Einleitung

Das Thema Gewalt wird im öffentlichen Gesundheitswesen immer bedeutender, da die Ursachen und Folgen von Gewalt besser verstanden sind und die Rolle des Gesundheitswesens klarer definiert wird [1].

Im Jahr 2011 hat der Europarat das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (kurz Istanbul-Konvention) als internationalen Vertrag ausgearbeitet, der im Jahr 2014 in Kraft getreten ist und in Deutschland im Jahr 2017 ratifiziert wurde. Grundsatz des Übereinkommens ist, „Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen“. Gemäß Artikel 25 der Konvention sind die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, medizinische und rechtsmedizinische Untersuchungen nach sexualisierter Gewalt sowie Traumahilfe und Beratung anzubieten. Die Vertragsstaaten werden außerdem verpflichtet, wirksame strafrechtliche Normen und Verfahren zur Untersuchung und Ahndung von Gewalttaten vorzuhalten [2].

In dem am 01.03.2020 in Deutschland in Kraft getretenen Masernschutzgesetz wurde beschlossen, dass Personen künftig eine vertrauliche Spurensicherung nach sexualisierter und körperlicher Gewalt auch ohne Strafanzeige flächendeckend ermöglicht werden soll. Die Dokumentation von Verletzungen sowie die Sicherung und Aufbewahrung von Spuren sollen von den Krankenkassen finanziert werden (§ 132k SGB V) [3].

Bei körperlicher und sexualisierter Gewalt ist eine gerichtsverwertbare Befundsicherung für nachfolgende Strafverfahren von hoher Bedeutung, damit die Befunde von Sachverständigen sinnvoll interpretiert werden können. Somit werden bestmögliche Ausgangssituationen für die Betroffenen geschaffen und gleichzeitig Nachteile für die Beschuldigten vermieden. Einzelne Studien beschreiben, dass die ärztlichen Befundberichte nach klinischen Untersuchungen von Gewaltbetroffenen nicht den in Strafverfahren erforderlichen forensischen Standard erfüllen [4,5,6,7,8], was eine erneute Viktimisierung der Betroffenen zur Folge haben könnte.

Seit 2013 liegen evidenzbasierte Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation zum Umgang mit häuslicher und sexualisierter Gewalt (jenseits partnerschaftlicher Gewalt) in der Gesundheitsversorgung vor. In der Leitlinie wird Forschungsbedarf hinsichtlich der Schulung von Gesundheitsfachkräften (z. B. Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte) zu Gewalt in Paarbeziehungen und sexueller Gewalt benannt. Es soll untersucht werden, welchen inhaltlichen und zeitlichen Umfang Schulungen mindestens aufweisen müssen, damit Gesundheitsfachkräfte ihre Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern können [9].

Die vorliegende Studie untersucht die aktuelle Versorgungssituation von Gewaltbetroffenen im medizinischen Bereich, und welche Probleme sich aus ärztlicher Sicht ergeben. Die Ergebnisse sollen Grundlage für Verbesserungsansätze in der Versorgung von Gewaltbetroffenen im Gesundheitswesen und für Optimierungen in Strafverfahren sein.

Methode

Erste Studiengruppe

In der ersten Studiengruppe wurde eine onlinebasierte Umfrage unter Ärztinnen und Ärzten in Kliniken und Praxen zum praktischen Umgang mit Gewaltbetroffenen durchgeführt. Host der Umfrage war SoSci Survey (Bearbeitungszeit 30.08.2020 bis 15.12.2020). Die Rekrutierung der Teilnehmenden und Verbreitung des Links zur Umfrage erfolgte durch eine Anzeige in Ärzteblatt Rheinland-Pfalz. Ferner wurden mindestens eine Klinik aus jedem Landkreis und der Berufsverband der Allgemeinmedizin in Rheinland-Pfalz zwecks Verbreitung des Links kontaktiert. In der Umfrage wurden Angaben zur Fachrichtung, Häufigkeit durchgeführter Untersuchungen, Untersuchungstechnik und -ausstattung sowie Unsicherheiten und Unterstützungsbedarf erfasst. Ferner wurde die Teilnahme an Fortbildungen und Kooperationen abgefragt. Die Antworten wurden überwiegend im Single- und Multiple-Choice-Verfahren, mittels numerischer Bewertungsskala und vereinzelt im Freitext erfasst.

Zweite Studiengruppe

Die zweite Studiengruppe umfasste 190 Medizinstudierende des 7. Fachsemesters, die im Wintersemester 2020/2021 im Rahmen der obligatorischen Veranstaltung „Rechtsmedizin“ eine schriftliche Hausaufgabe bearbeiteten. Die Aufgabe wurde zu Beginn des Semesters auf der Lernplattform „Moodle/LMS“ zur Verfügung gestellt und musste bis zu einem Stichtag am Ende des Semesters bearbeitet werden. Zur Vorbereitung wurden eine Online-Vorlesung zur Klinischen Rechtsmedizin und eine Online-Schulung zur Untersuchung von Gewaltbetroffenen im klinischen Alltag angeboten. Es wurden die wesentlichen Bestandteile einer Untersuchung von Gewaltbetroffenen vermittelt (Erkennen suspekter Verletzungen, körperliche Untersuchung einschließlich anogenitaler Inspektion, Verletzungsdokumentation, Spurensicherung, Weitervermittlung).

In der Hausaufgabe wurde ein Szenario vorgegeben, in dem sich eine Frau nach einem sexuellen Übergriff in der Notaufnahme vorstellt. Anhand zur Verfügung gestellter fotografischer Aufnahmen sollte eine schriftliche Dokumentation der abgebildeten Verletzungen erfolgen. Außerdem sollten die Studierenden mithilfe eines vorgefertigten Dokumentationsbogens angeben, welche weiteren Maßnahmen hinsichtlich der Versorgung der Patientin zu ergreifen sind. Zuletzt wurde nach der Interpretation des Verletzungsbildes gefragt.

Statistische Analyse

Die statistische Analyse erfolgte mit dem Statistikprogramm „IBM® SPSS® Statistics (Ehningen, Deutschland, Version 23). In beiden Studiengruppen erfolgte eine deskriptive Auswertung. Um Unterschiede zwischen erfahrenen und unerfahrenen Untersuchenden festzustellen, wurden in der ersten Studiengruppe zusätzlich Hypothesentests (Pearson-Chi2-Test, Exakter Fisher-Test, t-Test, Φ‑Koeffizient) durchgeführt. Befragte, die mindestens eine Untersuchung von Gewaltbetroffenen durchgeführt hatten, wurden in der vorliegenden Studie als „erfahrene“ Untersuchende definiert. Erfahren bedeutet hier nicht, dass Routine (entsprechend Facharztstandard) in der Untersuchung von Gewaltbetroffenen besteht, sondern dass überhaupt bereits eine Erfahrung mit einer Untersuchung einer gewaltbetroffenen Person im ärztlichen Arbeitsalltag gemacht wurde. Wurde noch keine Untersuchung durchgeführt, wurden die Befragten als unerfahrene Untersuchende erfasst. Die Auswertung der Freitext-Antworten erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring.

Ergebnisse

Erste Studiengruppe

Studienkollektiv

Eine Rücklaufquote kann nicht angegeben werden, da nicht bekannt ist, wie viele Ärztinnen und Ärzte der Link zur Umfrage tatsächlich erreichte. Von den 94 teilnehmenden Ärztinnen und Ärzten waren 58,5 % (n = 55) in einer Klinik und 41,5 % (n = 39) in einer Praxis tätig. Die Auswertung ergab keinen signifikanten Unterschied hinsichtlich der Erfahrung; in Kliniken und Praxen sind gleichermaßen erfahrene und unerfahrene Ärztinnen und Ärzte tätig (p = 0,334).

Die berufliche Qualifikation betrachtet, zeigte sich, dass 45,7 % (n = 43) Fachärztinnen und -ärzte, 27,7 % (n = 26) Assistenzärztinnen und -ärzte und 26,6 % (n = 25) Ober‑/Chefärztinnen und -ärzte aus 19 verschiedenen Fachbereichen teilnahmen. Den größten Anteil stellte die Allgemeinmedizin mit 34,0 % (n = 32) dar (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Fachbereiche der teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte

Durchgeführte Untersuchungen und Auftraggeber

Die Auswertung ergab, dass 40,4 % (n = 38) der Ärztinnen und Ärzte noch nie eine Untersuchung von Gewaltbetroffenen durchgeführt hatten. 38,3 % (n = 36) hatten eine bis 5 und 7,4 % (n = 7) 5 bis 10 Untersuchungen durchgeführt. Lediglich 13,8 % (n = 13) der Teilnehmenden gaben an, mehr als 10-mal von Gewalt betroffene Personen untersucht zu haben.

Die Untersuchungen fanden sowohl im Auftrag von Ermittlungsbehörden (28,8 %, n = 34) als auch ohne Vorliegen einer Strafanzeige (47,5 %, n = 56) statt. Nicht selten wurde angegeben, dass Untersuchungen von Gewaltbetroffenen gar nicht durchgeführt werden (23,7 %, n = 28). Mehrfachantworten waren möglich.

Geografie

Hinsichtlich der Tätigkeitsorte wurden die 5 größten Städte in Rheinland-Pfalz als städtischer Anteil definiert, die weiteren Landkreise stellten den ländlichen Anteil dar. Einem städtischen Gebiet waren 37,2 % (n = 35) der Ärztinnen und Ärzte zuzuordnen, 62,8 % (n = 59) waren im ländlichen Raum tätig. In der Landeshauptstadt und somit der einzigen Stadt mit Universitätsklinik waren 25,5 % (n = 24) der Teilnehmenden tätig, was den größten Anteil innerhalb der städtischen Gruppe darstellte.

Der Hypothesentest betreffend den Tätigkeitsort (städtisch/ländlich) ergab einen signifikanten Unterschied (p = 0,020) mit moderatem Zusammenhang (Φ = −0,262, p = 0,011) hinsichtlich der Erfahrung. Als Hypothese wurde angenommen, dass Ärztinnen und Ärzte im städtischen Bereich in der Untersuchung von Gewaltbetroffenen erfahrener sind, da hier häufiger entsprechende Versorgungsstrukturen bestehen als im ländlichen Raum. Der Effekt lag nicht in der erwarteten Richtung, sondern ist ein Hinweis darauf, dass erfahrene Ärztinnen und Ärzte häufiger in ländlichen Bereichen tätig sind.

Getroffene Maßnahmen

Ein Großteil der Befragten fertigt schriftliche Dokumentationen (81,9 %, n = 77) und Fotografien (63,8 %, n = 60) an, die Verwendung eines Körperschemas wurde selten angegeben (33,0 %, n = 31). Weniger als die Hälfte der Teilnehmenden entnimmt fallabhängig Blut- und Urinproben (43,6 %, n = 41) und lediglich 8,5 % (n = 8) führen eine fallabhängige Spurensicherung durch. Wenn die Fälle dies erfordern oder Betroffene dies wünschen, vermitteln 55,3 % (n = 52) die Betroffenen an Unterstützungseinrichtungen, und 53,2 % (n = 50) leiten weitere Schritte ein (z. B. Information von Jugendamt oder Polizei; Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Getroffene Maßnahmen bei Untersuchungen von Gewaltbetroffenen

Die Überprüfung der Hypothese, dass erfahrene Untersuchende neben der medizinischen Versorgung häufiger forensisch relevante Maßnahmen durchführen, ergab einen signifikanten Zusammenhang (p = 0,003). Die Stärke des Zusammenhangs war hinsichtlich erfahrenen Untersuchenden substanziell (Φ = −0,321, p = 0,002). Zudem gaben erfahrene Untersuchende signifikant häufiger an, eine schriftliche Verletzungsdokumentation durchzuführen, die Effektstärke wurde als mittel eingestuft (Φ = 0,401, p < 0,001). Für die übrigen abgefragten forensisch relevanten Maßnahmen (Fotografien, Körperschema, Blut- und Urinproben, Spurensicherung, Weitervermittlung, weitere Schritte) wurden keine signifikanten Unterschiede festgestellt.

Materialien

Materialien zur gerichtsverwertbaren Befunddokumentation und Spurensicherung stehen der Umfrage zufolge 27,6 % (n = 26) der Befragten zur Verfügung. Die Auswertung zeigte eine Unabhängigkeit zwischen der Verfügbarkeit von Materialien und der Erfahrung (p = 0,642). Die Hypothese, dass erfahrenen Untersuchenden häufiger Materialien Verfügung stehen, wurde somit nicht bestätigt.

Bedeutung ärztlicher Befunddokumentationen

Dem Großteil der befragten Ärztinnen und Ärzte ist den Ergebnissen zufolge bekannt, dass die ärztliche Befunddokumentation, neben der reinen Dokumentation der medizinischen Versorgung (95,7 %, n = 90, p = 0,654), mögliches Beweismittel im Strafverfahren (85,1 %, n = 80, p = 0,620) und Grundlage von Sachverständigengutachten ist (79,8 %, n = 75, p = 1,0). Die Auswertung ergab keine signifikanten Unterschiede bezogen auf die Erfahrung. Mehrfachantworten waren möglich.

Subjektive Sicherheit

Die subjektive Einschätzung der Sicherheit in der Versorgung von Gewaltbetroffenen ergab, dass sich etwa zwei Drittel der Befragten (68,1 %, n = 64) unsicher(er) fühlen, 17,0 % (n = 16) gaben durchschnittliche Kenntnisse an, und 14,9 % (n = 14) fühlen sich sicher(er). Eine Person (1,0 %) gab an, sich sehr sicher in der Versorgung zu sein (Abb. 3). Unsicherheiten bestehen v. a. im Erkennen und im Ansprechen von Gewaltfolgen, in der gerichtsverwertbaren Beweissicherung (Dokumentation von Verletzungen, Spurensicherung) und in rechtlichen Aspekten (Abb. 4).

Abb. 3
figure 3

Subjektive Einschätzung der Sicherheit der Befragten in der Versorgung von Gewaltbetroffenen. 1 unsicher, 5 durchschnittliche Kenntnisse, 10 sehr sicher

Abb. 4
figure 4

Unterstützungsbedarfe bei der Untersuchung von Gewaltbetroffenen

Die Differenz der durchschnittlichen Sicherheit von unerfahrenen (M = 1,92; ± = 1,50) und erfahrenen Untersuchenden (M = 4,16; ± = 2,30) ist signifikant (p < 0,001). Die Effektstärke ist sehr groß (d = 2,02) und liegt in der erwarteten Richtung. Die Analyse zeigt somit, dass sich erfahrene Ärztinnen und Ärzte in der Versorgung von Gewaltbetroffenen sicherer fühlen als Unerfahrene. Hinsichtlich der angegebenen konkreten Unsicherheiten wurde ein signifikanter Unterschied einzig für die gerichtsverwertbare Dokumentation von Verletzungen festgestellt (p = 0,019). Die Effektstärke war substanziell (Φ = 0,361, p = 0,008) und liegt nicht in der erwarteten Richtung. Die erfahrenen Untersuchenden gaben hier häufiger Unsicherheiten an.

Unterstützungsbedarf

Zwei Drittel der Befragten (62,8 %, n = 59) gaben Unterstützungsbedarf bei der Versorgung von Gewaltbetroffenen überwiegend in Form von Fortbildungen, rechtsmedizinischer Beratung und Dokumentationshilfen an. Es wurden häufig fehlende Kenntnisse über die gerichtsverwertbare Befundsicherung und die Zuständigkeiten („welche Aufgaben in den ärztlichen Bereich fallen, welche ich eher der Rechtsmedizin/Polizei überlassen muss“) sowie die Frage nach den richtigen Ansprechpartnern genannt. Eine rechtsmedizinische Beratung, z. B. in Form einer Telefonhotline, wurde von 87,2 % (n = 82) der Befragten als hilfreich angesehen bzw. zukünftig gewünscht.

Es wurde kein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Erfahrung und der Forderung von Unterstützung festgestellt (p = 0,778), Ärztinnen und Ärzte sehen unabhängig von ihrer Erfahrung eine rechtsmedizinische Beratung (z. B. Telefonhotline) als hilfreich an (p = 0,139).

Fortbildungen und Kooperationen

Fortbildungen zu Untersuchungen von Gewaltbetroffenen werden lediglich von 19,1 % (n = 18) der Teilnehmenden besucht, 58,5 % (n = 55) gaben keine Kooperationen an. Innerhalb der Gruppe der Befragten, die an Fortbildungen teilnehmen, wurde kein signifikanter Unterschied zwischen erfahrenen und unerfahrenen Untersuchenden festgestellt (p = 0,678).

Als Gründe für die Nichtteilnahme an Fortbildungen wurden häufig die fehlende Relevanz der Thematik in der täglichen Arbeit und das Fehlen eines leicht zugänglichen Angebotes angegeben.

Zweite Studiengruppe

Es wurden 190 Hausaufgaben von Medizinstudierenden im 7. Fachsemester ausgewertet.

Dokumentation der Verletzungen

Die Auswertung der Beschreibung der fotodokumentierten Verletzungen ergab, dass die Verletzungsart, die Lokalisation, die Maße und, wenn gefordert, Farbe und Form der Verletzungen in den meisten Hausaufgaben korrekt beschrieben wurden. Zusatzinformationen wie z. B. die Schürfrichtung fehlten häufig (Tab. 1).

Tab. 1 Auswertung der Beschreibung der Morphologie der einzelnen Verletzungen in der Hausaufgabe

Spurensicherung und Entnahme von Blut- und Urinproben

Die Entnahme von Abrieben/Abstrichen aus dem Genitalbereich wurde in den meisten Hausaufgaben als sinnvolle Spurensicherung erkannt (äußeres Genital 91,1 %, Introitus 97,4 %, Vagina 97,9 %). Seltener wurde eine Spurensicherung am Körper (Hals/Oberschenkelinnenseite 48,9 %) und im Analbereich als sinnvoll erkannt (Analring 64,2 %, Rektum 42,1 %). Die Asservierung der Bekleidung wurde in 77,9 % der Hausaufgaben korrekt benannt.

Die Entnahme von Blut- und Urinproben wurde größtenteils korrekt angegeben (Blutprobe 98,9 %, Urinprobe 95,8 %).

Weiterführende Maßnahmen

An weiterführenden Maßnahmen gaben die Studierenden die Beratung zwecks Infektionsprophylaxe (99,5 %) und postkoitaler Empfängnisverhütung (99,5 %) in nahezu allen Hausaufgaben korrekt an. Die Klärung der Schutzbedürftigkeit der Patientin wurde in 44,7 % der Hausaufgaben benannt. In 83,2 % der Hausaufgaben wurden Hilfsangebote richtigerweise als weiterführende Maßnahme genannt, wobei in 13,7 % spezifische Beratungsstellen wie das „Hilfetelefon“, „Weisser Ring“ und Selbsthilfegruppen empfohlen wurden. Eine Überweisung an andere Fachabteilungen wurde von 67,2 % (davon 2,6 % Verweis an Polizei) der Studierenden genannt, was jedoch aufgrund der Fallkonstellation nicht erforderlich gewesen wäre.

Interpretation der Verletzungen

Die Interpretation der Verletzungen wurde durchschnittlich in etwa der Hälfte der Hausaufgaben korrekt vorgenommen (Sturz 75,5 %, Saugen am Hals 41,6 %, Griffspur am Arm 50,0 %, Griffspur am Bein 39,5 %, ältere Verletzungen, unabhängig vom angegebenen Vorfall 61,1 %).

Diskussion

Die durchgeführte Umfrage ergab, dass Personen nach einer Gewalterfahrung in der vorliegenden Studiengruppe sowohl in Kliniken als auch niedergelassenen Praxen untersucht werden. Erfahrene und unerfahrene Ärztinnen und Ärzte sind in beiden Einrichtungen gleichermaßen vertreten, es scheint aktuell keine Spezialisierung für die Thematik in einer der Einrichtungen vorzuliegen.

Ärztinnen und Ärzte im ländlichen Raum haben den Ergebnissen zufolge mehr Erfahrung in der Versorgung von Gewaltbetroffenen. Möglicherweise besteht eine höhere Sensibilisierung für die Thematik, und Gewaltfolgen werden eher erkannt und angesprochen als in städtischen Gebieten. Auch die zunehmende Anonymität in größeren Städten könnte eine weniger vertrauensvolle Beziehung zwischen den behandelnden Ärztinnen und Ärzten und den Betroffenen begründen, was das Ansprechen auf beiden Seiten erschweren könnte. Ferner wäre denkbar, dass im städtischen Bereich mehr Möglichkeiten bestehen, die Betroffenen unmittelbar weiter zu verweisen (z. B. an Rechtsmedizin, Gynäkologie oder Pädiatrie).

Dennoch hat den Ergebnissen zufolge mehr als jede(r) dritte Befragte noch nie eine Person nach einem gewalttätigen Übergriff untersucht. Fraglich ist jedoch, wie häufig Gewaltbetroffene nicht als solche wahrgenommen oder erkannt wurden. In einer unfallchirurgischen Klinik ist gemäß Literatur davon auszugehen, dass jede 5. Frau, die mit Verletzungen in der Ambulanz vorstellig wird, Gewalt erfahren hat [10]. Die Literatur zeigt zudem, dass Ärztinnen und Ärzte lediglich 9–11 % der Gewaltbetroffenen als solche erkennen [11, 12]. Die Tatsache, dass viele Ärztinnen und Ärzte nie bzw. selten wissentlich Personen nach einer Gewalterfahrung untersuchen, ist problematisch für die Qualität insbesondere im Hinblick auf die vom üblichen ärztlichen Handeln abweichende gerichtsverwertbare Verletzungsdokumentation und Spurensicherung. Eine flächendeckende Etablierung spezialisierter Versorgungszentren mit festen Kooperationen zu rechtsmedizinischen Instituten und Schulungen zum Erkennen von Gewaltbetroffenen wäre ein sinnvoller Versorgungsansatz.

Die Untersuchungen in Kliniken und Praxen finden am häufigsten ohne Vorliegen einer Strafanzeige statt. Die Durchführung und Gestaltung einer gerichtsverwertbaren Verletzungsdokumentation und Spurensicherung obliegt dann den behandelnden Ärztinnen und Ärzten, da keine durch die Ermittlungsbehörden erteilten „Arbeitsaufträge“ bestehen. Die Befragung ergab dementsprechend, dass schriftliche Verletzungsdokumentationen und Fotografien zwar häufiger angefertigt werden, größtenteils jedoch keine Blut- und Urinproben entnommen und nur in weniger als jeder 10. Untersuchung eine fallabhängige Spurensicherung durchgeführt wird. Etwa die Hälfte der Befragten gab fehlende Kooperationen zu rechtsmedizinischen Instituten an, sodass keine gesicherte Lagerung der Asservate vorgehalten werden kann. Die Ergebnisse der Befragung legen nahe, dass wichtige Beweise nicht erhoben werden, die nachfolgend zu Verlust gehen (Verletzungen heilen; Alkohol, Drogen und Medikamente werden abgebaut; DNA-Spuren degradieren u. a.), was negative Auswirkungen haben kann, wenn sich die Betroffenen nachträglich noch für eine Strafanzeige entscheiden.

Lediglich die Hälfte der befragten Ärztinnen und Ärzte vermittelt Betroffene an Unterstützungseinrichtungen bzw. leitet weitere Schritte ein. Dies ist problematisch für die Abklärung der Schutzbedürftigkeit der Betroffenen und die Vermeidung weiterer Gewalt. Setzt sich die Gewalt fort, führt dies mittel- und langfristig zu Folgeerkrankungen und erheblichen Kosten für das Gesundheitssystem [13,14,15] sowie im schlimmsten Fall tödlichen Konsequenzen [15]. Eine interdisziplinäre Fallbearbeitung unter Einbezug psychosozialer Fachkräfte könnte die Versorgung von Gewaltbetroffen zukünftig verbessern, was bestenfalls durch Etablierung spezialisierter Versorgungseinrichtungen in der Fläche zu erreichen wäre.

Sehr häufig stehen Ärztinnen und Ärzten keine Materialien zur gerichtsverwertbaren Befundsicherung zur Verfügung. Die Bereitstellung von strukturellen und finanziellen Ressourcen ist eine zentrale Voraussetzung, um die Versorgung von Gewaltbetroffenen im Gesundheitswesen zu verbessern. Hierzu bedarf es klarer Regelungen durch Politik und Länder [16, 17].

Ärztinnen und Ärzte wissen der Umfrage zufolge um die Bedeutung von ärztlichen Befundberichten in Strafverfahren. Allerdings scheinen die erforderlichen Qualitätsmerkmale nicht hinreichend bekannt zu sein. Zwei Drittel der Befragten fühlen sich unsicher(er) in der Versorgung von Gewaltbetroffenen. Die angegebenen Unsicherheiten (Erkennen und Ansprechen von Gewaltfolgen, gerichtsverwertbare Befundsicherung, rechtliche Aspekte) betreffen vorwiegend die forensischen Aspekte und weniger die allgemeine medizinische Versorgung (z. B. Infektionsprophylaxe). Ebenso forderten zwei Drittel der Befragten Unterstützung, unabhängig von ihrer Erfahrung, überwiegend in Form von Schulungen, rechtsmedizinischer Beratung und Dokumentationshilfen. Der vorliegenden Studie zufolge besucht nur jeder Fünfte Fortbildungen zur Thematik Gewalt. Als Gründe wurden die (scheinbar) fehlende Relevanz in der täglichen Arbeit und das Fehlen eines leicht zugänglichen Angebotes angegeben. Eine intensive Einbindung rechtsmedizinischer Expertise ist zur Umsetzung der politisch geforderten Versorgungsstrukturen dringend notwendig, um bestmögliche Handlungssicherheit für Ärztinnen und Ärzte und eine für Strafverfahren ausreichende Qualität zu sichern. So können spezifische Schulungen, eine Beratungshotline und notwendige Materialien und Dokumentationshilfen zur Verfügung gestellt werden.

Die Auswertung der Hausaufgabe der Medizinstudierenden ergab, dass die Verletzungen hinsichtlich der Wundmorphologie größtenteils präzise (Verletzungsart, Lokalisation, Maße und überwiegend auch Farbe und Form der Verletzungen) beschrieben wurden. Spezifische Schulungen zu Qualitätsmerkmalen von Untersuchungen von Gewaltbetroffenen könnten das theoretische Wissen hinsichtlich einer gerichtsverwertbaren Befundsicherung vermitteln, um zukünftig für Strafverfahren ausreichende Beweise zu generieren. Der Umgang mit Gewaltbetroffenen sollte bereits im Studium stärker interdisziplinär thematisiert werden, um eine Grundlage für das spätere ärztliche Handeln zu schaffen. Mängel bestanden überwiegend hinsichtlich einer vollständigen Spurensicherung, der Abklärung der Schutzbedürftigkeit und der Interpretation der Verletzungen. Die Ergebnisse lassen den Rückschluss zu, dass die Interpretation von Befunden durch in der Thematik erfahrene RechtsmedizinerInnen erfolgen sollte, um Fehler in der Rekonstruktion im Strafverfahren zu vermeiden.

Fazit für die Praxis

Derzeit bestehen eklatante Versorgungslücken in Untersuchungen von Gewaltbetroffenen in medizinischen Einrichtungen. Das Fachgebiet der Rechtsmedizin verfügt über die notwendige Expertise, um den geforderten gerichtsverwertbaren Standard bei den Untersuchungen zu gewährleisten. Die Etablierung spezialisierter Versorgungseinrichtungen mit zentralen Kooperationen zur Rechtsmedizin wäre ein sinnvoller Lösungsansatz, um die politischen Bestrebungen nach einer flächendeckenden Versorgung umzusetzen. Ferner können verbindliche Leitlinien und eine intensive Einbindung der Thematik im Medizinstudium die ärztliche Handlungssicherheit verbessern.