Einleitung

Fehlleistungen bei der ärztlichen Leichenschau sind hinlänglich bekannt [9]. Neben dem teilweise freien Konfabulieren mutmaßlich innerer, also natürlicher Todesursachen bei unversehrt erscheinendem Leichnam kommt es immer wieder zum Übersehen offenkundiger äußerer Befunde. Als Korrektiv kommt der Krematoriumsleichenschau eine besondere Bedeutung zu. Berichtet wird ein eklatanter Fall einer ärztlichen Fehldiagnose bei der ersten Leichenschau, der bei der Krematoriumsleichenschau bzw. der gerichtlichen Obduktion offenkundig wurde.

Falldarstellung

Der beginnend fäulnisveränderte Leichnam eines 74-jährigen Mannes wurde in dessen Wohnung aufgefunden. Der Rettungsdienst wurde aufgrund sicherer Todeszeichen nicht alarmiert. Dem leichenschauenden Arzt (Praktischer Arzt, langjähriger „Polizeiarzt“, d. h. polizeilicher Vertragsarzt speziell für Blutentnahmen, Gewahrsamsfähigkeiten, Leichenschauen etc. pp.) bot sich offenbar das Bild eines natürlichen Todes: Um den Kopf des Leichnams befand sich eine größere Blutlache, Verletzungen waren nach Einschätzung des Leichenschauers jedoch nicht erkennbar. Es wurde eine „gastrointestinale Blutung“ als Todesursache im Leichenschauschein dokumentiert. Da Angehörige nicht ermittelt werden konnten, wurde eine ordnungsbehördliche Bestattung beauftragt. Der Leichnam sollte kremiert werden.

Bei der Krematoriumsleichenschau fiel eine unregelmäßig berandete und schwärzlich vertrocknete Verletzung der rechten Schläfe auf. Die Kremation wurde ausgesetzt und die gerichtliche Obduktion angeordnet, welche 12 Tage nach Auffinden stattfand. Nach Inspektion des Kopfes und Präparation der Kopfschwarte bestand kein Zweifel, dass es sich um einen Einschuss handelte (Abb. 1a, b), sodass die Polizei verständigt wurde. Die Wohnung des Verstorbenen wurde nun versiegelt.

Abb. 1
figure 1

a Befund an der rechten Schläfe. b Einschuss mit Schussbruch

Die gerichtliche Obduktion ergab einen aufgesetzten Kopfsteckschuss mit Einschuss in der rechten Schläfe, umgebender flächig-schwärzlicher Verfärbung, Schmauchhöhlenbildung und außenseitiger Beschmauchung des Schädelknochens sowie Schussbrüche des Schädels. Der Schusskanal war im fäulnisbedingt breiig-zerfließlichen Hirngewebe nicht mehr sicher rekonstruierbar. Es zeigten sich jedoch ein Beinahe-Ausschuss am linken Hinterkopf mit Aussprengung einer kleinen Scherbe von der inneren Knochentafel sowie zur Ein- bzw. Beinahe-Ausschussverletzung korrespondierende Zerreißungen der Hirnhäute. Etwa 5 cm vom Beinahe-Ausschuss entfernt konnte im Hirngewebe ein deformiertes Bleivollgeschoss (Gewicht 2,4 g) geborgen werden (Abb. 2). Bei Fäulnis ließen sich Rückschleuderspuren an den Händen nicht sicher abgrenzen. Weiter fanden sich altersentsprechende Erkrankungen des Herzkreislauf- und Atmungssystems. Eine gastrointestinale Blutung fand sich nicht. Chemisch-toxikologische Untersuchungen erbrachten therapeutische Spiegel der rezeptierten Medikamente Tramal und Novalgin.

Abb. 2
figure 2

Deformiertes Projektil + Hülse + Patrone

Nachdem weder der Polizei noch dem leichenschauenden Arzt am Fundort eine Schusswaffe aufgefallen war, konnten nun auf dem Schreibtisch in der Wohnung zwei selbstgefertigte Schussapparate aufgefunden werden (Abb. 3a, b), wovon einer eine nichtabgefeuerte, handelsübliche Patrone des Kalibers .22lfB und der andere eine gleichartige Patronenhülse enthielt. Mitarbeiter des Ordnungsamtes hatten im Zuge der Fiskalerbschaft die vor der Krematoriumsleichenschau unversiegelte Wohnung bereits teilweise beräumt und mit beiden Schussapparaten hantiert, ohne diese als solche zu erkennen. Es ließ sich retrospektiv nicht rekonstruieren, wo der/die Schießkugelschreiber ursprünglich gelegen hatten bzw. ob der Mann nach Schusserhalt noch kurz handlungsfähig gewesen und den verwendeten Schießkugelschreiber weggelegt haben könnte, bevor er zusammenbrach. Der Todesfall wurde als Suizid eingeordnet und das Todesermittlungsverfahren eingestellt.

Abb. 3
figure 3

a Schreibtisch mit beiden selbstgebauten Schussapparaten; verwendet wurde Schussapparat 1 (Vordergrund). b Schussapparat 1

Schussversuch

Beide Schussapparate wurden einem Schussversuch unterzogen (Abb. 4a; Tab. 1; Video: https://youtu.be/dF2c9oB7Cbo). Hierzu wurden beide Schussapparate mit 2 unterschiedlichen Munitionstypen des Kalibers 22lfb (HV=High Velocity, Hochgeschwindigkeitsmunition/handelsübliche RWS-Munition [„Rheinisch-Westfälische Sprengstofffabriken“]) in einen Schraubstock gespannt und auf eine Zielscheibe abgefeuert. Bei der HV-Munition handelte es sich um Asservate des Landeskriminalamtes Schleswig-Holstein mit z. T. unbekanntem Produktionsdatum bzw. unbekannter Liegedauer. Mündungsgeschwindigkeit und -energie variierten je nach Munition stark. Die Mündungsenergie verdoppelte sich bei HV-Munition; die mittlere Geschwindigkeit nahm ca. um 30 % im Vergleich zu RWS-Munition zu und erreichte damit annährend Werte einer Sportpistole. Die Standardabweichung der Mündungsenergie betrug bei Schussapparat 1 mit HV-Munition 34 J (RWS-Munition: 4,2 J). Bei Schussapparat 2 betrug die Standardabweichung der Mündungsenergie bei HV-Munition 7,2 J. Beide Schussapparate wiesen gezogene Läufe auf, was zu einer auffallend stabilen Geschossflugbahn und einer hohen Präzision ohne größere Streuung führte. Der Aufbau erwies sich als ausgesprochen funktionstauglich mit erheblichem Verletzungspotenzial (Tab. 2). Funktionsweise und Aufbau unterschieden sich wenig von herkömmlichen Handfeuerwaffen.

Abb. 4
figure 4

Versuchsaufbau

Tab. 1 Ermittelte Messwerte
Tab. 2 Vergleich mit Standardschusswaffen [1]

Diskussion

Schusstodesfälle zeigen eine breite Varianz, und jeder Schusstodesfall erfordert eine akribische Aufarbeitung. Die Zahl der Schusswaffensuizide in Deutschland beträgt etwa 550/Jahr [3]. Suizide mit selbstgebauten Schussapparaten sind selten, und selbstgebaute Schussapparate sind nicht immer als solche erkennbar [5]. Es handelt sich regelmäßig um Schussapparate, die Kugelschreibern ähneln, hierbei jedoch eine große Varianz zeigen [8]. Schießkugelschreiber sind seit den 1940er-Jahren bekannt [4]. Die hier untersuchten Schussapparate wiesen eine ausgesprochen hohe Durchschlagskraft auf. Im Vergleich zu herkömmlichen Handfeuerwaffen können Schießkugelschreiber – zumindest mit HV-Munition – ähnliche Energiewerte wie Kleinkaliber-Sportpistolen erreichen und weisen entsprechend ein ähnliches Verletzungspotenzial auf.

Die Schussapparate dürften im vorliegenden Fall für Schreibgeräte oder Werkzeuge gehalten worden sein. Nur dieser Umstand kann hier zur partiellen Exkulpation des ärztlichen Leichenschauers herangezogen werden. Auch dem rechtsmedizinisch Unerfahrenen hätte die Verletzung an der rechten Schläfe auffallen müssen. Retrospektiv muss es sich – wenn überhaupt – um eine nur grob orientierende Inaugenscheinnahme des Auffindeortes denn um eine ordentliche ärztliche Leichenschau gehandelt haben.

Ansätze und Forderungen zur Qualifikation ärztlicher Kollegen nichtrechtsmedizinischer Fachrichtungen zur Durchführung einer Leichenschau verpuffen vor dem Hintergrund einer wie hier offenbar nicht erfolgten (auch räumlichen) näheren Beschäftigung mit dem Leichnam: Wenn eine Leistung nicht erbracht wird, sind Maßnahmen zur Qualitätssteigerung dieser Leistung sinnlos. Inwieweit durch Etablierung spezieller „Leichenschauärzte“ oder mit Blick auf die 2021 erfolgte Neuregelung der Leichenschau in der Gebührenordnung für Ärzte diesem Dilemma Abhilfe geschaffen werden kann, bleibt abzuwarten. Bei knapp 1.000.000 Toten/Jahr in Deutschland [7] wird ein in der Leichenschau kundiger Arzt nicht in jedem Todesfall vor Ort sein können – jeder approbierte Arzt in Deutschland muss die Todesfeststellung und die Leichenschau adäquat beherrschen. Über die Notwendigkeit der Krematoriumsleichenschau als Korrektiv einer häufig insuffizienten ärztlichen Leichenschau besteht kein Zweifel [6]. Hochrechnungen aus den Daten solcher Leichenschauen deuten u. a. auf eine hohe Zahl unentdeckter Tötungsdelikte hin [2]. Gleiches dürfte für Suizide gelten.

Fazit

Der Fall unterstreicht die Bedeutung einer suffizienten ärztlichen Leichenschau. Wäre der Tote einer Erdbestattung zugeführt worden, wäre nicht nur der Suizid unentdeckt geblieben – auch der zweite, nicht abgefeuerte Schussapparat hätte bei Manipulation zu schweren, ggf. sogar tödlichen Verletzungen Unbeteiligter führen können.