Einleitung

„… nach menschlichem Ermessen [kann] unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden.“

Diese auf privatem Briefpapier von Adolf Hitler unterschriebenen und auf den 01.09.1939, den ersten Tag des Zweiten Weltkriegs zurückdatierten Zeilen [12] stellten bis zum Kriegsende die einzige pseudorechtliche Grundlage für die Ermordung mehrerer Hunderttausend kranker oder behinderter Menschen dar. Ein „Euthanasie-Gesetz“ zur Legalisierung der Krankenmorde während der NS-Zeit wurde nie verabschiedet [2].

Zu Kriegsbeginn befanden sich etwa 300.000 Patienten in Heil- und Pflegeanstalten bzw. Heilerziehungsheimen. In den Jahren 1940/1941 wurden mehr als 70.000 von ihnen als „unheilbar krank“ und „dauerhaft anstaltsbedürftig“ eingestuft, beispielsweise aufgrund von „Schwachsinn“, Schizophrenie, Epilepsie, weil sie „nur mit mechanischen Arbeiten“ zu beschäftigen oder „kriminelle Geisteskranke“ waren [14]. Diese Patienten wurden in Sammeltransporten entweder über Zwischenanstalten oder direkt in eine von 6 Tötungsanstalten (Grafeneck/Württemberg, Brandenburg/Havel, Hartheim/Linz, Sonnenstein/Pirna, Bernburg/Saale und Hadamar/Hessen) gebracht. Bei Ankunft in einer Tötungsanstalt erfolgte eine ärztliche Untersuchung, bei der bereits ein Leichenschauschein ausgefüllt wurde. Den Ärzten stand eine Liste mit 61 Todesursachen zur Auswahl [2], aus denen eine in einem kausalen Zusammenhang mit der Grunderkrankung der Person stehende ausgewählt wurde. Dementsprechend wurde eine natürliche Todesart bescheinigt, wovon der Buchbeitrag „Ich habe sie eines natürlichen Todes sterben lassen“ zeugt [3]. Tatsächlich wurden die Betroffenen im Anschluss an die Untersuchung mit Kohlenmonoxid vergiftet und ihren Leichen ggf. in einem angrenzenden Sektionssaal die Gehirne „zu wissenschaftlichen Forschungszwecken“ entnommen. Anschließend erfolgte „aufgrund seuchenrechtlicher Bedenken“ [2] eine umgehende Kremierung. Die Angehörigen erhielten Todesnachrichten in Form sog. Trostbriefe, in denen mitgeteilt wurde, dass die Person „plötzlich und unerwartet“ an einer Krankheit verstorben und der Tod in Anbetracht der „unheilbaren geistigen Erkrankung … eine Erlösung“ gewesen sei [2, 14].

Der Hauptsitz dieser zentral organisierten Tötungsaktion befand sich in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, weshalb der Deckname „Aktion T4“ entstand [2, 14]. Die Krankenmorde waren in den Tötungsanstalten mitunter Grund zum Feiern – so z. B. anlässlich der Tötung des 10.000. „unwerten Lebens“ im Spätsommer 1941 in Hadamar. Das Personal wurde eingeladen, sich in den Kellerräumen um den Verstorbenen zu versammeln, jeder Teilnehmer erhielt hierzu eine Flasche Bier [2]. In der Bevölkerung führten die Krankenmorde zu einer zunehmenden Beunruhigung, zudem formierten sich erste kirchliche Proteste. Daher verfügte Hitler am 24.08.1941 die Einstellung der „Aktion T4“ [14]. Dies bedeutete jedoch keineswegs das Ende der Krankenmorde – vielmehr verlagerte sich der Ort des Mordens von den 6 zentralen Tötungsanstalten in dezentrale Einrichtungen, u. a. in den „Kalmenhof“ nach Idstein, eine von 30 entstehenden „Kinderfachabteilungen“ [2, 14].

Der Kalmenhof

Im Jahr 1888 gründeten sozial engagierte Bürger den „Verein für die Idiotenanstalt Idstein“ und erwarben in der südhessischen Stadt den Gutshof „Kalmenhof“. Ziel war es, geistig beeinträchtigten Menschen eine Unterbringung und das Nachgehen einer sinnvollen Tätigkeit zu ermöglichen. Der gut ausgestattete und effizient arbeitende Kalmenhof beherbergte in den 1920er-Jahren mehr als 300 „Zöglinge“ und zählte „zu den führenden Pflegeeinrichtungen“ [30]. Unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde der Kalmenhof im April 1933 übernommen, die zuvor unabhängige Einrichtung wurde nunmehr staatlich kontrolliert und sollte zur Erreichung der nationalsozialistischen Ziele beitragen [15]. Zunächst sollten möglichst viele kranke Menschen möglichst kostengünstig untergebracht werden [35]. Ab dem Jahr 1934 wurden auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ mindestens 216 Patienten des Kalmenhofes zwangssterilisiert [3], bevor die Einrichtung während der „Aktion T4“ von Januar bis August 1941 als Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hadamar fungierte [3, 18]. Nach Beendigung der „Aktion T4“ wurde im Herbst 1941 eine „Kinderfachabteilung“ auf dem Kalmenhof gegründet [15]; bis Kriegsende wurden dort mehr als 700 Patienten getötet. Die genaue Anzahl der Getöteten bleibt u. a. aufgrund unterschiedlicher Angaben in verschiedenen Registern (z. B. evangelisches vs. katholisches Kirchenregister, Hausbuch, Totengräber, Standesamt) bis heute unklar [18, 27].

Zeugenaussagen zufolge wurde den Kindern im Kalmenhof sukzessive Nahrung vorenthalten, bis zum Tod. Die weiteren Tötungsmethoden hingen vom zuständigen Personal ab: Während der Anstaltsarzt Dr. Herrmann Wesse (Mai 1944–Verhaftung April 1945) hauptsächlich Injektionen von 5 ml 3%igem bis 4 %igem „Skoblamin-Morphium“ [sic!] verabreichte und bei Überleben am Folgetag 1 ml oder 2 ml nachspritzen ließ [3], bevorzugte die Anstaltsärztin Mathilde Weber (Juni 1939–Mai 1944) die Kinder „eines natürlichen Todes sterben“ [3], d. h. sie verhungern zu lassen, oder ihnen Luminaltabletten (Phenobarbital) unter den Brei mischen zu lassen [3, 29]. Das für die „Kinderfachabteilung“ zuständige Personal erhielt vom „Reichsausschuss zum Schutze des Deutschen Blutes“ besondere Weihnachts- und Urlaubszuwendungen von jährlich 450 Reichsmark für Ärzte bzw. 360 Reichsmark für Schwestern sowie eine Sonderzahlung von 5 Reichsmark für jeden „Sterbefall“ [3, 17]. Der Totengräber des Kalmenhofes berichtete über Feiern bzw. ein „Richtfest“, wenn 50 Kinder getötet worden waren [3].

Die Kapazitäten auf dem Idsteiner Friedhof waren Anfang 1942 erschöpft, sodass Verstorbene zwischenzeitlich auf dem jüdischen Friedhof bestattet wurden, und schließlich im Oktober 1942 hinter dem Kalmenhof ein Friedhofsgelände angemeldet wurde [27]. Die Angaben zu der Zahl der auf dem Anstaltsfriedhof Bestatteten divergiert von etwa 350 Verstorbenen bis zu 230 Gräbern mit „oft drei oder vier [Verstorbenen] in einem Grab“ [27]. Laut Zeugenaussagen sei der Friedhof in drei Abschnitte aufgeteilt gewesen: „In die Felder vorn kamen die kleineren hin, auf dem mittleren Feld die mittleren und dann oben die größeren“ [27]. Der Friedhof geriet nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunehmend in Vergessenheit und wurde beim Bau eines Dienstwohnungsgebäudes hinter dem Krankenhaus in den 1960er-Jahren fraglich eröffnet und planiert [22, 27]. Anfang der 1980er-Jahre wurde nach einer Bürgerinitiative die nationalsozialistische Vergangenheit des Kalmenhofes aufgearbeitet, eine Gedenkstätte errichtet und der Kalmenhof-Friedhof als Kriegsgräberstätte anerkannt [21, 22, 27]. Das Krankenhausgebäude wurde bis zum Jahr 2007 weiter genutzt; im Jahr 1969 bezog die erste kinder- und jugendpsychiatrische Klinik Hessens die Räumlichkeiten [32].

Fragestellungen

Im Jahr 2016 traf Vitos Rheingau die Entscheidung, das leer stehende Krankenhaus auf dem Kalmenhof-Gelände zu verkaufen. Dies stieß auf massive öffentliche Kritik [4] und warf eine Debatte um die Friedhofsgrenzen, die Anzahl der Gräber und der bestatteten Personen auf [32]. Ein daraufhin durchgeführtes Forschungsprojekt [27] kam im Jahr 2018 u. a. zu dem Schluss, dass die 47 × 6 m große Kriegsgräberstätte deutlich zu klein bemessen sei und sich weitere Gräber außerhalb des ausgewiesenen Bereichs befinden müssten. Diese Vermutung wurde durch Georadarmessungen gestützt, durch die auf angrenzenden Privatgrundstücken teils mehrere kleinere, teils flächig verteilte „grabähnliche Strukturen“ festgestellt wurden (abrufbar im Internet [6, 7]). Zur Klärung dieses Verdachts erwuchs die Notwendigkeit von Grabungen. Sofern möglich, sollten im Rahmen der Grabungen Informationen zu den Verstorbenen, wie Geschlecht, Sterbealter, Todesursache und etwaige Grunderkrankungen, erhoben werden.

Material und Methoden

Die erste Grabungskampagne im Sommer 2020 wurde von einem interdisziplinären Team durchgeführt. Der Umbetter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. hatte die Projektleitung inne; er wurde von Archäologen (Landesamt für Denkmalpflege), Rechtsmedizinern (Institut für Rechtsmedizin Frankfurt), einem Maschinisten für den Kettenbagger und Vertretern des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen unterstützt. Die knöchernen Überreste von drei unbekannten Individuen wurden exhumiert und in das Institut für Rechtsmedizin Frankfurt gebracht. An die forensisch-osteologischen Untersuchungen schloss sich eine Rekonstruktion der Ober- und Unterkiefer mit Anfertigung von Orthopantomogrammen (OPG) bzw. Zahnzielaufnahmen zur Altersschätzung der Individuen an. Im Weiteren erfolgten Röntgenaufnahmen der langen Röhrenknochen, um ggf. Hinweise auf Phasen mit unzureichender Nährstoffversorgung zu erlangen.

Forensische DNA-Analyse

Eine DNA-Extraktion erfolgte bei jedem Individuum aus dem Material, das anhand seines Erhaltungszustandes am ehesten geeignet schien. Bei den beiden Kinderskeletten war dies die Pars petrosa ossis temporalis (Felsenbeinpyramide), bei dem jugendlichen Skelett das Femur und ein Molar.

Das Knochenmaterial wurde mit einer Oszillationssäge und/oder Schleifpapier oberflächlich gereinigt, und für jede eingesetzte Probe wurden ca. 1–3,5 g Knochenmaterial mittels Schlagmessermühle (Tube Mill, IKA-Werke GmbH & Co. KG, Staufen im Breisgau, Deutschland) pulverisiert. Die Oberfläche des Zahns wurde mit 96 %igem Ethanol gereinigt und der Zahn vollständig in der Schlagmesser-Mühle pulverisiert. Für jeden Knochen erfolgte eine Doppelextraktion, zum einen mittels BoneDNA extraction Kit (Promega, Fitchburg, USA) gemäß Herstellerangaben, zum anderen in manueller Extraktion. Für die manuelle DNA Extraktion wurde das Zahn- bzw. Knochenpulver durch 24-stündige Inkubation in 1 M EDTA entkalkt und DNA aus dem verbleibenden Zellmaterial mittels klassischer Phenol-Chloroform-Methode extrahiert [13].

STR-Profile wurden anschließend mittels der kommerziellen Typisierungskits ESIpro (Promega, Fitchburg, USA) sowie ESSplex QS (Qiagen, Venlo, Niederlande) und Kapillarelektrophorese (ABI 3130XL) erstellt. Hierbei kann mittels des „Amelogenin-Markers“ das Geschlecht diagnostiziert werden, die ebenfalls analysierten autosomalen Marker lassen ggf. eine Zuordnung zu Verwandten zu, wenn DNA Material von diesen vorliegt.

Forensisch-toxikologische Analysen

Aliquote der Knochen wurden jeweils für ca. 5 min mittels einer Batch-Mühle in Einwegmahlbechern (Tube Mill, IKA-Werke GmbH & Co. KG, Staufen im Breisgau, Deutschland) zerkleinert. Aliquote des erhaltenen Knochenpulvers wurden anschließend in Methanol gelöst und nach Zugabe interner Standards mittels Ultraschall für 10 min extrahiert. Die Extrakte wurden eingedampft und jeweils nach Derivatisierung (Acetylierung/Methylierung) mittels Gaschromatographie-Massenspektrometrie (GC-MS) vermessen. Ein weiterer Teil des Extraktes wurde in Wasser:Acetonitril (20:80, V:V) gelöst und mittels Hochleistungsflüssigkeitschromatographie hochauflösender Massenspektrometrie (LC-ToF-MS) untersucht.

Ergebnisse

Grabungen

Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Georadaruntersuchungen wurde der Boden der angrenzenden Privatgrundstücke an 26 Stellen sondiert (sog. Sondagen) bzw. die Oberfläche mit einem Bagger großflächig abgetragen (sog. Suchschnitte; Abb. 1). An keiner der untersuchten Stellen fanden sich Gräber [22].

Abb. 1
figure 1

Suchschnitte auf den an die ausgewiesene Kriegsgräberstätte angrenzenden Grundstücken

Demgegenüber kam auf dem Gräberfeld des Kalmenhof-Geländes in einer Bodentiefe zwischen 100 und 122 cm, in einer 160 × 65 cm großen Grube, eine Mehrfachbestattung mit drei Skeletten zutage (Abb. 2). Die Knochen der Individuen lagen teilweise übereinander, wobei das zuoberst liegende Skelett (Individuum Nr. 1) den besten Erhaltungszustand aufwies, und die Knochen in Rechtsseiten- bis Bauchlage ausgerichtet waren. Rechter Radius und rechte Ulna ragten an der Grabgrubengrenze annähernd senkrecht in Richtung Bodenoberfläche, die Oberschenkelknochen waren überkreuzt. Die Anordnung der Knochen des Individuums Nr. 2 entsprach einer Bauchlage; der in mehreren Fragmenten vorliegende Schädel wies mit dem Gesichtsschädel nach unten. Die zu Individuum Nr. 3 gehörenden Knochen waren am wenigsten gut erhalten und entsprechend einer Rückenlage angeordnet. Etwa auf Höhe der gedachten Beckenknochen lag ein etwa 2 : 1,5 cm messender Gegenstand aus Glas, der an die Form eines Schneckenhauses erinnerte und an dem schmalen Ende eine Bruchkante aufwies (Abb. 3).

Abb. 2
figure 2

Mehrfachbestattung in 100–122 cm Bodentiefe, von links nach rechts: Individuum Nr. 1 in Rechtsseiten- bis Bauchlage, Individuum Nr. 2 in Bauchlage, Individuum Nr. 3 in Rückenlage

Abb. 3
figure 3

Beifund aus Glas, am ehesten zu Individuum 3 gehörend, etwa auf Höhe der gedachten Beckenknochen

Metallgegenstände oder andere Hinweise, die auf eine Sargbestattung hindeuten würden, fanden sich nicht.

Individuum Nr. 1

Das Skelett von Individuum Nr. 1 war nahezu vollständig, die Knochen wiesen einen sehr guten Erhaltungszustand auf (Abb. 4a). Die proximale Epiphysenkappe des rechten Femurs war mit der Diaphyse verbunden. Weitere Epiphysenkappen (Humeri, Tibiae, Metatarsus I) lagen den Knochen lose bei.

Abb. 4
figure 4

Individuum Nr. 1: a Übersicht der aufgefundenen Knochen, b dezent ausgeprägte Zahnschmelzhypoplasien, c OPG-Aufnahme, nichtabgeschlossenes Wurzelwachstum der Weisheitszähne, d Rekonstruktion für die OPG-Aufnahme, e Röntgenaufnahme von Tibia und Fibula mit distalen Epiphysenkappen, f Detailaufnahme: dezent ausgeprägter Harris-Linien (Fibula proximal)

Aufgrund des Sterbealters waren die geschlechtsdiskriminierenden Merkmale an den Knochen eingeschränkt beurteilbar, wobei die Merkmalsausprägungen an Schädel- und Beckenknochen auf ein weibliches Geschlecht hindeuteten. Die DNA-Analyse ergab beim Amelogenin-Marker ein weibliches Geschlecht. Bei keiner der eingesetzten Proben konnten mittels DNA-Analyse autosomale Systeme erfolgreich untersucht werden.

An Ober- und Unterkiefer lag ein permanentes Gebiss vor, wobei die Kronen der Weisheitszähne die Kauebenen nicht erreicht hatten. Es lag eine kaum abgrenzbare Abrasion der Kauflächen vor. Im Gegensatz zu Zahnstein waren makroskopisch keine kariösen Veränderungen festzustellen. Mehrere Zähne wiesen dezent ausgeprägte, quer verlaufende Einsenkungen im Zahnschmelz (sog. Zahnschmelzhypoplasien) auf (Abb. 4b). Die OPG-Aufnahme (Abb. 4c) erbrachte an den drei vorhandenen 3. Molaren ein beginnendes Wurzelwachstum in Nadelform, noch ohne eine Aufgabelung, entsprechend einem Stadium D nach Demirjian et al. [5]. Gemäß Olze et al. [24] liegt dieses Stadium bei kaukasoiden weiblichen Individuen im Mittel in einem Alter von 15,5 Jahren (Zahn 38) bzw. 15,7 Jahren (Zähne 28 und 48) mit einer Standardabweichung von 2,5 Jahren (Zahn 28) bzw. 2,6 Jahren (Zähne 38 und 48) vor. Unter Zugrundelegung der einfachen Standardabweichung wäre eine Altersspanne zwischen 12,9 und 18,2 Jahren anzunehmen. Für ein jugendliches und noch nicht ausgewachsenes Alter sprachen zudem die anatomische Anordnung der Knochen bei Auffindung über eine Länge von ca. 143 cm und der Verknöcherungsgrad der Epiphysenfugen, am rechten Femur mit proximal verbundener Epiphysenkappe und im Weiteren acht beiliegenden Epiphysenkappen [31] sowie eine noch nicht eingesetzte Verknöcherung der Schädelnähte, insbesondere des 3. Segments der Sagittalnaht [23, 31].

Auf den Röntgenaufnahmen kamen angedeutet horizontal und parallel zu den Epiphysenfugen verlaufende Linien mit höherer Knochendichte, sog. Harris-Linien, beidseits am Femur distal sowie der Fibula proximal (Abb. 4e,f) zur Darstellung.

Individuum Nr. 2

Die dem Individuum Nr. 2 zuzuordnenden Knochen befanden sich im Vergleich zu den Knochen des Individuums Nr. 1 in einem weniger guten Zustand. Der vollständige Schädel und der Unterkiefer lagen in 11 Fragmenten vor. Zahlreiche Knochen des Rumpfes und die langen Röhrenknochen waren zumindest anteilig vorhanden (Abb. 5a).

Abb. 5
figure 5

Individuum Nr. 2: a Übersicht der aufgefundenen Knochen, b,c Rekonstruktion Ober- und Unterkiefer, d,e OPG-Aufnahme Ober- und Unterkiefer

Geschlechtsdiskriminierende Merkmale waren aufgrund des jungen Sterbealters nicht ausgebildet. Die DNA-Analyse ergab beim Amelogenin-Marker ein männliches Geschlecht. Die DNA-Analyse der autosomalen Systeme ergab ein vollständiges DNA-Profil.

Der makroskopisch und der radiologisch erhobene Zahnstatus (Abb. 5b–e), insbesondere das Entwicklungsstadium der Zahnknospen 34 und 44, waren folgenden Stadien bzw. Altersgruppen zuzuordnen:

  • nach Kreter und Pantke [16] einem Stadium zwischen 1,5 Jahren ± 3 Monaten und 2,5 Jahren ± 4 Monaten,

  • nach Pilz et al. [25] einem Stadium entsprechend 3 Jahren,

  • nach Ubelaker [19] einem Stadium entsprechend 2 Jahren ± 8 Monaten,

  • nach AlQuahanti et al. [1] einem Stadium zwischen 1,5 Jahren 2,5 Jahren.

Zusammenfassend ergab sich ein Sterbealter von am ehesten 2,0 bis 2,25 Jahren.

Individuum Nr. 3

Die knöchernen Überreste des Individuums Nr. 3 waren im Vergleich zu den Knochen der anderen beiden Individuen deutlich schlechter erhalten (Abb. 6a).

Abb. 6
figure 6

Individuum Nr. 3: a Übersicht der aufgefundenen Knochen, b Rekonstruktion des Unterkiefers – Milchzähne (Rechteck), Zahnkronen bleibende Zähne (Pfeile), c Rekonstruktion des Oberkiefers, d Zahnzielaufnahme Oberkiefer, e OPG, Unterkiefer

Geschlechtsdiskriminierende Merkmale waren aufgrund des jungen Sterbealters nicht ausgebildet. Die DNA-Analyse ergab beim Amelogenin-Marker ein männliches Geschlecht. Die DNA-Analyse der autosomalen Systeme ergab ein vollständiges DNA-Profil.

Der aus 3 Fragmenten bestehende Unterkiefer wurde rekonstruiert (Abb. 6b, c). Der makroskopisch und radiologisch erhobene Zahnstatus (Abb. 6d, e), insbesondere das Entwicklungsstadium der Zahnknospen 34 und 44, waren folgenden Stadien bzw. Altersgruppen zuzuordnen:

  • nach Kreter und Pantke [16] kurz vor Erreichen des Stadiums entsprechend 2,5 Jahre ± 4 Monate,

  • nach Pilz et al. [25] einem Stadium zwischen 3 und 4 Jahren,

  • nach Ubelaker [19] einem Stadium entsprechend 2 Jahren ± 8 Monate

  • nach AlQuahanti et al. [1] kurz vor Erreichen des Stadiums entsprechend einem Alter von 2,5 Jahren.

Zusammenfassend war ein Sterbealter von am ehesten etwa 2,5 Jahren anzunehmen.

Körperliche Behinderung und Traumata

An den untersuchten Knochen der 3 Individuen waren keine Hinweise auf eine körperliche Behinderung festzustellen. Aus den erstellten DNA-Profilen ergaben sich bei den kindlichen Individuen keine Hinweise auf eine numerische Chromosomenaberration, z. B. im Sinne einer Trisomie 21. Ferner wiesen die untersuchten Knochen weder Zeichen prämortaler noch perimortaler Traumata auf.

Chemisch-toxikologische Untersuchungen

Die Untersuchungen erbrachten keinen Nachweis, dass eines der 3 Individuen Arzneistoffe oder sonstige toxische Noxen aufgenommen hat.

Diskussion

Georadarmessungen und Grabungen

Die in dem Forschungsbericht von Schneider und Jenner zusammengetragenen Erkenntnisse, wonach nur etwa ein Viertel bis ein Drittel der Gräberfläche als solche deklariert gewesen sei [27], schien durch die Ergebnisse der Georadarmessungen gestützt zu werden. Die visualisierte Darstellung (abrufbar im Internet [6]) veranschaulicht auf den angrenzenden Grundstücken eine deutlich größere Fläche als die ausgewiesene Kriegsgräberstätte mit Anomalien, die als „grabähnliche Strukturen“ bzw. „mögliche Grabflächen“ beschriftet wurden. Bei den Grabungen wurden auf den angrenzenden Grundstücken keine Gräber aufgefunden. Die bei den Georadarmessungen festgestellten „grabähnlichen Strukturen“ wurden durch den hier vorliegenden Tonschieferboden imitiert. Dies verdeutlich den weiterhin enormen Stellenwert von Grabungen, um die mit nichtinvasiven Untersuchungstechniken erhobenen Ergebnisse zu verifizieren oder auszuräumen.

Die bei der Grabung aufgefundene Mehrfachbestattung stützt die Angaben von Zeitzeugen, wonach „in den meisten [Gräbern] mehr als ein Toter, oft drei und vier“ bestattet wurden [3, 27]. Auffallend war die Anordnung der Knochen, die einmal einer Rechtsseiten- bis Bauchlage, einmal einer Bauchlage und einmal einer Rückenlage entsprach. Zudem lagerten die Knochen der einzelnen Individuen anteilig übereinander, und Radius und Ulna des zuoberst liegenden Individuums ragten entlang der Grabgrenze in Richtung Bodenoberfläche. Diese Feststellungen sprechen gegen eine geordnete Bestattungssituation und vielmehr für ein ungeordnetes Hineinlegen bzw. Hineinwerfen der Leichname in die Grabgrube. Das passt zu Zeugenberichten, wonach ab Ende 1942 Holz gespart und in der anstaltseigenen Schreinerei wiederverwendbare und ausschließlich für den Transport gedachte „Klappsärge“ mit aufklappbarem Boden hergestellt [3], sowie dass die Leichname „mit der Schubkarre auf den Anstaltsacker gefahren und in die vorher ausgehobenen Löcher gekippt“ worden seien [3]. Dass der Kalmenhof-Friedhof aufgeteilt gewesen und die Verstorbenen in Abhängigkeit von ihrem Alter bestattet worden seien („vorn kamen die kleineren hin, auf dem mittleren Feld die mittleren und dann oben die größeren“ [27]), war anhand der untersuchten Mehrfachbestattung nicht nachzuvollziehen.

Identität der Verstorbenen

Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit konnten Erkenntnisse zusammengetragen werden, die nachfolgende Recherchen im Standesamt der Stadt Idstein erlaubten. Anhand der Konstellation der Geschlechter, des ungefähren Sterbealters sowie der Annahme, dass die in dem aufgefundenen Grab bestatteten 3 Individuen am selben Tag bzw. maximal innerhalb von wenigen Tagen nacheinander verstarben, ergab sich ein konkreter Identitätsverdacht [26]. Diesem wird aktuell weiter nachgegangen. Zudem könnte der bei Individuum 3 aufgefundene Glasgegenstand (Abb. 3) einen Hinweis auf die Identität geben. Möglicherweise hat der Junge diesen in der Hosentasche getragen, und es gibt (noch) jemanden, der den Gegenstand wiedererkennen könnte.

Mithilfe der forensischen DNA-Analyse gelang es für alle drei Individuen, das Geschlecht zu bestimmen. Insbesondere bei kindlichen Skeletten sind die Möglichkeiten der osteologischen Geschlechtsdiskriminierung sehr eingeschränkt. Bei zwei Skeletten (Individuen Nr. 2 und Nr. 3) wurde ein vollständiges DNA-Profil erlangt, was im Vergleich mit noch lebenden Verwandten hilfreich sein könnte. Dass bei dem makroskopisch am besten erhaltenen Skelett (Individuum Nr. 1) kein einziges DNA-System erfolgreich untersucht werden konnte, bestätigt die Erfahrung, dass der Erfolg einer forensischen DNA-Analyse an Knochen anhand des Erhaltungszustandes schwer vorauszusagen ist.

Todesursache

Durch die durchgeführten Untersuchungen konnten die Todesursachen der drei Individuen nicht geklärt werden. Perimortale Verletzungen wiesen die Knochen nicht auf, sodass sich keine Hinweise auf eine todesursächliche Gewalteinwirkung ergaben. Die an dem jugendlichen Individuum festgestellten Zahnschmelzhypoplasien (Abb. 4b) und Harris-Linien (Abb. 4e,f) sprechen für wiederholte und längere Zeit vorherrschende Phasen mit unzureichender Nährstoffversorgung [11, 20]. Aufgrund der Zahnschmelzentwicklung im Kleinkindalter können sie bei dem jugendlichen Individuum nicht auf den Aufenthalt in der „Kinderfachabteilung“ zurückgeführt werden. Die Entstehung oder die zunehmende Ausprägung von Harris-Linien während des Aufenthaltes im Kalmenhof wäre möglich, wobei insbesondere in den Jahren 1943 bis 1945 durchschnittlich nur wenige Tage bis Wochen zwischen dem Aufnahme- und dem Todestag im Kalmenhof vergingen [3]. Eine i.v.-Verabreichung von Phenobarbital konnte durch die chemisch-toxikologischen Untersuchungen nicht belegt werden. Ebenso wenig die Aufnahme von Scopolamin-Morphium [3], eine erstmals im Jahre 1900 beschriebene Medikamentenkombination, die einen Wechsel von inhalativen zu s.c. verabreichten Narkotika darstellte [33]. Allerdings sind die wissenschaftlichen Erfahrungen zu chemisch-toxikologischen Untersuchungen an Knochen mit langem postmortalem Intervall und längerer Liegezeit im Boden sehr begrenzt [8, 9, 34]. Zudem können Arzneimittel bzw. Toxine nur dann nachgewiesen werden, wenn es zu einer Einlagerung in den Knochen gekommen ist. Bei einer einmaligen, unmittelbar todesursächlichen oder einer mehrfachen, innerhalb eines Zeitraums von wenigen Stunden bis Tagen kurz vor dem Tod erfolgten Verabreichung kann nicht von einer solchen Einlagerung ausgegangen werden.

Umgang mit den an der Euthanasie beteiligten Ärzten

Am 20.01.1947 wurde vor dem Landgericht Frankfurt der „Kalmenhof-Prozess“ eröffnet. Die 2 Anstaltsärzte Mathilde Weber und Dr. Herrmann Wesse wurden am 7. Verhandlungstag, am 30.01.1947, wegen Mordes in einer unbekannten Anzahl von Fällen zum Tode verurteilt [3]. Während das Urteil gegen Wesse rechtskräftig wurde, profitierte Weber davon, „die Gattin [eines] in der ganzen Umgegend seit langen Jahren bekannten und hochgeschätzten Arztes …“ [3] gewesen zu sein. Innerhalb weniger Tage formierten sich Idsteiner Bürger, um Webers Revision „gegen diesen unbegreiflich harten Urteilsspruch“ [3, 28] zu unterstützen. Weber, die noch 1944 über den Anstaltsdirektor in einem Brief an das NS-Regime betonen ließ, dass „keineswegs … eine Abneigung gegen die mit ihrer Position verbundenen Pflichten und Aufgaben im Kalmenhof“ bestand und sie „die Arbeit im Kalmenhof gern geleistet“ [3] habe, wurde von 600 Idsteiner Bürgern in ihrer Revision unterstützt. Auch Gemeindevertreter nahmen zu dem Urteil Stellung und fassten einen Beschluss, in dem u. a. aufgeführt wurde: „Und es wäre nur ein Akt der Menschlichkeit, wenn die eingeleitete Revision so schnell wie möglich durchgeführt und dabei der Charakter und die menschliche Haltung der Angeschuldigten gewürdigt würden“ [3]. Der so nachhaltig unterstützten Revision wurde stattgegeben und Weber etwa 2 Jahre nach dem ersten Urteil, am 09.02.1949, wegen Beihilfe zum Mord in einer unbekannten Anzahl von Fällen zu 3 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus verurteilt [3, 29]. Aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes und nach Ablehnung eines Gnadengesuchs, in dem Weber um den Erlass der Reststrafe, die Kosten des Strafverfahrens und das Löschen der Strafe im Strafregister gebeten hatte, trat sie ihre Strafe mit einem zeitlichen Versatz am 11.10.1954 an. Sie wurde 36 Tage später, am 16.11.1954, nach Anrechnen der Untersuchungshaft und Verbüßen von zwei Dritteln der Strafe aus dem Gefängnis entlassen [21]. Noch im selben Jahr begann sie, als Sprechstundenhilfe bei ihrem Schwager, dem ehemaligen SS-Arzt Dr. Julius Muthig, zu arbeiten. Sie heirateten, und Weber praktizierte ab dem Jahr 1960 wieder als Ärztin in Idstein, wobei bis heute nicht geklärt ist, ob sie ihre Approbation wiedererlangt hatte. Weber lebte bis 1994 in Idstein [10].

Ausblick

Die knöchernen Überreste der 3 Individuen wurden am Volkstrauertag 2020 im Rahmen einer Gedenkveranstaltung an ihrer ursprünglichen Begräbnisstelle wieder beigesetzt. Durch die Grabungen im Sommer 2020 wurde zwar nachgewiesen, dass sich auf den benachbarten Grundstücken keine größeren Grabflächen befinden, allerdings blieben die genauen Grenzen des Anstaltsfriedhofs weiter unklar. Daher wurden die begonnenen Grabungen im Frühjahr 2021 in der gleichen interdisziplinären Zusammensetzung fortgesetzt; die Ergebnisse werden aktuell zusammengetragen.

Schlussfolgerung

Die mehrjährige Planung und Durchführung der aufeinander abgestimmten Untersuchungen auf dem Kalmenhof-Gelände verdeutlichen, wie unerlässlich eine breit aufgestellte interdisziplinäre Zusammenarbeit insbesondere in diesem Themenfeld ist. Dabei kommt der Rechtsmedizin eine Schlüsselfunktion im Rahmen der Identifizierung, der Frage nach Pathologien und der Beurteilung von Verletzungen zu. Ferner ist ein stets kritisches Hinterfragen von Angaben in historischen Quellen und Ergebnissen auch neuester Untersuchungsmethoden unabdingbar.