Hintergrund

Die Untersuchung von Betroffenen und Beschuldigten im Zusammenhang mit körperlicher und sexualisierter Gewalt ist mittlerweile fester Bestandteil des rechtsmedizinischen Alltags. In Ergänzung zu den Untersuchungen, die im Auftrag von ermittelnden Behörden und anderen öffentlichen Institutionen sowie als konsilärztliche Untersuchungen durchgeführt werden, gibt es seit mittlerweile vielen Jahren an vielen rechtsmedizinischen Instituten Gewaltopferambulanzen bzw. Rechtsmedizinische Ambulanzen. Teilweise bieten diese Ambulanzen auch die Möglichkeit einer „Vertraulichen“ Spurensicherung als direktes Angebot für Betroffene von Gewalt, also ohne Einschaltung der Ermittlungsbehörden, an [8]. Solche Angebote ermöglichen eine zeitnahe Untersuchung und sachgerechte Dokumentation der Verletzungen sowie ggf. eine Sicherung von Asservaten, ohne dass die Betroffenen unmittelbar eine polizeiliche Strafanzeige erstatten müssen. Dadurch wird den Betroffenen Zeit für ihre Entscheidung für oder gegen eine Anzeige bei der Polizei gegeben. Dies ist umso wichtiger, als Betroffene häufig akut belastet, verunsichert und womöglich auch traumatisiert sein können. Bis sich der oder die Betroffene entschieden hat, eine Anzeige zu erstatten, können Befunde oder Spuren, ohne die eine Gewalttat oftmals nicht mit der erforderlichen Sicherheit bewiesen werden kann, möglicherweise nicht mehr erhoben bzw. gesichert werden. Das Konzept der Vertraulichen Spurensicherung trägt dieser Problematik Rechnung, im Fall einer späteren Anzeige stehen erhobene Befunde und asservierte Spuren zur Verfügung.

Seit dem Jahr 2004 unterhält das Institut für Rechtsmedizin Düsseldorf eine rechtsmedizinische Ambulanz, in der sowohl Untersuchungen im Auftrag von Ermittlungsbehörden durchgeführt werden als auch das Angebot einer Vertraulichen Spurensicherung besteht. Die Ambulanz verzeichnet über die vergangenen Jahre hinweg – bis auf die Pandemiejahre 2020 und 2021 – einen stetigen Anstieg der Untersuchungszahlen. Den hier tätigen Ärztinnen und Ärzten fällt dabei immer wieder auf, dass der Großteil der zu untersuchenden Personen aus Düsseldorf und der unmittelbaren Umgebung zu kommen scheint, selten jedoch aus dem entfernten oder ländlichen Umland, in dem es auch keine anderen Anlaufstellen gibt. Hiervon betroffen sind insbesondere die Landkreise Herne, Paderborn, Soest und Siegen-Wittgenstein.

Auch an anderen Instituten nehmen offenbar weniger Betroffene aus dem jeweiligen strukturschwachen Umland das Angebot der rechtsmedizinischen Untersuchungen wahr [12]. Es stellt sich teilweise als problematisch dar, Betroffene in weiterer Entfernung zur Untersuchungsstelle mit dem Untersuchungsangebot zu erreichen [26]. Dies lässt vermuten, dass sich Betroffene tendenziell eher wohnortnah zur Untersuchung vorstellen, bei zu weiten Wegen gar nicht gesehen werden und somit eine Benachteiligung der Betroffenen aus dem Umland vorliegt. Daraus ergäbe sich (politischer) Handlungsbedarf, wenn Betroffene flächendeckend erreicht werden sollen.

Dieser Handlungsbedarf soll durch die Änderung des SGB V (§§ 27 (1) und 132k) adressiert werden. Ziel dieser neuen Regelungen ist es, mehr und flächendeckend medizinische Anlaufstellen für die Vertrauliche Spurensicherung zu schaffen; es soll eine „hinreichende Anzahl von geeigneten Einrichtungen oder Ärzten“ gewährleistet werden [24], die solche Leistungen anbieten können. Vor diesem Hintergrund wurde die Vertrauliche Spurensicherung als Krankenbehandlung definiert; entsprechende Leistungen sollen mit den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden können. Die Behandlung schließt eine Spurensicherung, einschließlich Dokumentation, Laboruntersuchungen sowie Aufbewahrung der sichergestellten Befunde mit ein [25].

Während der Erstellung dieses Beitrages fanden Verhandlungen unter Einbeziehung des Landes NRW sowie von Vertreter/innen der Krankenkassen, der Krankenhausgesellschaft und der Rechtsmedizin statt; deren Ziel war die Umsetzung dieser neuen gesetzlichen Regeln.

Fragestellung

Die vorliegende Erhebung dient der Darstellung der Akzeptanz und Erreichbarkeit von Angeboten zur vertraulichen Spurensicherung vor der Umsetzung des neuen Konzeptes, sodass ein „T0-Datensatz“ für eine spätere Erhebung zur Frage des Erfolges der aus der Umsetzung der gesetzlichen Neuregelungen resultierenden Konzepte (bessere Abdeckung in der Fläche?) vorliegt. Dazu wurden die Daten aller in privatem Auftrag erfolgten Untersuchungen größtenteils von erwachsenen Personen der Rechtsmedizinischen Ambulanz im Rahmen der Vertraulichen Spurensicherung am Institut für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Düsseldorf ausgewertet; im Fokus standen dabei die Jahre 2015–2022.

Material und Methoden

Es erfolgte eine retrospektive Analyse der in den Jahren 2015–2022 insgesamt 1098 Untersuchungen ohne polizeiliche Anzeige (vertrauliche Spurensicherung), die im Fokus der Auswertung lagen. Hierbei handelte es sich fast ausschließlich um Untersuchungen erwachsener Personen; in Einzelfällen stellten sich Erwachsene zur Dokumentation von Verletzungen ihrer Kinder oder auch ältere Jugendliche eigenständig zur Untersuchung vor. Zudem wurden die Daten von 1431 im Auftrag von Ermittlungsbehörden sowie im konsiliarischen Auftrag durchgeführten klinisch-forensischen Untersuchungen des Düsseldorfer Institutes für Rechtsmedizin herangezogen. Das Düsseldorfer Einzugsgebiet für polizeiliche Untersuchungen erstreckt sich hierbei auf die Landkreise Düsseldorf, Mettmann, Rhein-Kreis Neuss, Mönchengladbach, Viersen, Solingen, Wuppertal sowie teils Krefeld und Heinsberg.

Im Fokus der Auswertung lagen der Wohnort der untersuchten Personen und somit die Dimension des realen Einzugsgebietes des Institutes. Soweit vorhanden bzw. möglich, wurden die Postleitzahl des Wohnortes der untersuchten Person zum Zeitpunkt der Untersuchung sowie das Untersuchungsdatum erfasst, anonym in einer Excel-Tabelle hinterlegt und anschließend mittels Pivot-Tabellen ausgewertet. Die Fälle, bei denen eine korrekte Angabe oder Dokumentation der Postleitzahl fehlte, wurden für die Analyse des Wohnortes ausgeschlossen. Zudem wurden die Entwicklung der Untersuchungszahlen sowie die Verteilung der Untersuchungen auf die einzelnen Wochentage und Monate betrachtet.

Ergebnisse

Die in den Jahren 2015–2022 insgesamt 1098 privat angestoßenen Untersuchungen fanden ausschließlich in der Ambulanz des Instituts für Rechtsmedizin statt. Die 1431 ermittlungsbehördlich und konsiliarisch beauftragten Untersuchungen erfolgten sowohl in der Ambulanz als auch in Kliniken, in denen die von Gewalt betroffenen Personen behandelt wurden, und in den Dienststellen auftraggebender Polizeibehörden. Über die Jahre hinweg ließ sich ein stetiger Anstieg der Untersuchungszahlen verzeichnen. Waren es im Jahr 2015 noch 88 private und 110 behördlich bzw. konsiliarisch beauftragte Untersuchungen, so wurden im Jahr 2022 bereits 172 bzw. 193 Personen untersucht. Für die privat beauftragten Untersuchungen entspricht dies einer etwa 95 %igen Zunahme. Lediglich in den pandemiegeprägten Jahren 2020 und 2021 konnte ein diskreter Rückgang der Untersuchungszahlen im Vergleich zu den Vorjahren festgestellt werden (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Anzahl der privaten und behördlich/konsiliarisch beauftragten Untersuchungen der Jahre 2015–2022

Betrachtet man die Verteilung der privaten Untersuchungen der Jahre 2015–2022 auf die einzelnen Monate, so fanden mit durchschnittlich 122 (11,11 %) die meisten Untersuchungen im Monat August statt, gefolgt von durchschnittlich 108 (9,83 %) Untersuchungen im Juli und durchschnittlich 101 (9,19 %) im September. Insgesamt verzeichnen die Sommermonate tendenziell eine diskret höhere Anzahl an Untersuchungen als die Wintermonate. Ein ähnliches Verteilungsmuster ist auch bei den konsiliarisch bzw. im behördlichen Auftrag erfolgten Untersuchungen zu erkennen (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Verteilung der privaten und behördlich/konsiliarisch beauftragten Untersuchungen der Jahre 2015–2022 auf die einzelnen Monate

Mit Blick auf die Verteilung privater Untersuchungen auf die einzelnen Wochentage war der Montag über die Jahre durchschnittlich der am häufigsten frequentierte Untersuchungstag, gefolgt von Dienstag und Mittwoch. Die mit Abstand wenigsten Untersuchungen im privaten Auftrag erfolgten im gesamten Erfassungszeitraum am Wochenende mit insgesamt 6 untersuchten Personen an Samstagen und 7 Personen an Sonntagen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Verteilung privater Untersuchungen der Jahre 2015–2022 auf die einzelnen Wochentage

Von den insgesamt 1098 im Privatauftrag erfolgten Untersuchungen hatte der Großteil der von Gewalt Betroffenen (1005 Personen, 91,53 %) seinen Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen, 14 (0,36 %) in den übrigen Bundesländern Deutschlands. 4 Personen (0,36 %) waren ohne festen Wohnsitz, eine Person (0,09 %) hatte ihre Wohnadresse im Ausland. In 74 Fällen (6,74 %) wurde die Postleitzahl des Wohnsitzes der untersuchten Person nicht/falsch dokumentiert bzw. von der Person nicht oder inkorrekt angegeben (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Herkunft der von Gewalt betroffenen Personen, die sich in privatem Auftrag zur Untersuchung im Institut für Rechtsmedizin in den Jahren 2015–2022 vorstellten

Nach Zuordnung der Postleitzahlen der 1005 Untersuchungen in Landkreise, bei der die Betroffenen ihren Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen angegeben haben, ergibt sich die in Abb. 5 gezeigte Verteilung.

Abb. 5
figure 5

Häufigkeiten der im privaten Auftrag erfolgten Untersuchungen der Jahre 2015–2022, verteilt auf die einzelnen Landkreise Nordrhein-Westfalens; eine hellgraue Färbung zeigt, dass keine Untersuchung einer Person aus diesem Landkreis erfolgt ist, eine dunkelrote Färbung hingegen spricht für eine hohe Anzahl an Personen aus diesem Landkreis

Der mit Abstand größte Anteil der Untersuchten, genau 703 Personen, hatte den Wohnsitz im Landkreis Düsseldorf (ca. 620.000 Einwohnerinnen und Einwohner) angegeben. Aus dem Landkreis Mettmann (ca. 486.000 Einwohnerinnen und Einwohner) stammten 90 Personen, gefolgt vom Rhein-Kreis Neuss (ca. 451.000 Einwohnerinnen und Einwohner) mit 88 Personen. Den Landkreis Mönchengladbach (ca. 262.000 Einwohnerinnen und Einwohner) gaben noch 18 Untersuchte als ihren Wohnsitz an, aus Kleve (ca. 311.000 Einwohnerinnen und Einwohner) stammten beispielsweise nur 4 Personen. Von den zu Düsseldorf weiter entfernten Landkreisen stellte sich innerhalb der 8 Jahre jeweils nur eine Person aus z. B. Lippe (ca. 350.000 Einwohnerinnen und Einwohner) oder Bielefeld (ca. 363.000 Einwohnerinnen und Einwohner) vor. Zahlreiche Landkreise wie Paderborn (ca. 308.000 Einwohnerinnen und Einwohner), Höxter (ca. 142.000 Einwohnerinnen und Einwohner) oder Herford (ca. 252.000 Einwohnerinnen und Einwohner) blieben ohne Vorstellung einer gewaltbetroffenen Person.

Diskussion

Für den untersuchten Zeitraum von 8 Jahren ließ sich am Institut für Rechtsmedizin Düsseldorf insgesamt eine stetige Zunahme der Untersuchungszahlen verzeichnen. Ähnliche Tendenzen wurden bereits von anderen rechtsmedizinischen Instituten berichtet [4, 12, 22]. Insbesondere bei den im privaten Auftrag erfolgten Untersuchungen ist ein deutlicher Anstieg festzustellen. Die insgesamt kontinuierlich steigenden Zahlen in privatem Auftrag erfolgter Untersuchungen in Düsseldorf spiegeln den grundsätzlichen Bedarf an Untersuchungsstellen für Gewaltbetroffene wider.

In den „Pandemiejahren“ 2020 und 2021 stand das Untersuchungsangebot der Ambulanz der Rechtsmedizin Düsseldorf uneingeschränkt zur Verfügung; es war ein diskreter Rückgang an Untersuchungen von Privatpersonen zu verzeichnen. Die vielerorts implementierten Lockdown-Beschränkungen könnten zu einem Rückgang der Gewalt durch Fremdtäter*innen geführt haben; so sank der Anteil der Fremdtäterinnen und Fremdtäter gemäß den Polizeistatistiken Nordrhein-Westfalens beispielsweise bei vorsätzlicher und einfacher Körperverletzung [18,19,20]. Die Anzahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung hat sich in den vergangenen Jahren im Landkreis Düsseldorf jedoch unabhängig von der Pandemie annähernd verdreifacht [17]. Auch ist ein Anstieg der Fälle von Gewalt im sozialen Nahraum unter Pandemiebedingungen anzunehmen [23, 27]; dieser Effekt ließ sich zumindest für das Hellfeld bestätigen [21]. Bewegungseinschränkung und Isolation, Verlust des Arbeitsplatzes, Zusammenleben auf engen Raum, Stress und Angst sind entsprechende Risikofaktoren. Gleichzeitig war lange der Zugang zu Hilfsnetzwerken erschwert; Betroffene waren den gewaltausübenden Personen ausgeliefert und hatten keinen Zugang zu Unterstützungsangeboten [1, 3, 6, 11]. Bevölkerungsrepräsentative Dunkelfeldbefragungen vor und während der Lockdown-Beschränkungen in der Schweiz und in Deutschland ergaben zunächst keinen signifikanten Unterschied der Häufigkeit häuslicher Gewalt [2, 9].

Für das Institut für Rechtsmedizin in Düsseldorf ist rückblickend festzustellen, dass das hier angesiedelte Angebot der Vertraulichen Spurensicherung während der Pandemie scheinbar weiter relativ gut erreichbar war. Offenbar wirkten hier der hohe Bekanntheitsgrad der sehr lange bestehenden Ambulanz und der niederschwellige Zugang in einem Klinikum.

Betrachtet man die Zahlen der im Privatauftrag erfolgten Untersuchungen hinsichtlich ihrer Verteilung auf die einzelnen Monate, so verzeichnen die Sommermonate etwas mehr Untersuchungen. Insgesamt ergaben sich dahingehend jedoch keine signifikanten Unterschiede, und es ist von einem über das Jahr weitgehend gleichbleibenden Aufkommen an Untersuchungen bzw. Bedarf an Untersuchungsstellen auszugehen.

Bezüglich der Verteilung der Untersuchungen auf die einzelnen Wochentage zeigte sich eine deutliche Unterrepräsentation der Wochenendtage Samstag und Sonntag. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass die Gewaltopferambulanz des Institutes für Rechtsmedizin Untersuchungen im privaten Auftrag am Wochenende nicht anbieten kann. Private Untersuchungen an den Wochenenden können mittlerweile aber dank umfangreicher Schulungen und rechtsmedizinischer Unterstützung via iGOBSIS (gobsis.de, telefonische Beratung) in der allgemeinen, der pädiatrischen und der gynäkologischen Notaufnahme erfolgen. Die Zahlen dieser Vorstellungen in den Notaufnahmen wurden hier aber nicht erfasst, da der Beginn der Teilnahme am Projekt iGOBSIS der jeweiligen Notaufnahmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Erhebungszeitraum erfolgte und einige Notaufnahmen teils erst seit kürzerer Zeit partizipieren. Untersuchungen an Samstagen und Sonntagen durch den rechtsmedizinischen Rufbereitschaftsdienst erfolgten hauptsächlich im Auftrag der ermittelnden Behörden oder nach konsiliarischer Anfrage der medizinischen Kolleginnen und Kollegen. Die Untersuchungen, bei denen eine konsiliarische Unterstützung in Form einer Untersuchung durch die Rechtsmedizin erfolgte, wurden in die Auswertung miteinbezogen. Eine generell geringere Nachfrage nach Vertraulicher Spurensicherung ist deshalb aus den erhobenen Daten nicht abzuleiten; gerade Notaufnahmen berichten ein vermehrtes Untersuchungsaufkommen von Gewalt betroffener Personen am Wochenende [14].

In der Gesamtauswertung wurden die meisten Untersuchungen an Montagen durchgeführt, was wiederum den Öffnungszeiten der rechtsmedizinischen Ambulanz und der Einrichtungen des psychosozialen Hilfenetzwerkes und dem daraus folgenden Nachhang an Fällen des vorausgegangenen Wochenendes geschuldet sein mag. Unabhängig von einem vermehrten Aufkommen von Untersuchungen an bestimmten Wochentagen bedarf es für Betroffene einer idealerweise jederzeit erreichbaren qualifizierten Anlaufstelle zur Untersuchung einschließlich Verletzungsdokumentation und Spurensicherung.

Die initial vermutete Unterrepräsentation Betroffener mit Wohnsitz im strukturschwachen, regionalen Umland ließ sich im Rahmen unserer Studie bestätigen. Von den von Gewalt betroffenen Personen mit Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen, die sich zur Untersuchung vorstellten, stammten 90,35 % aus dem unmittelbaren Einzugsgebiet des Institutes für Rechtsmedizin Düsseldorf, dagegen lediglich 9,65 % aus anderen Landkreisen Nordrhein-Westfalens.

Die Erreichbarkeit der Anlaufstelle „Institut für Rechtsmedizin Düsseldorf“ nahm, wie bereits Abb. 5 eindrücklich darstellt, mit der Entfernung des Wohnortes der Betroffenen rasch ab. Die Ursache der im Vergleich maßgeblich höheren Anzahl an Untersuchungen von Betroffenen mit privatem Untersuchungsauftrag und Wohnsitz im Landkreis Düsseldorf ist somit am ehesten auf die Nähe zu einer kostenfreien, niederschwelligen Untersuchungsmöglichkeit zurückzuführen. Die bislang fehlende Erreichbarkeit von Untersuchungsstellen für Privatpersonen in strukturschwachen Regionen ist sicher ungünstig, wenn Flächendeckung erreicht werden soll.

Zwar ist aufgrund der geringeren Bevölkerungsdichte in weniger dicht besiedelten, ländlichen Gebieten von einer vergleichsweise geringeren Anzahl an von Gewalt betroffener Personen als in urbanen Ballungsgebieten auszugehen, ein grundsätzlicher Bedarf ist dennoch anzunehmen. Die Relevanz niederschwelliger Angebote zeigte sich beispielsweise in einer Zunahme von Untersuchungen nach Etablierung einer regionalen Untersuchungsstelle im Kreis Pinneberg [7] als Außenstelle des Hamburger Institutes für Rechtsmedizin.

Unabhängig von der Anzahl der Untersuchungen sollte jeder von Gewalt betroffenen Person – unabhängig von ihrem Wohn- bzw. Aufenthaltsort – der Zugang zu einer fachgerechten Untersuchung und Verletzungsdokumentation möglich sein.

Im Koalitionsvertrag des Landes Nordrhein-Westfalen für die Jahre 2012–2017 ist bereits ein bedarfsgerechtes Angebot zur anonymen Spurensicherung bei sexualisierter und häuslicher Gewalt angestrebt worden [16]. Der Koalitionsvertrag der nordrhein-westfälischen Landesregierung von 2017–2022 postulierte eine deutschlandweite Ermöglichung der anonymisierten Beweissicherung bei Gewalt- und Missbrauchsfällen [5], und laut Koalitionsvertrag der 19. Wahlperiode soll die gerichtsverwertbare vertrauliche Beweissicherung flächendeckend und wohnortnah umgesetzt werden [10]. Dies soll nun durch die Umsetzung des SGB V verwirklicht werden.

Konkret sollen zur Verbesserung der Versorgung des strukturschwachen Umlandes bereits etablierte medizinische Strukturen wie beispielsweise der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen anderer Fachbereiche wie Gynäkologie und Pädiatrie, der zentralen Notaufnahmen nahegelegener Praxen und unfallchirurgische Kliniken eingebunden werden. Diese stellen oftmals eine erste Anlaufstelle für gewaltbetroffene Personen dar [13,14,15] und sind in der Regel gut bekannt und erreichbar. Eine optimale Versorgung setzt hierbei jedoch voraus, dass Ärztinnen und Ärzte Gewaltfolgen richtig einordnen, sie gerichtsfest dokumentieren, Spuren korrekt sichern und Betroffene sachkundig zu weiterführenden beratenden und therapeutischen Angeboten im psychosozialen Sektor informieren und ggf. weiterleiten können.

Hierfür soll das in Düsseldorf angesiedelte Projekt iGOBSIS (gobsis.de) samt seinem bereits bestehenden Netz aus Kliniken und Praxen im Zuge der Umsetzung der Neuregelungen des SGB V ausgeweitet werden. Das iGOBSIS-Konzept unterstützt Ärztinnen und Ärzte aus ganz Nordrhein-Westfalen über ein Informationsportal sowie eine webbasierte Dokumentationsanwendung bei der gerichtsfesten Dokumentation und regelt den Transport und die sachgemäße Lagerung von asservierten Spurenträgern. Begleitend finden regelmäßige Schulungen zur Versorgung von Gewalt betroffener Personen statt, und es besteht das Angebot einer jederzeit erreichbaren, telekonsiliarischen, rechtsmedizinischen Beratung. Diese bereits etablierten Strukturen sollen erhalten bleiben und durch Teilnahme weiterer Kliniken insbesondere in den Düsseldorf-fernen Landkreisen Nordrhein-Westfalens und weiterer rechtsmedizinischer Institute erweitert werden. Dabei soll iGOBSIS für die Ertüchtigung von Kliniken, zur Qualitätssicherung sowie für ein Monitoring der Nutzung des Angebotes in der Fläche genutzt werden.

Fazit für die Praxis

Die hier präsentierten Daten aus der Zeit vor der Umsetzung der Neuregelungen des SGB V belegen die dringende Notwendigkeit von Maßnahmen, die eine leichte Erreichbarkeit von Anlaufstellen für die Vertrauliche Spurensicherung eröffnen. Dazu braucht es gute Konzepte; der Weg zu flächendeckenden Angeboten ist weit. Es bleibt abzuwarten, ob die dafür in NRW in Entwicklung befindliche Strategie gute Voraussetzungen dafür schafft, dass eine gewaltbetroffene Person, unabhängig von Wohn- oder Vorfallsort in Nordrhein-Westfalen, sich jederzeit in der nächstgelegenen Klinik zeitnah zur kostenfreien, anonymen, gerichtsfesten Untersuchung, Verletzungsdokumentation und Spurensicherung vorstellen kann. Dies wird durch eine entsprechende Datenerhebung zu prüfen sein.