Einleitung

Zeitgenössisch wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass nationalsozialistischer (NS) Verbrechen Angeklagte sich mithilfe medizinischer Gutachten vorübergehend oder dauerhaft ihren Prozessen entzogen [26, 30]. Adalbert Rückerl, langjähriger Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle der Justizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, nimmt die Gerichte vor der Anschuldigung in Schutz, vorschnell medizinischen Gutachten gefolgt zu sein. Prozesse gegen NS-Täterinnen und -Täter seien nicht häufiger wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt worden als andere Strafverfahren – zumindest, wenn man das steigende Alter der Beschuldigten berücksichtige [21]. Allerdings: „Es soll hier keineswegs verschwiegen werden, daß manche dieser ärztlichen Gutachten, welche im Endergebnis einzelne Beschuldigte von einer Strafverfolgung freistellten, nicht nur in den Kreisen der Opfer, sondern auch bei verfahrensbeteiligten Juristen Erstaunen auslösten, vor allem dann, wenn bekannt wurde, daß diese als verhandlungsunfähig bezeichneten Beschuldigten bis dahin offenbar durchaus in der Lage waren, nicht nur für kurze Zeit eine anspruchsvolle körperliche und geistige Tätigkeit auszuüben.“Footnote 1

Von 1945 bis 2005 wurden laut Eichmüller [4] ca. 16.740 Personen wegen NS-Verbrechen angeklagt. Gegen 63 % davon wurde das Verfahren eingestellt, wobei in 20 % der Fälle der Tod der Angeklagten der Grund war. Bei den anderen Einstellungsgründen überwiegen der Mangel an Beweisen und die Nichtermittlung des Aufenthaltsortes Beschuldigter. Einstellungen wegen Verhandlungsunfähigkeit erfolgten in 109 Fällen, was 0,65 % der Angeklagten betraf bzw. 3,91 % der Fälle von Einstellungen ausmachte (bei Verfahren, in denen die Hauptverhandlung schon eröffnet war, 6,75 %). Diese Zahlen scheinen Rückerl zu bestätigen. Verhandlungsunfähigkeit war wohl kein dominanter Grund für die Einstellung von Verfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher, aber auch kein zu vernachlässigendes Phänomen. Insbesondere kam es wiederholt zu den von Rückerl angesprochenen aufsehenerregenden Fällen, wie etwa bei den Frankfurter Euthanasie-Prozessen, in denen beschuldigte Ärzte aufgrund von medizinischen Gutachten „wegen lächerlichster Sachen“, wie der damals leitende Staatsanwalt bis heute sagt [28], als dauerhaft verhandlungsunfähig galten, obwohl sie ihre Praxen persönlich weiterführten [1, 7, 31].

Vor diesem Hintergrund wird in der gegenständlichen Arbeit der Fall des wegen nationalsozialistischer Massenmorde strafrechtlich verfolgten ehemaligen SS-Oberführers Erich Ehrlinger untersucht. Ehrlinger wurde 1965 aus der Untersuchungshaft entlassen, nachdem ihn der Gerichtsmediziner Berthold Mueller (Abb. 1) haft- und verhandlungsunfähig erklärt hatte. Im ersten Teil des Beitrags konnten Anhaltspunkte für den taktischen Einsatz gesundheitlicher Belange während der Haft herausgearbeitet werden. Im zweiten Teil des Beitrags soll nun auf den Gerichtsmediziner Berthold Mueller und seine im Fall Ehrlinger erstatteten Gutachten eingegangen werden. Hierbei soll insbesondere geprüft werden, ob und inwiefern dem Vorwurf Simon Wiesenthals, Mediziner hätten Kriegsverbrechern zu einer Art Amnestie verholfen [26, 30], im Fall Ehrlinger aus rechtsmedizinischer Sicht beizupflichten ist.

Abb. 1
figure 1

Berthold Mueller, undatiert. Zur Verfügung gestellt vom Universitätsarchiv Heidelberg. Bildsignatur: POS I 02116

Material und Methoden

Nach beantragter und genehmigter Sperrfristverkürzung wurde eine Analyse der Verfahrensakten im Generallandesarchiv Karlsruhe vorgenommen. Für die Beantwortung der Forschungsfrage erwies sich v. a. die Akte mit der Signatur 309 Karlsruhe 2970 [8] als ergiebig. Die gutachterlichen Äußerungen Muellers wurden mit der von ihm an anderer Stelle geäußerten Lehrmeinung abgeglichen.

Ergebnisse

Berthold Mueller und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus

Berthold Mueller gilt als „einer der Doyens der westdeutschen Gerichtsmedizin in der Mitte des 20. Jahrhunderts“ [11]. Seine wissenschaftlichen Verdienste erwarb sich Mueller, der für eine naturwissenschaftlich-somatisch ausgerichtete Rechtsmedizin stand, v. a. auf den Feldern der Thanatologie und der Schussverletzungen [11, 12]. Durch sein Lehrbuch Gerichtliche und soziale Medizin einschließlich des Arztrechts zusammen mit Kurt Walcher (1938, 2. Aufl. 1944), aber besonders durch das von ihm herausgegebene, zum „Standardwerk“ [5, 12] avancierte Lehrbuch Gerichtliche Medizin (1952, 2. Aufl. 1975), seinem „großen Wurf“ [22], wurde Mueller „in der ganzen Welt bekannt und berühmt“ [29]. Er war mehrmals Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche und soziale Medizin (1935–1937; 1940–1942; 1956–1957), seit 1939 Mitglied der Leopoldina und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Bundesverdienstkreuz I. Klasse [2].

Muellers Nähe zum Nationalsozialismus wird in der Literatur unterschiedlich bewertet. Die Bewertungen umfassen auch tendenziell apologetische Positionen, deren Vertreter Mueller v. a. Opportunismus unterstellen [23]. Auf der Basis der bislang in der Literatur erschlossenen Akten und Muellers Publikationen liegt der Schluss, „daß er ein sehr engagierter Befürworter des Nationalsozialismus gewesen ist“Footnote 2 [10], allerdings viel näher. Das ergibt sich im Wesentlichen aus 5 Aspekten:

  • Zu nennen ist zunächst seine frühe Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen seit 1933, insbesondere in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und in der Sturmabteilung (SA). Diese Beitritte durch reinen Opportunismus zu erklären, ist zweifelhaft, war Mueller doch bereits seit 1923 Mitglied der Deutschvölkischen Freiheitspartei (DVFP) [3]. Zwar mag man über die Entwicklung und historische Einordnung der DVFP streiten [15], sie war aber unstrittig eine im Kern nationalistische, antisemitische und demokratiefeindliche Partei, die im Parteienspektrum der Weimarer Republik zusammen mit der NSDAP den rechten Rand besetzte.

  • Seine Publikationen, insbesondere sein Beitrag „Nationalsozialistische Strafgesetzgebung“, aber auch sein frühes, mit Walcher zusammen verfasstes Lehrbuch, drücken explizite Unterstützung nationalsozialistischer Positionen aus: „Auch die Vernichtung lebensunwerten Lebens soll nach den Vorschlägen der preußischen Denkschrift ermöglicht werden. Ich glaube, daß hiergegen weder vom völkischen noch vom ärztlichen Standpunkt Bedenken geltend zu machen sind“Footnote 3 [16]. Ähnlich affirmative Aussagen zur nationalsozialistischen Politik lassen sich auch für Zwangssterilisationen, die Nürnberger Rassegesetze oder die Relativierung der ärztlichen Schweigepflicht belegen. An all diesen Punkten rückt Mueller die „Volksgemeinschaft“ und die Interessen des nationalsozialistischen Staates in den Mittelpunkt medizinischer ÜberlegungenFootnote 4 [25].

  • Seine Einsetzung als Vorstand der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche und soziale Medizin 1935 legt nahe, dass man in Mueller einen linientreuen Nationalsozialisten sah. Die nationalsozialistische Gleichschaltung betraf sehr bald nach der Machtergreifung auch die medizinischen Gesellschaften und Vereine, sodass die Vorstände von Reichinnenministerium und Reichsärzteführer entsprechend „durchgeprüft“ wurdenFootnote 5 [10]. So galt für Mueller (und noch mehr für seinen Stellvertreter Gerhard Buhtz): „In terms of ideology, there is no doubt about their loyalties“Footnote 6 [14].

  • Ähnliches gilt für Muellers Berufung an den Heidelberger Lehrstuhl 1937. Nachdem sein Vorgänger im Amt, der Österreicher Schwarzacher, 1936 nach Graz ging, wurden an der Fakultät Klagen ob „seiner [Schwarzachers] weltanschaulichen Haltung“ laut, die „sehr weit entfernt von den Grundsätzen des Nationalsozialismus [war]. […] Es bedürfte auch hier einer erfahrenen und politisch einwandfreien Persönlichkeit, um wieder gründlichen Wandel zu schaffen“Footnote 7 [11]. Der Dekan der Fakultät schrieb an das Kultusministerium: „Selbstverständlich glaubt die Fakultät, besonderes Gewicht darauf legen zu müssen, auch den Lehrstuhl für gerichtliche Medizin mit weltanschaulich nationalsozialistisch ausgerichteten Professoren zu besetzen, handelt [es] sich doch auch hier gerade um ein medizinisches Fach, das im Kampf um die Neugestaltung des deutschen Lebens innerhalb der Rechtspflege in erster Front des weltanschaulichen Kampfes steht.“Footnote 8 Mueller erhielt den Ruf nach Heidelberg also nicht nur aufgrund seiner fachlichen Eignung, sondern auch, weil er als politisch-weltanschaulich geeignet galt. So favorisierte der damalige Dekan Schneider Mueller, weil er einerseits jünger war als seine Kontrahenten, aber eben auch weil er „als Nationalsozialist aktivistisch“Footnote 9 war [11].

  • Als beratender Gerichtsmediziner im Range eines Oberstabsarztes war Mueller mit der Aufklärung von Selbstverstümmelungen von Wehrmachtssoldaten („Wehrkraftzersetzung“) betraut. Wehrkraftzersetzung galt als Hochverrat, als „Angriff des Straftäters auf die ‚germanische‘ Kernsubstanz des deutschen Volkes“Footnote 10, und war mit der Todesstrafe bedroht [6]. Mueller beschäftigte sich auch wissenschaftlich mit Schusswunden und Selbstverstümmelung, wie seine Publikationen zeigen. Auf den Arbeitstagungen der beratenden Ärzte trug er mehrmals hierzu vor [6, 25] und regte auf der Tagung im Mai 1944, die im SS-Lazarett Hohenlychen stattfand, eine Verschärfung der Vorschriften an, um auch fahrlässige Selbstverstümmelungen, die nicht immer klar von vorsätzlichen zu unterscheiden seien, einer „gerichtlichen Bestrafung“ zuführen zu können. „Disziplinarstrafen reichen nicht immer aus“Footnote 11 [17]. Mueller war sowohl an der Erstellung von Merkblättern, die Truppen- und Lazarettärzten das Erkennen von Selbstverstümmelungen ermöglichen sollten [6], als auch wahrscheinlich an der BegutachtungFootnote 12 möglicher „Wehrkraftzersetzer“ selbst beteiligt [10]. Die Tätigkeit Muellers und anderer Gerichtsmediziner führte, v. a. in der letzten Kriegsphase, zu vielen Todesurteilen und Hinrichtungen [6, 10, 13].

Mueller zu Haft- und Verhandlungsfähigkeit

In seinem Beitrag „Nationalsozialistische Gesetzgebung“ thematisierte Mueller auch das Thema Verhandlungsfähigkeit: „Es erscheint erwünscht, im kommenden Strafprozeßrecht auch den Begriff der Verhandlungsfähigkeit zu formen. Das Reichsgericht verlangt, daß verhandlungsfähige Angeklagte in der Lage sein sollen, sich verständig und verständlich zu verteidigen […]. Mir erscheint diese Forderung etwas weitgehend. […]. Man muß von ihm [dem Angeklagten] verlangen, daß er sich zusammennimmt […]. Die körperliche Seite der Verhandlungsfähigkeit könnte vielleicht derart in Gesetzesform gebracht werden, wenn man sagt, eine Verhandlung […] könne aufgeschoben werden, wenn ihre Durchführung mit einer nahen Gefahr für das Leben und die Gesundheit […] verbunden sei […]. Wichtig ist, dass man hierbei nur eine Kannbestimmung einführt; bei schweren Verbrechen, etwa einem Morde, würde man auch verhandeln, wenn die Durchführung der Verhandlung mit schweren Gefahren für die Gesundheit oder das Leben des Täters verknüpft ist“Footnote 13 [16].

In seinem mit Kurt Walcher publizierten Lehrbuch von 1944 ging Mueller zunächst auf „die Haft und die medizinische Beurteilung der Haftfähigkeit“ ein: „Nicht selten wird vom Strafgefangenen, aber auch vom Untersuchungsgefangenen Haftunfähigkeit behauptet. […] Sie [die Strafhaft] wird aufgehoben bzw. nicht vollstreckt, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt oder wenn von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen steht. Die Strafvollstreckung darf auch dann aufgeschoben werden, wenn sich der Verurteilte in einem körperlichen Zustand befindet, bei welchem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt unverträglich ist […]. Bei inneren Erkrankungen kommt eine Haftentlassung zunächst nur in Frage, wenn eine nahe Lebensgefahr besteht. […] bei chronischen Erkrankungen […] kann [man] natürlich nicht warten, bis eine lange bestehende Tuberkulose oder ein Diabetes oder gar ein arterieller Hochdruck abgeklungen ist. […] Der Zustand der Diabetiker bessert sich meist in Haft, da hier ihre Ernährung kontrolliert werden kann […]. Für die Haftunfähigkeit von Untersuchungsgefangenen gibt es keine besonderen Vorschriften. Die Gerichte wenden aber stillschweigend die gleichen an, wie sie für die Strafhaft gelten. Allerdings wird die Art der Beschuldigung und die Erheblichkeit des Verdachtes bei der Justizbehörde eine Rolle spielen; sie wird z. B. nicht geneigt sein, einen Mörder aus der Haft zu entlassen, auch dann nicht, wenn eine Lebensgefahr besteht“Footnote 14 [19].

Es lässt sich feststellen, dass Mueller in Abhängigkeit von der Schwere der vorgeworfenen Straftaten eine relativ hohe Schwelle bei der Feststellung einer Haft- und Verhandlungsunfähigkeit befürwortete. Als Beispiel eines chronisch Kranken, dem die Haft wegen der besser zu kontrollierenden Ernährung sogar zur Beförderung seines gesundheitlichen Zustandes gereichen könne, führte er den Diabetiker an. Die medizinische Notwendigkeit einer Spezialdiät hielt Mueller demnach 1944 nicht für einen Hinderungsgrund, einen Kranken zu inhaftieren.

Dass Mueller auch in späteren Jahren noch die Ansicht vertrat, bei der Feststellung der Haft- und Verhandlungsunfähigkeit seien strenge Maßstäbe anzulegen, geht aus dem von ihm herausgegebenen zweibändigen Lehrbuch von 1975 hervor. Hier schrieb er: „Bei anderen Krankheiten [als Geisteskrankheiten] ist eine Aufhebung der Vollstreckung [der Haft] nur vorgesehen, wenn eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist. Diese Bestimmung wird vielfach nicht beachtet. […] Gewisse gesundheitliche Gefahren müssen in Kauf genommen werden.“ Die Bemerkung, dass die Bestimmung, es müsse eine nahe Lebensgefahr vorliegen, häufig nicht beachtet werde, kann durchaus als Missbilligung eines Anlegens zu niedriger Maßstäbe bei der Feststellung der Haftunfähigkeit verstanden werden. Zur Verhandlungsfähigkeit liest man sodann: „Der Angeklagte muss in der Lage sein, sich verständlich und verständig zu verteidigen. Im Interesse der Rechtssicherheit darf diese Anforderung nicht allzu weit ausgedehnt werden, sonst ist es vielfach überhaupt nicht möglich, ein Strafverfahren zu beenden.“ Entsprechend sprach Mueller Empfehlungen aus, wie sich eine Verhandlung auch bei Krankheit des Angeklagten realisieren ließe: „Bei […] Angeklagten, die vielleicht auch krank sind […], tut man gut, dem Gericht die Stellung eines Offizialverteidigers zu raten. Auch pflegt es den Angeklagten und das Gericht zu beruhigen, wenn man empfiehlt, zur Verhandlung einen Arzt zuzuziehen, der mit den nötigen therapeutischen Mitteln […] ausgerüstet ist und der darauf sieht, daß der Angeklagte nicht zu lange Zeit hindurch angestrengt wird. Das Gericht ist jederzeit in der Lage, Pausen einzulegen“Footnote 15 [18].

Muellers Gutachten im Fall Ehrlinger

Die wörtlichen Zitate sind sämtlich aus der nichtpaginierten Akte mit der Signatur 309 Karlsruhe 2970 [8] übernommen worden.

Mit Schreiben vom 05.12.1966 gab die Staatsanwaltschaft Karlsruhe beim rechtsmedizinischen Ordinarius Mueller in Heidelberg ein Gutachten in Auftrag. Zu diesem Zeitpunkt war Ehrlinger seit über einem Jahr auf freiem Fuß. Im Sommer 1966 hatte ein nervenfachärztliches Gutachten ergeben, dass von neurologisch-psychiatrischer Seite keine hinreichend schweren Befunde zu erheben wären, um eine Verhandlungsunfähigkeit zu begründen. Der Nervenarzt wies allerdings darauf hin, dass hinsichtlich der Verdauungsbeschwerden, die Ehrlinger angab, ein Internist Auskunft zu geben habe. Im Gutachtenauftrag an Mueller war entsprechend erwähnt, dass Mueller die erforderlichen Fachärzte beiziehen möge, und zwar nach seiner Wahl. Mueller sollte sich laut Auftragsschreiben zu folgenden Fragen äußern: „1) Ist Ehrlinger in einer normalen Vollzugsanstalt haftfähig? 2) Ist Ehrlinger unter den Bedingungen des Zentralkrankenhauses in Hohenasperg haftfähig? 3) Ist Ehrlinger derzeit verhandlungsfähig […]? 4) Ist von einer erneuten Inhaftierung des Angeklagten […] im Zentralkrankenhaus Hohenasperg eine Verbesserung oder Verschlechterung der Verhandlungsfähigkeit zu erwarten?“

Mueller ließ Ehrlinger daraufhin internistisch untersuchen, es wurde ein Dumping-Syndrom nach Magenteilresektion bestätigt. In seinem Gutachten vom 16.03.1967 schrieb Mueller: „Beim Angeklagten […] bestehen nach seinen Ausführungen sowie den Angaben seiner Ehefrau folgende Beschwerden: 1. Beschwerden seitens des Magens: Wenn er gegessen hat, kommt es zu erheblichem Durchfall oder auch zu einem Schwächegefühl, Mattigkeit und Benommenheit, die sich bis zur Apathie steigert, sowie Schweißausbruch. Das Herz schlägt schnell, dieser Zustand dauert etwa 1 bis 1 ½ Stunden; er muß sich hinlegen. 2. Beschwerden seitens des Kopfes: Bohrende Kopfschmerzen von längerer Dauer, Unsicherheit beim Gehen, Vergeßlichkeit, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Flimmern vor den Augen. Diese Krankheitserscheinungen sind lt. Krankengeschichte auch im Zentralkrankenhaus zu Tage getreten; es kam dort auch zu affektiven Explosionen. Zu 1: Die Beschwerden […] werden erklärt durch ein sog. Dumping-Syndrom. […] Zu 2. Die Beschwerden des Kopfes konnten medizinisch nicht einwandfrei geklärt werden, es kann sich z. E. um nervös bedingte reaktive Beschwerden handeln, man muß aber durchaus auch an eine frühzeitig auftretende Verkalkung der Schlagadern des Gehirns denken […]. Nunmehr möchte ich auf die von der Staatsanwaltschaft aufgeworfenen Fragen eingehen: 1. Die Durchführung der notwendigen in der Hauptsache diätischen Behandlung in einer normalen Vollzugsanstalt wird nicht möglich sein, schon gar nicht die mit der diätischen Behandlung verbundene persönliche Pflege des Kranken, wie sie die Ehefrau durchführt. 2. Das Zentralkrankenhaus auf dem Hohenasperg verfügt über Fachärzte und Pflegemöglichkeiten. […] Man muß aber damit rechnen, daß nach und nach erhebliche Störungen auftreten; auch ein im Sanitätsdienst geschulter Beamte [sic!] wird auf Dauer nicht die gleiche Betreuung übernehmen können wie die Ehefrau. […] 3. […] Wenn die Verhandlung durchgeführt werden sollte, müßte der Angeklagte auch in der Verhandlung durch seine Ehefrau betreut werden können. Man müßte – vielleicht alle zwei Stunden – die Hauptverhandlung unterbrechen, damit Ehrlinger entsprechende Nahrung erhalten kann. Auch bei aller Sorgfalt wird man damit rechnen müssen, daß bei ihm während der Verhandlung Durchfälle, Schweißausbrüche und Herzbeschleunigungen auftreten. Die Verhandlung müßte dann unterbrochen werden. Man muß weiterhin damit rechnen, daß der durch die Anfälle bzw. die damit verbundene notwendige äußerst knappe Ernährung geschwächte Angeklagte immer wieder geltend macht, er könne sich nicht hinreichend konzentrieren. Er wird aller Voraussicht nicht in der Lage sein, ‚sich verständig und verständlich‘ zu verteidigen, selbst wenn ihm ein Anwalt als Verteidiger zur Verfügung steht. Die Frage nach der Verhandlungsfähigkeit muß unter diesen Umständen verneint werden. 4. Von einer erneuten Inhaftierung des Angeklagten im Zentralkrankenhaus Hohenasperg ist keinesfalls eine Verbesserung, eher eine Verschlechterung der Verhandlungsfähigkeit zu erwarten.“

Der Anlage 1 des Gutachtens sind Angaben der Tochter und der Ehefrau sowie die Ergebnisse der Exploration Ehrlingers zu entnehmen. Unter anderem ist der Tagesablauf Ehrlingers beschrieben. Demnach sei Ehrlinger vormittags regelmäßig zur Polizei gegangen, wo er sich zu melden hatte, und habe davor oder danach die Bibliothek aufgesucht.

Am 12.03.1968, ein Jahr nach dem ersten Gutachten, erstattete Mueller ein weiteres Gutachten zu denselben Fragen. Hier hieß es: „Der Zustand des Angeklagten bezüglich des Dumping-Syndroms und der Gehirnschlagaderverkalkung hat sich nach der letzten Untersuchung nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Eine Verbesserung ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.“

Am 28.06.1968 wurde das Verfahren gegen Ehrlinger vorläufig eingestellt. Die endgültige Einstellung des Verfahrens wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit folgte nach einem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Otto Hallen vom Juni 1969, dem Mueller beitrat. Als freier Mann soll Ehrlinger noch am Alltagsleben teilgenommen haben, indem er mit seiner Frau einkaufen ging [26] und im Garten arbeitete [24]. Er wurde 93 Jahre alt.

Diskussion

Die Rolle ärztlicher Gutachter im Strafverfahren gegen Erich Ehrlinger wurde von historischer Seite umfassend untersucht [25]. So wurden die Gutachter-Persönlichkeiten und das Verhalten aller Verfahrensbeteiligten betrachtet und gewürdigt, für die Frage der Schlüssigkeit der Gutachten auf fachlicher Ebene aber ist die rechtsmedizinische Analyse eine wichtige Ergänzung.

Mueller begründete die Haft- und Verhandlungsunfähigkeit Ehrlingers in erster Linie mit einem Dumping-Syndrom nach Magenteilresektion. Das Dumping-Syndrom ist eine Komplikation nach Operationen, die die Anatomie und Innervation des Magens verändern, sodass unverdaute Nahrung schnell in den Dünndarm gelangt [27]. Man unterscheidet das Früh- vom Spät-Dumping-Syndrom, die einzeln oder zusammen auftreten können. Das Früh-Dumping-Syndrom äußert sich innerhalb der ersten Stunde nach einer Mahlzeit durch gastrointestinale Symptome (z. B. Bauchschmerzen, Übelkeit und Durchfall) und vasomotorische Symptome (z. B. Herzklopfen, Schwitzen, Tachykardie, Hypotonie, Müdigkeit, selten Synkopen). Das Spät-Dumping-Syndrom tritt in der Regel eine Stunde bis drei Stunden nach einer Mahlzeit auf und ist Ausdruck einer Hypoglykämie mit entsprechender Symptomatik. Ein Dumping-Syndrom kann schwächend und emotional belastend sein. Zu einem erheblichen Gewichtsverlust kann es kommen, wenn Betroffene die Nahrungsaufnahme vermeiden.

In zeitgenössischen Lehrbüchern der Chirurgie, z. B. in dem von Hellner et al. [20], und der Inneren Medizin, z. B. in dem von Dennig [9], wird die Symptomatik des Dumping-Syndroms entsprechend beschrieben. Empfohlen wird v. a. ein Hinlegen nach den Mahlzeiten, was in der Regel ausreiche, um die Beschwerden zu lindern. Im Lehrbuch von Dennig wird außerdem die Einnahme kleinerer, aber dafür häufigerer Mahlzeiten vorgeschlagen. Noch heute ist eine diätische Therapie das Mittel erster Wahl, die Symptome zu lindern [27].

Ein Dumping-Syndrom kann also erhebliche Erschwernisse bei den alltäglichen Verrichtungen bedeuten und verlangt eine spezielle Diät. Eine nahe Lebensgefahr ist indes nicht zu erkennen, solange ein kritisches Untergewicht vermieden wird. Diätische Behandlungen waren, wie man den Ausführungen Muellers über zuckerkranke Häftlinge entnehmen kann, für ihn per se kein Grund Haftunfähigkeit anzunehmen. Obgleich die Erfordernisse bei Personen mit Dumping-Syndrom anders sind als bei Diabetikern, die Diät individueller abgestimmt werden muss und die Ernährung aufwendiger sein mag, ist in Ehrlingers Fall nicht zu erkennen, warum selbst in einem Justizkrankenhaus keine Unterbringung möglich gewesen sein soll, zumal nach Muellers Lehrmeinung ja sogar gewisse gesundheitliche Risiken in Kauf zu nehmen seien. Mueller argumentierte in seinen Gutachten wiederholt damit, dass allein die Ehefrau Ehrlingers in der Lage wäre, Ehrlinger adäquat zu ernähren und zu pflegen. Diese Argumentationsweise steht im Widerspruch zu Muellers Ausführungen an anderer Stelle, wo er in Abhängigkeit von der Schwere der vorgeworfenen Straftaten – und im Fall Ehrlinger ging es um Massenmorde – bei der Feststellung einer Haft- und Verhandlungsunfähigkeit strenge Maßstäbe befürwortete und dazu riet Wege aufzuzeigen, wie ein Strafverfahren gegen eine kranke Person zum Abschluss gebracht werden könne. In Anbetracht dessen ist nicht nachvollziehbar, dass Mueller der persönlichen Pflege durch die Ehefrau einen so hohen Stellenwert beimaß. Ein Mensch, der regelmäßig seine Vormittage außerhäusig in einer Bibliothek verbringt, dürfte auch in der Lage sein, halbtags, mit Pausen, in einem Schwurgerichtssaal zu sitzen. Dass der währenddessen angeblich notwendige weitgehende Verzicht auf Nahrung die Konzentrationsfähigkeit bis zur Verhandlungsunfähigkeit schwächen würde, scheint unter Berücksichtigung der Gesamtumstände eher eine vage Vermutung denn eine begründbare Annahme gewesen zu sein.

Man kommt insgesamt zu dem Ergebnis, dass Mueller die gesetzlichen Vorgaben im Fall Ehrlinger in auffälliger Weise zugunsten des Angeklagten anwendete und damit von der eigenen, zeitlich konstant geäußerten Lehrmeinung abwich. Sachverständige, die von Gerichten beauftragt werden, müssen fachlich und persönlich für ihre Aufgaben geeignet sein und dürfen nicht befangen sein. Mithin stellt sich im vorliegenden Fall die Frage, ob Mueller als Gutachter persönlich geeignet war, bzw. ob Befangenheit vorlag. Auf eine Bekanntschaft oder gar Freundschaft Muellers mit Erich Ehrlinger gibt es keine Hinweise. Die gemeinsame NSDAP-Vergangenheit eines Gutachters und weiterer Prozessbeteiligter dürfte in den 1960er-Jahren nicht ungewöhnlich gewesen sein, könnte aber je nach Fallkonstellation die Befangenheit eines Gutachters erklären. Letztendlich lässt sich die Frage der Befangenheit rückblickend nicht mehr beantworten, wenngleich Befangenheit ein möglicher Grund ist, warum Mueller die Haft- und Verhandlungsfähigkeit Ehrlingers so beurteilte, wie er es tat.

Der Historiker Peter Stadlbauer, der die Biografie und strafrechtliche Verfolgung Ehrlingers in seiner Dissertation eingehend untersuchte, kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass „der frühere Oberfeldarzt bei der Heeresgruppe Nord dem früheren BdS [Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes] in Minsk einen ‚Kameradendienst‘ erwiesen hat, mit dem das Strafverfahren durch eine ‚medizinische Amnestie‘ beendet wurde“Footnote 16 [25]. Diese Sichtweise ist gerade auch unter Berücksichtigung von Muellers Verhältnis zum Nationalsozialismus mühelos nachzuvollziehen. Zumindest, was den Gutachter Berthold Mueller angeht, kann der Vorwurf, Mediziner hätten Kriegsverbrechern zu einer Art Amnestie verholfen, daher auch aus rechtsmedizinischer Sicht nicht entkräftet werden. Um den Fall Ehrlinger im Hinblick auf eine „Amnestie durch die Hintertür“ [26] vollumfänglich einordnen zu können, bedarf es allerdings noch einer Analyse der nervenärztlichen Gutachten, die im Fall Ehrlinger erstattet wurden, aus forensisch-psychiatrischer Sicht. Mit dem abschießenden psychiatrischen Gutachten, das – entgegen dem früheren psychiatrischen Gutachten – eine Haft- und Verhandlungsunfähigkeit Ehrlingers aufgrund einer ausgeprägten Neurose und Merkmalen einer hirnorganischen Störung ohne Aussicht auf BesserungFootnote 17 feststellt [25], konnte auch ohne Plausibilisierung einer dauerhaften nahen Lebensgefahr für den Angeklagten das Verfahren endgültig eingestellt werden. Eine solche Verfahrenseinstellung aufgrund von „Geisteskrankheiten“ [18] widerspräche (sofern die Diagnose zuträfe und die Folgen entsprechend ausgeprägt gewesen wären) auch nicht Muellers strengen fachlichen Maßstäben. Anders aber verhält es sich bei seinen eigenen Gutachten, welche den Prozess gegen Ehrlinger insofern entscheidend mitbeeinflusst haben, als dass zum Zeitpunkt von Muellers Gutachtenstellung keine hinreichenden neurologischen oder psychiatrischen Befunde für eine Verfahrenseinstellung vorlagen.

Fazit für die Praxis

  • Bei der Begutachtung des wegen nationalsozialistischer Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgten SS-Oberführers Erich Ehrlinger in Bezug auf dessen Haft- und Verhandlungsfähigkeit hielt sich der deutsche Gerichtsmediziner Berthold Mueller in den 1960er-Jahren nicht an die auch von ihm publizierten Begutachtungsstandards.

  • Die gutachterliche Beurteilung einer Haft- und Verhandlungsfähigkeit sollte grundsätzlich unabhängig von politischen oder andersartigen Gemeinsamkeiten mit der zu untersuchenden Person erfolgen. Bei entsprechenden Gewissenskonflikten sollte der Untersuchungsauftrag durch den potenziellen Gutachter aufgrund der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.