Wie kaum eine andere klinische Disziplin ist die Psychotherapie von politischen und ökonomischen Kontexten abhängig. Sich dies bewusst zu machen, zudem Gesellschaftsdiagnosen zu stellen und daraus psychosoziale Therapien abzuleiten, war das Anliegen von Horst-Eberhard Richter, der am 19.12.2011 im Alter von 88 Jahren verstarb. Mit seinem Tod hat dieses Themenheft über „Sozialpolitische Dimensionen therapeutischen Handelns“ eine neue Aktualität erhalten. Neu insofern, weil bereits eine Vortragsreihe anlässlich der Lindauer Psychotherapiewochen (LP) 2011, die diesem Heft zugrunde liegt, Richters Botschaft verbunden und verpflichtet war, wie im Weiteren noch gezeigt wird. Richter vertrat Psychoanalyse und Familientherapie nicht nur als „klinische Spezialität“, sondern mischte sich auch ein: mit öffentlichem Engagement, mit kritischen gesellschaftsdiagnostischen und -politischen Kommentaren. Angefangen in den 1960er und 1970er Jahren über die Supervision von Kinderläden oder Sozialprojekten wie in der Gießener Obdachlosensiedlung „Eulenkopf“ bis hin zu seiner Stellungnahme zur Wirtschaftskrise in einem Spiegel-Online-Interview vom 18.08.2009 (www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,643304,00.html; zugegriffen: 21.12.2011), in dem er über die medizinischen Folgen der Angst vor Jobverlust sprach und das Schwinden des sozialen Verantwortungsgefühls als Krankheit des modernen Kapitalismus anprangerte.

Nicht zuletzt gilt Richter vielen Menschen als der „große alte Mann“ der bundesdeutschen Friedensbewegung. Im Jahr 1982 gründete er zusammen mit anderen die westdeutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW, www.ippnw.de), der 1985 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. In beiden Irakkriegen gehörte er zu den intellektuell tonangebenden Kritikern aus der Friedensbewegung. Neben vielfachen Ehrungen und Auszeichnungen lehnte er das Bundesverdienstkreuz dreimal mit der Begründung ab, „zu viele Exnazis“ hätten es bereits erhalten.

Richter war ein „öffentlicher Analytiker“: Für ihn war Psychoanalyse nicht nur eine tiefenpsychologische Behandlungsmethode, sondern, und vielleicht zuallererst, ein Instrument der Aufklärung einer sich sozialanalytisch begreifenden Wissenschaft von Mensch und Gesellschaft. Er sensibilisierte für die Bedeutung sozialer und politischer Probleme bei der Bewältigung seelischer Notlagen. Sein konstruktives politisches Engagement ermutigte v. a. in der Friedensbewegung viele Menschen, sich zu empören, eigene Initiativen zu ergreifen und sich in gesellschaftliche Konflikte einzumischen.

Fast alle Referenten des hier vorliegenden Hefts nehmen auf Richter sowie sein Wirken Bezug und zitieren ihn als jemanden, der viele Jahre lang einen wichtigen „Lotsendienst“ bei gesellschaftspolitischen Fragen geboten hatte. Ein solcher Lotsendienst wäre auch bei den LP 2010 nach dem Vortrag des Historikers Philipp Mettauer zum Thema „Die Geschichte der Tagung nach Quellen und Zeitzeugen“ (www.lptw.de/archiv/vortrag/2010/mettauer_p.pdf; historische Recherche im Auftrag des Trägervereins der LP „Vereinigung für psychotherapeutische Aus- und Weiterbildung e.V.“) hilfreich gewesen. In der anschließenden Diskussion herrschte große Nachdenklichkeit, und viele Zuhörende drückten ihre Rat-, Sprachlosigkeit und Verwirrung, z. T. auch Bestürzung, aus. Den meisten war nicht oder zumindest nicht ausreichend bewusst, dass und in welchem Ausmaß die Gründungsväter der LP in die Ideologie und in die Taten (T4-Aktion) des Nationalsozialismus verstrickt waren. Es war spürbar, dass die Anwesenden sich nicht damit begnügen wollten, die Geschichte auf sich beruhen zu lassen. Deshalb gründete sich eine ArbeitsgruppeFootnote 1, die den Rahmen für weitere Reflexionsmöglichkeiten schaffte und 2011 eine Vortragsreihe zum Thema: „’Opa war (k)ein Nazi. Vergessen – Erinnern – Gestalten, LP 60+“ (Titel in Anlehnung an Welzer et al. 2002) durchführte. Es ging dabei über Lindau-spezifische Fragen hinaus darum, wie wir als Psychotherapeuten einen verantwortungsvollen Umgang mit unserem problematischen Erbe finden können, und es ging um Konsequenzen für unser heutiges psychotherapeutisches Handeln.

Wenn wir die Tatsache ernst nehmen, dass Psychotherapie in starkem Maß von politischen und ökonomischen Kontexten abhängig ist, bedarf es dann nicht einer ständigen – auch gesellschaftspolitischen – Reflexionsebene für das eigene Tun? Womit kann das emanzipatorische Potenzial der Psychotherapie erhalten bleiben, und wo laufen wir als Psychotherapeuten Gefahr, Handlanger ideologischer Vorstellungen zu werden? Bleiben wir z. B. ausreichend sensibel für potenzielle Beschädigungen grundlegender demokratischer Rahmenbedingungen im Hier und Jetzt? Wo lassen wir heute Entwicklungen zu, bei denen wir erneut Gefahr laufen, als unverrückbar geltende ethisch-moralische Grundsätze aufzugeben? Was werden uns nachfolgende Generationen in 60 Jahren einmal vorwerfen?

Dass diese Fragen nicht nur Psychotherapeuten betreffen, sondern weiten Bevölkerungskreisen ein Anliegen sind, zeigt die große Beachtung, die die Streitschrift des 93-jährigen Holocaust-Überlebenden Stéphan Hessel (2011) derzeit erfährt: Mit Empört Euch und Mischt Euch ein ruft er zum friedlichen Widerstand auf. Er ermutigt zur Empörung über die Unglaubwürdigkeit der Politik, die Unkontrollierbarkeit moderner Technik, die Gier der Wirtschaftsordnung, die Skrupellosigkeit der Medien und den moralischen Verfall gesellschaftlicher Eliten. Er empört sich darüber, dass Abschiebung, Misstrauen gegen Zuwanderer, Brüchigkeit von Altersversorgung und Sozialleistungen sowie Medienbeherrschung durch die Reichen zugelassen wurden. Hessel hat deutsche sowie jüdische Wurzeln und begründet seine Empörung aus dem Geist der Résistance heraus, in der er aktiv war. Mit seiner Schrift hat Hessel auch in Deutschland große Resonanz gefunden. Sie bringt mit klaren und engagierten Worten demokratische Selbstverständlichkeiten in Erinnerung und bietet damit eine offensichtlich dringend notwendige Orientierung. Eine solche erscheint zunehmend gefährdet, wie aus der Studie „Deutsche Zustände“ hervorgeht, die seit 10 Jahren verschiedene Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit untersucht (Heitmeyer 2011). Sie stellt fest, dass durch schleichende Prozesse der Orientierungslosigkeit, Ökonomisierung des Sozialen und Demokratieentleerung die soziale Spaltung in der Gesellschaft zunimmt. Werte wie Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität erscheinen zunehmend als kaum mehr realisierbar. Die damit einhergehende Entsolidarisierung gegenüber schwachen Gruppen beunruhigt.

Aus der Beunruhigung heraus ist dieses Heft entstanden. Wir danken allen Autoren, dass sie unserer Bitte entsprochen haben, aus dem Blickpunkt ihrer Arbeitsfelder heraus den Schatten der Nazizeit zu beschreiben, Analysen zu den aktuellen gesundheits- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen zu geben und ein für Psychotherapeuten relevantes Fazit zu ziehen. Wir danken auch den Teilnehmenden in Lindau, die uns mit ihren engagierten Diskussionsbeiträgen ermutigt und darin bestärkt haben, dass ein weitergehendes Bedürfnis nach sozialpolitischer Reflexion und Orientierung besteht.