Einleitung

In Deutschland werden pro Jahr mehrere Hunderttausend Vergiftungsfälle mit unterschiedlichen Ätiologien und Noxen gemeldet. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2016 in Deutschland 178.425 Vergiftungsfälle im Krankenaus behandelt [1, 2]. Zu den klinischen Sofortmaßnahmen gehören Verfahren zur Verhinderung weiterer Giftresorption. Die Anwendung von Aktivkohle – auch als medizinische Kohle, Medizinalkohle oder Carbo medicinalis bekannt – sollte dabei nur nach oraler Ingestion von Noxen erfolgen [3]. Vor der Applikation muss eine Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen. Diese richtet sich nach der zu erwartenden Schwere der Vergiftung und wird dabei nach dem Poisoning Severity Score [4] abgeschätzt. Die Applikation von Aktivkohle bei mittelschweren bis schweren Vergiftungen gilt als Dekontaminationsverfahren der ersten Wahl [5]. Die Gabe sollte möglichst schnell erfolgen, in der Regel innerhalb der ersten 30–60 min nach Ingestion. Der Patient muss hierbei wach und kooperativ sein. Die wichtigste Kontraindikation ist ein bewusstseinsgetrübter Patient ohne ausreichende Schutzreflexe wegen der hohen Aspirationsgefahr [6,7,8,9]. Die Verwendung einer Magensonde ohne vorausgehende Lagekontrolle ist obsolet. Eine Aktivkohlegabe gegen den Willen des Patienten über eine Magensonde ist nur bei einer lebensbedrohlichen Vergiftung wie beispielsweise im Rahmen eines Suizidversuches möglich [10]. Zudem muss die Noxe ausreichend an Aktivkohle binden. Aktivkohle besitzt eine sehr große Oberfläche, an welche Noxen binden können, sodass deren Resorption aus dem Magen-Darm-Trakt verhindert werden kann. Die Bindungskapazität der Aktivkohle für einzelne Gifte ist jedoch unterschiedlich; Mineralsäuren und Laugen werden durch Aktivkohle nicht neutralisiert, Eisen- und Lithiumsalze sowie Zyanide nur schlecht an Aktivkohle gebunden. Alkohole und Lösungsmittel werden ebenfalls nur unzureichend absorbiert, sodass die Wirksamkeit der Aktivkohle bei Vergiftungen mit derartigen Stoffen mehr als unsicher ist. Die meisten Arzneimittel sowie pflanzliche und tierische Gifte werden aber hervorragend gebunden [10].

Fallbericht

Ein 14 Jahre alt gewordenes Mädchen habe in fraglich suizidaler Absicht mehrere Tabletten Amitriptylin eingenommen. Im erstbehandelnden Krankenhaus sei ihr eine unbekannte Menge an Aktivkohle über eine Magensonde verabreicht worden. Aufgrund der endotrachealen Fehllage der Magensonde wurde die Aktivkohle jedoch in die Luftröhre und Bronchien appliziert. Als dies erkannt wurde, erfolgte die Verlegung an ein Krankenhaus der Maximalversorgung. Trotz intensivmedizinischer Therapie bis zu venovenöser extrakorporaler Membranoxygenierung (vv-ECMO), mehrfachen Bronchoskopien sowie Bronchiallavagen und frühzeitiger Vorstellung in einem Zentrum für Lungentransplantation sei das Mädchen nach 18 Tagen verstorben. An Vorerkrankungen seien ein Suizidversuch sowie Depressionen und eine Borderline-Persönlichkeitsstörung bekannt gewesen.

Bei der gerichtlichen Obduktion im Institut für Rechtsmedizin der Universität Würzburg 3 Tage post mortem fielen bei der Verstorbenen massiv vergrößerte Lungen auf, die schwärzliches, an Aktivkohle erinnerndes Material in den peripheren Luftwegen sowie in den Alveolarräumen aufwiesen (Abb. 1 und 2). Beide Lungen zeigten massive entzündliche Veränderungen mit deutlich vermehrter Brüchigkeit des Gewebes.

Abb. 1
figure 1

Übersicht auf die Schnittfläche der linken Lunge

Abb. 2
figure 2

Detailaufnahme der Schnittfläche der linken Lunge. In den Alveolen ist schwärzliches, an Aktivkohle erinnerndes Material erkennbar

In der mikroskopischen Untersuchung imponierten sowohl eine heterogene Verteilung der intraalveolär gelegenen, variabel dichten Ansammlungen der Aktivkohle in allen Lungenlappen (Abb. 3) als auch mehrzeitige, akute sowie chronische entzündliche Veränderungen im Lungenparenchym. Neben prädominant intraalveolärer Vermehrung von segmentkernigen neutrophilen und eosinophilen Granulozyten entsprechend einer Bronchopneumonie (Abb. 4) und Kohleansammlungen z. T. in phagozytierter Form in Alveolarmakrophagen als Ausdruck der intravitalen Entzündungsreaktion (Abb. 5) präsentierten sich zahlreiche Fibroblastenproliferate („fibroblast foci“) und Granulozyten gemäß einer karnifizierenden Pneumonie (Abb. 6).

Abb. 3
figure 3

Übersicht des Lungenparenchyms mit heterogener Verteilung der intraalveolär gelegenen variabel dichten Ansammlungen der Aktivkohle (Hämatoxylin-Eosin-Färbung)

Abb. 4
figure 4

Lungenparenchym mit prädominant intraalveolärer Vermehrung von segmentkernigen neutrophilen und eosinophilen Granulozyten entsprechend einer Bronchopneumonie (Hämatoxylin-Eosin-Färbung)

Abb. 5
figure 5

Kohleansammlung z. T. in phagozytierter Form in Alveolarmakrophagen als Ausdruck der intravitalen Entzündungsreaktion mit begleitenden Granulozyten und Lymphozyten sowie Ausbildung von Fibroblastenproliferaten (Hämatoxylin-Eosin-Färbung)

Abb. 6
figure 6

Fortgeschrittene entzündliche Veränderungen des Lungenparenchyms als Folge der Kohleansammlungen unter dem Bild einer karnifizierenden Pneumonie mit zahlreichen Fibroblastenproliferaten („fibroblast foci“) und Granulozyten mit konsekutivem Verlust der für die Ventilation notwendigen Alveolarräume (Hämatoxylin-Eosin-Färbung)

Im Leberparenchym erfolgte der intrasinusoidale Nachweis von überwiegend von Histiozyten phagozytierter Kohle. Beide Nieren wiesen Kohle innerhalb der Tubuli in teils freier, teils phagozytierter Form auf.

Im Blut der Verstorbenen konnten Midazolam, Ketamin und Propofol nachgewiesen werden, die der klinischen Medikation zugeordnet werden konnten. Somit ergaben sich bei der chemisch-toxikologischen Untersuchung keine Hinweise auf eine Amitriptylinintoxikation.

Insgesamt war ein Tod durch akutes Lungenversagen nach Massivaspiration von Aktivkohle anzunehmen.

Diskussion

Die Anwendung von Aktivkohle wird als Dekontaminationsverfahren der ersten Wahl nach oralen Vergiftungen angesehen [5]. Voraussetzung für die Gabe von Aktivkohle ist ein kooperativer Patient. Kontraindiziert ist die Gabe bei bewusstseinseingetrübten Patienten ohne ausreichende Schutzreflexe und bei hoher Aspirationsgefahr.

Im vorliegenden Fall kam es zu einer Fehllage der Magensonde in die Luftwege. Für die Anlage einer Magensonde bedarf es einer hinreichenden medizinischen Indikation. Bei einer geringen Dosis von Amitriptylin ist die Anlage einer Magensonde nicht gerechtfertigt und eine Monitorüberwachung ausreichend. Bei unklarer Menge einer stattgehabten Ingestion fällt diese Risiko-Nutzen-Abwägung naturgemäß nicht leicht. Eine klinisch-toxikologische Notfallanalyse wurde nicht durchgeführt. Da der Wille des mutmaßlich suizidal handelnden Mädchens nicht eruiert werden konnte, erfolgte die Behandlung im Rahmen der Notfallbehandlung als Geschäftsführung ohne Auftrag. Würde man die Indikation als gegeben hinnehmen, bliebe die Bewertung der Güte der Magensondenanlage. Diese ist bei intratrachealer Fehllage im Verdacht als mangelhaft und gegen den fachärztlichen und pflegerischen Standard zu bewerten. Eine Magensonde irrtümlich tracheal zu platzieren, gelingt nur bei Anwendung physischen Zwangs oder bei bewusstseinsgetrübten oder bewusstlosen Patienten. Eine Magensonde ohne Lagekontrolle zur Applikation von Kohle, enteraler Ernährung o. Ä. freizugeben, stellt einen groben ärztlichen Behandlungsfehler dar.

Trotz Maximaltherapie, inklusive vv-ECMO, und frühzeitiger Vorstellung in einem Zentrum für Lungentransplantation, war das Vorliegen von Aktivkohle im Bronchialsystem des Mädchens letal. Im Rahmen mehrfacher Bronchoskopien konnten zwar größere Bestandteile der Aktivkohle selektiv geborgen werden, eine alveoläre Elimination der Aktivkohle konnte erwartungsgemäß jedoch nicht gelingen. Die mikroziliäre Clearance der Lunge war angesichts der Dimension der Kohleaspiration vollkommen ausgeschöpft.

Im vorgestellten Fall eines 14 Jahre alt gewordenes Mädchen war unter Berücksichtigung der Vorgeschichte und der klinischen, autoptischen und histologischen Befunde von einer iatrogenen Massivaspiration von Aktivkohle mit Intention zur Giftelimination nach mutmaßlich gescheiterten Suizidversuch auszugehen. Bei der gerichtlichen Obduktion mit nachfolgender mikroskopischer Untersuchung der Organe waren Hinweise auf akute sowie chronische entzündliche Veränderungen im Lungenparenchym zu erheben, welche die Überlebenszeit von 18 Tagen widerspiegelten. Zudem konnten sowohl im Tubulussystem der Niere als auch im Lebergewebe Aktivkohle nachgewiesen werden. Hinweise auf entzündliche Veränderungen oder Nekrosen im Nieren- und im Lebergewebe fanden sich nicht.