabung der offenen und transparenten Ausblendung von traumazentrierten Schilderungen, machen diesen Beitrag zu einer spannenden Lektüre für jeden klinisch tätigen Leser. Dabei wird mit dem Mythos aufgeräumt, diese Patientengruppe wüsste ohnehin schon alles, insbesondere über den Umgang mit der krankheitstypischen Intrusionsfreudigkeit. Auch langjährig leidende Patienten lassen immer wieder Aha-Erlebnisse erkennen und reagieren sehr dankbar auf die Erweiterung ihrer bisherigen subjektiven Bewältigungskompetenz durch die professionelle Informationsvermittlung.

Lüscher et al. (TU München) widmen sich dem „Albtraum“ jedes Therapeuten, eine Gruppe leiten zu sollen, in die keiner hinein will, weil er die „unterstellte“ Krankheit gar nicht habe. Aus dieser Krankheitsverleugnung resultiert leicht eine „Komplizenschaft“ zwischen Therapeuten und Morbus mit rascher Entlassung der Patienten, die ohnehin vom Therapiekonzept nicht profitieren würden. Die sich daraus ergebenden kurzen Verweildauern haben zumindest eine positive Auswirkung auf die Statistik. Lüscher et al. beschreiben sehr anschaulich, wie es durch Beachtung einiger Grundregeln sowie mit Engagement, Geduld, Humor und unerschütterlichem Optimismus auf dem Boden einer strukturierten Vorgehensweise möglich ist, auch besonders skeptische und sich eigentlich nicht krank fühlende Patienten für einen Schnupperbesuch zu gewinnen. Durch kluge und systematische Gruppenführung kann es bei vielen Patienten gelingen, nicht nur Neugierde und Interesse zu wecken – bei geschickter Kooperation mit Kotherapeuten und sensibler Einbeziehung der Mitpatienten als „Peer“-Spezialisten kann sich eine stabile und regelmäßige Kommtreue ergeben, die sich durch Wissenszuwachs und Zufriedenheit mit der Gruppenteilnahme mittelfristig objektivieren lässt. Diese Leistung, auch zunächst völlig abwehrende und nichteinsichtig wirkende Patienten für eine kooperative und langfristige Zusammenarbeit zu gewinnen, zählt zu den ganz besonderen Erfahrungen eines klinisch tätigen Therapeuten.

Mit diesem Beitrag wird der Themenschwerpunkt „Psychoedukation“ abgerundet, der zeigen soll, dass Psychoedukation bei allen relevanten psychischen Erkrankungen sinnvoll sowie effektiv sein kann und deshalb – wie in den eingangs erwähnten Leitlinien bereits gefordert – in allen Einrichtungen implementiert werden sollte. Diesem Aspekt trägt das demnächst erscheinende Handbuch für Psychoedukation in Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomat ischer Medizin Rechnung, das von der Arbeitsgruppe „Psychoedukation“ der Deutschen Gesellschaft für Psychoedukation (DGPE) anfangs 2013 herausgegeben wird.