Einleitung

Mit dem Gewaltschutzgesetz von 2002 wurden in Deutschland zentrale rechtliche Vorgaben zur Verhinderung von Gewalt im Allgemeinen und von häuslicher Gewalt im Besonderen geschaffen. Insbesondere der Grundsatz „Wer schlägt, muss gehen – das Opfer bleibt in der Wohnung“ ist im Gewaltschutzgesetz verankert [1]. Mit dem Übereinkommen des Europarates zu Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der sog. Istanbul-Konvention von 2011, verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten zur Bekämpfung häuslicher Gewalt.

Gemäß M. Schwander [2] liegt häusliche Gewalt dann vor: „Wenn eine Person in einer bestehenden oder einer aufgelösten familiären oder partnerschaftlichen Beziehung in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität verletzt oder gefährdet wird, und zwar entweder durch Ausübung oder Androhung von Gewalt oder durch mehrmaliges Belästigen, Auflauern oder Nachstellen“. Laut Ohl [3] kann neben körperlicher und sexueller Gewalt auch ökonomische Gewalt (z. B. Erzeugung finanzieller Abhängigkeit), psychische Gewalt (z. B. Anschreien, Demütigen, Beleidigen, Bedrohen), emotionale Gewalt (z. B. Kontrolle) und soziale Gewalt (Einwirkung auf das soziale Umfeld) ausgeübt werden. Während bei körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt eine strafrechtliche Zuordnung zu Tatbeständen gelingt, kann dies bei ökonomischer, emotionaler und sozialer Gewalt durchaus schwierig bis unmöglich sein [4]. Eine trennscharfe Zuordnung zu strafrechtlichen Delikten gelingt jedenfalls für den Bereich der körperlichen Gewalt [4]. Die vorliegende Studie fokussiert sich daher auf körperliche häusliche Gewalt. Der strafrechtlichen Verfolgung und ggf. Ahndung von häuslicher Gewalt kommt eine wesentliche Bedeutung zu, auch wenn u. U. bereits die Androhung einer Strafanzeige oder das Erscheinen der Polizei als Abschreckung fungieren kann [5].

Dunkelfeldstudien mit Befragungen zu Erfahrungen mit Kriminalität, aber auch Opfererfahrungen im privaten Bereich von Familie und Haushalt einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung ermöglichen eine realistische Abschätzung von Fallzahlen und eine zumindest grobe Einordnung der Art der Gewalterfahrung und des Täterkreises. Befragungen können jedoch verzerrte Antwortmuster produzieren. Eine Traumatisierung durch Gewaltanwendung kann sich in einem Antwortverhalten niederschlagen, das von den Interviewern nicht kontrolliert werden kann [6]. Forensische Hellfeldstudien beschäftigten sich im Wesentlichen mit der Charakterisierung der Kollektive an Personen, die in einer speziellen forensischen Untersuchungsstelle begutachtet wurden. Die vorliegende Hellfeldstudie sollte diesen Auswahlbias vermeiden und eine umfassende Auswertung aller angezeigten Fälle häuslicher Gewalt eines Jahres im gesamten Bundesland Thüringen vornehmen. In vergleichbaren Studien wurden lediglich Stichproben staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsakten gezogen [5, 7,8,9].

Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine deskriptive Darstellung von Daten zu den Tatbeteiligten, zu Umgebungsfaktoren, zu den Taten sowie v. a. zur Strafverfolgung. In einer separaten Publikation soll der Stellenwert der medizinischen Verletzungsdokumentation detaillierter betrachtet werden.

Material und Methoden

In Zusammenarbeit mit der Landesstelle Gewaltprävention des Thüringer Ministeriums für Soziales, Familie und Gesundheit wurden unter Mitwirkung von Juristen, Polizeibeamten und Kriminologen umfassende Auswertebogen erarbeitet.

Ein Auswertebogen betraf das Verfahren und umfasste die Rubriken Aktenzeichen, Seitenzahl, Staatsanwaltschaft, Polizei, Tatzeitraum, Mitteilung an die Polizei, Tatbeteiligte, Tatort, Vorfall, Vorgeschichte häuslicher Gewalt, Gefahrenabwehrmaßnahmen der Polizei, Zeugenvernehmungen, Abschluss der polizeilichen Ermittlungen, Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Der zusätzliche Auswertebogen zum Hauptverfahren umfasste die Rubriken Aktenzeichen, Hauptverfahren (Strafbefehl, Einspruch, Eröffnungsbeschluss, Art des Gerichtes, Verhandlungstage etc.) sowie Sachverständigengutachten, Urteil, Rechtskraft, Berufung, Revision.

Je ein weiterer Auswertebogen betraf Beschuldigte und Geschädigte und umfasste die Rubriken Aktenzeichen, Personendaten, Vernehmungen, Bildung, Beziehung zu anderem Beteiligten, Haushalt, minderjährige Kinder im Haushalt, Erkrankungen, Verletzungen, Verletzungsdokumentation, Bilddokumentation, Spurensicherung, Spurenuntersuchung, Substanzbeeinflussung, Beratungsangebote, Vorstrafen.

Alle 1403 Ermittlungsakten der 4 thüringischen Staatsanwaltschaften eines Jahres, welche nach der verbindlichen Definition der Thüringer Generalstaatsanwaltschaft unter der Rubrik „häusliche Gewalt“ archiviert worden waren und Tatbestände gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit betrafen, wurden im Original eingesehen. Die verbindliche Definition lautet: „Häusliche Gewalt liegt vor, wenn in räumlicher Beziehung zusammenlebende Personen innerhalb einer bestehenden oder in Auflösung befindlichen familiären, ehelichen oder eheähnlichen Beziehung physische oder psychische Gewalt ausüben oder androhen, sofern das Delikt seine Wurzeln in der Lebensgemeinschaft hat.“

Um sicherzustellen, dass die Ermittlungsverfahren zum Zeitpunkt des Studienbeginns im Jahr 2012 sicher abgeschlossen waren, wurde auf die Akten des Jahres 2009 zurückgegriffen.

Die Auswertung erfolgte durch 4 Studierende der Medizin nach Einarbeitung durch 2 erfahrene Fachärzte für Rechtsmedizin sowie eine Staatsanwältin. Im Rahmen der Akteneinsicht wurde der Auswertebogen manuell ausgefüllt. Etwa jeder 10. Fall wurde von einem der beiden erfahrenen Fachärzte für Rechtsmedizin auf Korrektheit der Auswertung kontrolliert. Pro Fall waren also mindestens 3 Auswertebogen auszufüllen (Verfahren, Beschuldigte(r), Geschädigte(r)).

Nach der Auswertung der Akten wurde in Anlehnung an die umfangreichen Auswertebögen eine ebenso umfangreiche FileMaker©-Datenbank durch einen Informatiker des Institutes programmiert. Die manuell ausgefüllten Auswertebögen wurden durch eine Dokumentationsassistentin des Institutes in die Datenbank übertragen. Bei Feststellung von Unstimmigkeiten des manuell ausgefüllten Bogens durch die Dokumentationsassistentin bei der Datenübertragung wurde die Originalakte durch einen der beiden erfahrenen Fachärzte für Rechtsmedizin erneut ausgewertet. Somit wurde die Auswertung der Ermittlungsakte zum einen stichprobenartig und zum anderen bei der Übertragung in die Datenbank in allen Fällen durch einen weiteren unabhängigen Untersucher überprüft. Aufgrund des Umfanges der Auswertebögen und des daraus resultierenden Bearbeitungsaufwandes, der zu etablierenden Programmierung und Füllung der Datenbank sowie der zwischenzeitlich zu bewältigenden koordinativen und organisatorischen Herausforderungen konnte die Studie letztendlich 10 Jahre nach Studienbeginn abgeschlossen werden.

Die Datenbank erlaubt eine systematische Filterung nach spezifischen Items und einen Export der gefilterten Items zur statistischen Auswertung mittels Excel und SPSS© (IBM, Stanford, CA, USA).

Aus den in der Datenbank erfassten Daten wurden relative Häufigkeiten berechnet und z. T. grafisch dargestellt, um die potenziellen Einflussfaktoren auf die häusliche Gewalt zu dokumentieren. Für einige binäre potenzielle Einflussfaktoren wurden Vierfeldertafeln im Fall-Kontroll-Design erstellt. Hier wurden die Odds Ratios geschätzt, 95 %-Konfidenzintervalle berechnet und die p-Werte unter der Nullhypothese H0: „kein Zusammenhang zwischen Einflussfaktor und dem Auftreten häuslicher Gewalt“ bestimmt. Hierbei stellen die Personen aus der Studie die Stichprobe dar und die Bevölkerung Thüringens bzw. Deutschlands die Kontrollgruppe. Die so entstandene Tab. 1 ist als Zusammenfassung verschiedener Vierfeldertafeln zu verstehen. Zum Beispiel wird in Tab. 1, Reihe 1 die Geschlechterverteilung der Beschuldigten (Fälle) als Faktor mit den Ausprägungen m und w jener der Thüringer Gesamtpopulation 2009 der Altersgruppe 18–85 Jahren [10] (Kontrollen) gegenübergestellt (Tab. 1):

  • Ausprägung 1/Ausprägung 2 vs. Fälle/Kontrollen,

  • männlich/weiblich vs. Beschuldigte/Thüringenpop. 18-85 2009.

Tab. 1 Ergebnisse der Inferenzstatistik: (Ausprägung 1/Ausprägung 2) vs. (Fälle/Kontrollen)

Ergebnisse

Die 1403 analysierten Ermittlungsakten enthielten 1430 beschuldigte und 1472 geschädigte Personen diverser Nationalitäten, aber auch unbekannter Herkunft (inkl. Personen mit mehreren Nationalitäten), wobei der größte Anteil mit jeweils über 90 % sowohl Beschuldigter als auch Geschädigter aus Deutschland stammte. Von den weniger als 8 % aus dem Ausland stammenden Personen waren die meisten aus anderen europäischen Ländern und aus Asien (Abb. 1). Thüringen hatte im Vergleich im Jahr 2009 einen Ausländeranteil von nur 2,2 % (Tab. 1, Reihe 3).

Abb. 1
figure 1

Nationalitäten der Beschuldigten (links) und der Geschädigten (rechts), im unteren Teil die Nationalitäten der nicht aus Deutschland stammenden Personen

Von den Beschuldigten waren 82,31 % männlich, während von den Geschädigten 73,85 % weiblich waren. Im Thüringer Zensus 2009 waren Frauen mit 50,23 % und Männer entsprechend mit 49,77 % vertreten (Tab. 1, Reihe 1 und Reihe 2). Die Altersverteilung der Beschuldigten und Geschädigten ist in Abb. 2 dargestellt.

Abb. 2
figure 2

Alters- und Geschlechterverteilung der Beschuldigten (a) und der Geschädigten (b)

Die Schulbildung war in den Ermittlungsakten nur bei ca. 40 % der Beschuldigten und weniger als 12 % der Geschädigten dokumentiert worden. Hier zeigt sich für die erfassten Geschädigten durchschnittlich eine höhere Bildung als für die Beschuldigten, von denen fast 90 % lediglich über einen Hauptschulabschluss verfügten. Von den Beschuldigten und Geschädigten gaben jeweils etwas mehr als 30 % an, berufstätig zu sein, und weniger als 30 % an, nicht berufstätig zu sein, während für den Rest keine Angaben aus den Ermittlungsakten hervorgingen. Werden die Personen mit Angaben als neue (repräsentative) Stichprobe genommen, ergibt sich unter den Beschuldigten ein Anteil von 45,25 % nichtberufstätiger Personen. In der Thüringer Gesamtpopulation im Alter von 18 bis 85 Jahren waren 2009 47,61 % nicht berufstätig (Tab. 1, Reihe 4 und Reihe 5).

Die Beziehung oder der Verwandtschaftsgrad der geschädigten zur beschuldigten Person ist in Abb. 3 dargestellt. Fast 75 % aller beschuldigten Personen waren die Ehe- oder Lebenspartner der im jeweiligen Fall Geschädigten. Hiervon waren 20 % der Beschuldigten ehemalige Ehe- oder Lebenspartner.

Abb. 3
figure 3

Verhältnis der Beschuldigten zur geschädigten Person nach Geschlecht

Die Feststellungen von Drogen‑, Alkohol- und/oder Medikamenteneinfluss beruhten auf Zeugenaussagen, sofern sie nicht durch Atem- und/oder Blutuntersuchungen bestätigt worden waren. Bei den Beschuldigten wurde bei mehr als 40 % eine Substanzbeeinflussung dokumentiert, bei den Geschädigten bei weniger als einem Drittel. In etwa 40 % der Fälle gingen aus den Ermittlungsakten keine Informationen zu einer Substanzbeeinflussung hervor.

Eine Bestimmung der Atemalkoholkonzentration oder eine Blutentnahme zur Bestimmung der Alkohol‑, Drogen- und/oder Medikamentenkonzentration wurde nur bei einem Drittel der Beschuldigten und einem Fünftel der Geschädigten durchgeführt. Der Mittelwert der erfassten Atem- bzw. Blutalkoholwerte betrug 1,7‰, wobei der höchste Wert bei den Beschuldigten mit 3,79‰ und bei den Geschädigten mit 4,0‰ gemessen wurde. Bei den Geschädigten wurde lediglich in 5 Fällen auf Drogen und in 2 Fällen auf Medikamente untersucht, wobei nur in 2 Fällen Drogen (Amphetamin, Cocain, Cannabis) im Blut nachgewiesen werden konnten. Bei den Beschuldigten wurde in 7 Fällen die Bestimmung von Drogen und in 3 Fällen die Bestimmung von Medikamenten im Blut beauftragt. Dabei gelang in 4 Fällen der Nachweis von Drogen (Amphetamin und Cannabis).

Für die meisten Beschuldigten (62 %) und Geschädigten (67 %) konnten den Ermittlungsakten keine Informationen zum Gesundheitszustand entnommen werden. Lediglich bei 20 % der Beschuldigten und 14 % der Geschädigten wurde das Vorliegen einer Erkrankung (psychisch oder physisch krank) dokumentiert.

In den 1403 Fallakten waren 1294 Einzelereignisse dokumentiert und 109 Fälle mit mehreren Ereignissen. Die Einzelereignisse fanden überwiegend an Wochenenden und in den früheren Nachtstunden zwischen 18 und 24 Uhr statt. Fälle mit mehreren Ereignissen sind in Abb. 4 nicht enthalten.

Abb. 4
figure 4

Ereignistage (a) und Uhrzeiten (b)

Die Anzeigen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt gingen zu über 70 % noch am Tag des Ereignisses bei den zuständigen Behörden ein, 10 % am folgenden Tag. Einige Fälle wurden aber auch erst Wochen, Monate oder sogar Jahre nach dem Vorfall gemeldet (Abb. 5). Dabei waren die Anzeigenden überwiegend die Geschädigten, neben Anzeigen durch Verwandte oder Freunde erfolgten einzelne Anzeigen jedoch auch durch die Beschuldigten selbst. Dabei wurden in den meisten Fällen (85,24 %) Körperverletzungen angezeigt, in weiteren 14,1 % Körperverletzungen mit zusätzlichen Beleidigungen oder Bedrohungen bis hin zu illegalem Waffenbesitz. Für 842 (59 %) der 1430 beschuldigten Personen wies das Bundeszentralregister Einträge auf. 405 (28 %) dieser Einträge entsprachen Vorstrafen. Im Jahr 2009 hatten lediglich 6,4 % der Thüringer einen Eintrag im Bundeszentralregister (Tab. 1, Reihe 6).

Abb. 5
figure 5

Dauer bis zur Anzeige des Vorgangs

In 44 % der Fälle wurden von der Polizei vor Ort folgende unmittelbare Maßnahmen ergriffen, wobei in einigen Fällen mehrere Abwehrmaßnahmen erfolgten (Prozentangaben bezogen auf die Gesamtfallzahl):

  • Platzverweis: 18 %,

  • Gewahrsamsnahme: 11 %,

  • Gefährdungsansprache: 7 %,

  • Kontaktverbot: 5 %.

In 8 % der Fälle erfolgte die Bearbeitung primär oder nach Abgabe durch die Schutzpolizei durch die Kriminalpolizei. Die nachfolgende Bearbeitungszeit bei Polizei und Staatsanwaltschaften wies eine weite Bandbreite auf. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit durch die Polizei lag bei rund 50 Tagen, die längste Bearbeitungszeit bei über 200 Tagen. Bei 3 der 4 Staatsanwaltschaften lag die durchschnittliche Bearbeitungszeit ebenfalls bei etwa 50 Tagen, teilweise jedoch auch mit Verfahrensdauern bis über 200 Tagen. Eine Staatsanwaltschaft benötigte allerdings im Schnitt nur 20 Tage zur Bearbeitung. Die durchschnittliche Seitenzahl der Ermittlungsakten lag bei 27. Im Durchschnitt wurde – neben der beschuldigten und der geschädigten Person – zusätzlich ein Zeuge vernommen. Im Rahmen der Geschädigtenvernehmung stellten insgesamt 641 und somit 43,5 % aller geschädigten Personen einen Strafantrag. Hiervon wurden jedoch 201 Strafanträge im Laufe der Ermittlungsverfahren wieder zurückgenommen.

Seitens der Staatsanwaltschaft wurden die Tatbestände am häufigsten als einfache Körperverletzung (1216 Fälle), gefolgt von der gefährlichen Körperverletzung (205 Fälle), eingeordnet (Abb. 6). Unter den Fällen waren eine schwere Körperverletzung, ein Totschlag und 2 Morde. Neben den Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit wurde zusätzlich häufig (Kriterium: mehr als 30 Fälle) wegen der in Abb. 6 zusätzlich aufgeführten Tatbestände ermittelt.

Abb. 6
figure 6

Einordnung der Straftatbestände

Die Mehrzahl (87 %) der Ermittlungen wurde bereits durch die Staatsanwaltschaft im Vorverfahren eingestellt; eine Staatsanwaltschaft stellte sogar alle Ermittlungen in Fällen häuslicher Gewalt des Jahres 2009 im Vorverfahren ein. Ein Antrag auf Erlass eines Strafbefehls wurde in 82 Fällen (6 %) gestellt, eine Anklage in 96 Fällen (7 %) erhoben. Dabei kam es u. a. darauf an, ob die Ermittlungen der Schutz- oder der Kriminalpolizei unterstellt waren. Von der Kriminalpolizei bearbeitete Fälle wurden signifikant seltener nach den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eingestellt als Fälle, welche ausschließlich von der Schutzpolizei bearbeitet wurden. Es ergibt sich eine Odds Ratio von 1,88 bei einem p-Wert von 0,046. Demnach erhöhte sich die Chance auf eine Nichteinstellung im Vorverfahren um 1,88.

In 80 Fällen wurde durch das zuständige Gericht ein Strafbefehl erlassen, wobei in 38 % dieser Fälle Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt wurde. In 116 Fällen und somit in rund 8 % aller Ermittlungsverfahren wurden nach Eröffnung eines Hauptverfahrens Hauptverhandlungen vor Gericht durchgeführt (113 vor dem Amtsgericht, 3 vor dem Landgericht). Die Differenz der Anzahl der Anklagen und der Anzahl der Hauptverhandlungen resultiert aus Hauptverhandlungen im Gefolge von Einsprüchen gegen Strafbefehle.

Nach rechtskräftigem Abschluss der Strafbefehls- und Hauptverfahren kam es zu weiteren Einstellungen in 55 Fällen sowie zu 5 Freisprüchen. Zur Verhängung einer Geldstrafe kam es in 79 Fällen, zur Verhängung einer Freiheitsstrafe in 23 Fällen, davon wurden 17 zur Bewährung ausgesetzt. In 5 Fällen erfolgte eine Verwarnung mit Strafvorbehalt, in 43 Fällen wurden Auflagen, in 7 Fällen Weisungen erteilt.

Diskussion

Erwartungsgemäß sind Männer in der Beschuldigtengruppe im Vergleich zur Gesamtpopulation deutlich überrepräsentiert (Tab. 1). Dieser Umstand wird in allen einschlägigen Studien bestätigt, so z. B. in der Studie zu Partnerschaftsgewalt des Bundeskriminalamtes von 2021 [13], wonach Gewalt mit Verletzungsfolge meist von Männern ausgeht. Laut einer repräsentativen Untersuchung [14] findet Gewalt gegen Frauen nur zu einem geringen Teil in der Öffentlichkeit statt. Die Täter sind am häufigsten männliche Beziehungspartner, und die Gewalt wird am häufigsten in der häuslichen Umgebung erfahren.

Eine Überrepräsentation im Vergleich zur Thüringer Gesamtbevölkerung konnte bei den Beschuldigten für Ausländer festgestellt werden, wobei der Wert in unserer Studie mit 7,7 % noch deutlich unter der kriminalstatistischen Auswertung zur Partnerschaftsgewalt [13] mit 34,4 % lag. Ein Grund für den Unterschied könnte im vergleichsweise niedrigen Ausländeranteil in Thüringen liegen [10].

Die häusliche Gewalt ging in den ausgewerteten Fällen überwiegend von den aktuellen Ehe- oder Lebenspartnern aus. In der Definition häuslicher Gewalt von Schwander [2] wird „eine bestehende oder aufgelöste familiäre oder partnerschaftliche Beziehung“ erwähnt. Eine ehemalige Partnerschaft lag hier in nur 20 % der Partnerschaftsfälle vor. Das könnte darauf hindeuten, dass eine gemeinsame Wohnsituation einen Faktor für das Auftreten häuslicher Gewalt darstellt. Diese Annahme wird durch Beobachtungen aus der Zeit der Coronapandemie gestützt, in deren Verlauf die Meldungen häuslicher Gewalt während der Lockdowns deutlich angestiegen sind, v. a. auch in Thüringen [15]. Im Zusammenhang mit der Wohnsituation muss auch ein Einfluss bei Konsum von Alkohol, Drogen und Medikamenten auf das Verhalten von Beschuldigten und Geschädigten in Betracht gezogen werden. Die Häufung der Taten ab Freitag über das Wochenende und in den Abendstunden im Ergebnis der vorliegenden Studie deutet auf einen Zusammenhang zwischen der häuslichen Situation und dem Konsum von Substanzen hin. Eine valide Auswertung zum Substanzeinfluss war nicht möglich, da nur in einem geringen Anteil der ausgewerteten Fälle ein Substanzeinfluss nach Zeugenangaben dokumentiert und in einem noch geringeren Anteil – überwiegend bezüglich Alkohols – mittels Atemalkoholmessung oder Blutalkoholmessung quantifiziert worden war. Aus rechtsmedizinischer Sicht sollte bei entsprechenden Hinweiszeichen in solchen Fällen regelmäßig eine Anordnung von Blutentnahmen zur Untersuchung auf Alkohol, Drogen und Medikamente durch die Polizei bzw. Staatsanwaltschaft erfolgen.

Valide Aussagen über die Schulbildung oder die Berufstätigkeit der beschuldigten oder geschädigten Personen konnten anhand der vorliegenden Studie ebenfalls nicht getroffen werden, da die in den Ermittlungsakten erfassten Daten diesbezüglich lückenhaft waren und eine Gesamtbetrachtung nicht statthaft erscheint. Auch bezüglich der physischen und psychischen Gesundheit der Tatbeteiligten waren den Ermittlungsakten nur lückenhafte Angaben, die eine Gesamtbetrachtung ebenfalls nicht zulassen, zu entnehmen.

Die Anzeige bei der Polizei erfolgte in den meisten Fällen zeitnah zum Vorfall, was im Hinblick auf eine verwertbare Verletzungsdokumentation günstig erscheint. Nur in der Minderzahl der Fälle erfolgte die Anzeige nach einer Zeitspanne von Tagen, Wochen oder Monaten. Somit kann in der überwiegenden Zahl der Fälle von einem Interesse der überwiegend anzeigenden geschädigten Personen an einer Strafverfolgung ausgegangen werden. Allerdings ist auch anzumerken, dass letztlich weniger als die Hälfte der geschädigten Personen (43,5 %) einen Strafantrag gestellt hat und dieser in ca. einem Drittel dieser Fälle wieder zurückgenommen wurde.

Die juristische Verfolgung von Straftaten häuslicher Gewalt scheint nach der vorliegenden Studie möglicherweise von der jeweiligen Staatanwaltschaft oder dem jeweiligen Sachbearbeiter abhängig zu sein. Es zeigten sich deutliche Unterschiede zum einen bezüglich Umfang und Zeitdauer der Ermittlungen, zum anderen hinsichtlich des Abschlusses des Vorverfahrens. Während eine Staatsanwaltschaft in Thüringen alle im Jahr 2009 angezeigten Fälle bereits im Vorverfahren eingestellt hat, kam es bei einer anderen Staatsanwaltschaft in fast einem Viertel der Fälle zur Erhebung einer Anklage bzw. zur Stellung eines Strafbefehlsantrages. Die Gründe hierfür können aber auch in regionalen oder bevölkerungsstrukturellen Gegebenheiten liegen, nachdem die Staatsanwaltschaft mit der höchsten Einstellungsquote ein eher dünn bevölkertes ländliches Gebiet betreut.

Bezogen auf alle Fälle wurden 87 % der Strafverfahren bereits im Vorverfahren eingestellt. Eine Studie, basierend auf staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten aus Kiel [5], mit einer Stichprobengröße von 104 Fällen häuslicher Gewalt kam zu dem Ergebnis, dass in nur ca. 60,5 % eine Einstellung bereits im Vorverfahren erfolgte.

Die vorliegende Auswertung hat weiterhin gezeigt, dass, über alle Staatsanwaltschaften betrachtet, in ca. 6 % (82 Fälle) ein Strafbefehlsantrag gestellt und in ca. 7 % (96 Fälle) eine Anklage erhoben wurde. Seitens der zuständigen Amtsgerichte wurde in 80 Fällen ein Strafbefehl erlassen, gegen welchen in 31 Fällen Einspruch eingelegt wurde. Ein Hauptverfahren mit Hauptverhandlung erfolgte in 116 Fällen, wobei die Anzahl der Hauptverfahren die Anzahl der Anklagen übersteigt, da ein Teil der Hauptverhandlungen Folge von Einsprüchen gegen Strafbefehle war. Bezüglich der Strafbefehlsverfahren und Hauptverfahren zeigen sich deutliche Unterschiede zu den Ergebnissen der Arbeit aus Kiel [5]. So war bei der Stichprobe in Kiel das Strafbefehlsverfahren mit ca. 75 % der Ahndungen am häufigsten. Nach Durchführung des Hauptverfahrens wurden weitere 55 Verfahren eingestellt; in 5 Fällen erfolgte ein Freispruch. Sowohl im Strafbefehls- als auch im Hauptverfahren erfolgte deutlich häufiger einer Verurteilung zu einer Geldstrafe (79 Fälle) als zu einer Freiheitsstrafe (23 Fälle), wobei die Freiheitsstrafe überwiegend (17 Fälle) zur Bewährung ausgesetzt wurde. Eine Verwarnung mit Strafvorbehalt erfolgte in 5 Fällen, die Erteilung von Auflagen in 43 und von Weisungen in 7 Fällen. Insgesamt wurden letztlich 102 Strafverfahren (7 %) mit einer rechtskräftigen Verurteilung abgeschlossen. In der Auswertung von Cummerow [5] ergab sich, soweit dies aus der Arbeit hervorgeht, dass in einem deutlich höheren Anteil (38,5 %) eine rechtskräftige Verurteilung erfolgte.

Über die Hälfte der Beschuldigten (56 %) wies einen Eintrag im Bundeszentralregister oder sogar eine Vorstrafe auf. Im Vergleich zum Prozentsatz von Personen mit Einträgen im Bundeszentralregister der Thüringer Bevölkerung (6,4 %) scheint der ausgewertete häusliche Übergriff offenbar nicht die erste Gesetzesübertretung darzustellen. Eine Auswertung dahingehend, ob die Einträge in das Bundeszentralregister im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt standen, war mit dem Design der vorliegenden Studie nicht möglich, da die entsprechenden Akten nicht herangezogen wurden/werden konnten. Bowen et al. (2005) fanden in einer Stichprobe von 86 männlichen Tätern häuslicher Gewalt, die an einem Rehabilitationsprogramm teilnahmen, ebenfalls eine hohe Zahl vorangegangener Verurteilungen [16]. Ventura stellte im Gegensatz dazu fest, dass Verurteilungen die Wahrscheinlichkeit von Wiederholungstaten im Bereich der häuslichen Gewalt reduzieren können [17]. Das Vorliegen einer Vorstrafe erhöhte in Thüringen 2009 jedenfalls die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verfahren nicht eingestellt wurde. Praktisch alle Verurteilten waren vorbestraft.

Zusammenfassend wurden mit der vorliegenden Studie erstmals umfassende Daten (alle Fälle eines Jahres in einem Bundesland) zur Strafverfolgung in Fällen häuslicher Gewalt erhoben und deskriptiv dargestellt. Entsprechend der überwiegenden Einordnung der Delikte als einfache Körperverletzung waren die Ermittlungsakten nachvollziehbar kurz, die Hintergrundinformationen zu den Beschuldigten lückenhaft, die zu den Geschädigten noch lückenhafter dokumentiert. Auch tatrelevante Einflüsse wie eine Substanzbeeinflussung wurden in der Minderzahl der Fälle nur vermutet und in einer noch geringeren Zahl an Fällen weiter abgeklärt. Angesichts der nationalen und internationalen Relevanz dieser häufigen Form von Gewalt mit hoher Dunkelziffer wäre eine umfassendere und intensivere Durchführung der Ermittlungen zu fordern. Im Ergebnis der vorliegenden Studie führten Ermittlungen durch die Kriminalpolizei signifikant häufiger zu einer strafrechtlichen Ahndung als Ermittlungen allein durch die Schutzpolizei. Dies erscheint nachvollziehbar, insofern schwerere Tatbestände oder schwerere Verletzungen ohnehin intensiver ermittelt und auch häufiger geahndet werden. Trotzdem wäre zu hinterfragen, ob angesichts der nationalen und internationalen Bedeutung der Bekämpfung häuslicher Gewalt nicht auch einfache Körperverletzungsdelikte im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt zur Ermittlung an die Kriminalpolizei – ggf. an ein Spezialdezernat – abgegeben werden sollten. Auch erscheint im Ergebnis unserer Studie in Zusammenschau mit dem Phänomen häuslicher Gewalt als Wiederholungstaten ein entsprechender Vermerk bei den Eintragungen in das Bundezentralregister oder auch in polizeiliche Datenbanken sinnvoll.