Die Verkehrsmedizin (VM) als gewachsener Teil der Rechtmedizin unterliegt einem steten Wandel. So wie sich medizinische Grundlagen und Fahrzeugtechnik entwickeln, verändert sich auch die Gesellschaft, die den Auftrag der Verkehrsmedizin festlegt. Auch die VM der Schweiz in ihrer Sonderstellung ist mit Veränderungen konfrontiert, denen idealerweise durch aktive und vorausschauende Anpassung von Prozessen und evidenzbasierte Forschung zu begegnen ist. Basierend auf einer historischen Einordnung wird das Tool Fahrsimulation (FS) als ein – die rechtsmedizinische Forschung auch insgesamt – bereichernder Ansatz diskutiert.

Seismograph Auto

Das Führen eines Motorfahrzeugs hat sich von einem Privileg weniger nahezu zu einem Grundrecht aller entwickelt [1]. Beides lässt sich auf wirtschaftlicher Basis motivieren: Zunächst hatten nur wenige die finanziellen Mittel für ein Motorfahrzeug; heutzutage bildet das Fahrzeug oder das Recht, ein Fahrzeug zu führen, oft die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz. Darüber hinaus ist das Führen eines Automobils psychologisch inzwischen nahezu untrennbar mit dem Gefühl der Freiheit verknüpft worden. Autofahren ist also in den Augen vieler ein Quasigrundrecht, das nahezu den Maslow-Grundbedürfnissen zugerechnet werden kann (Individualbedürfnisse: [2, S. 381 f.]).

Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass Kontrolle oder Entzug der Fahrerlaubnis oder auch die Verschärfung von Regularien im Verkehr insgesamt Seismographen der „Stimmungslage“ sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft sind (aktuell: [3]). Als soziale Situation trägt der Verkehr aber für das Individuum inhärent in sich ein Dilemma: Obwohl nahezu jeder Bürger in irgendeiner Form am Verkehr teilnimmt und sich ein hohes Maß an Sicherheit und Schutz wünscht, werden regulierende, kontrollierende oder korrektive Eingriffe in das eigene Verkehrsverhalten oft negativ aufgenommen. Im „worst case“ schwinden Akzeptanz und Einhaltung der Regeln. Für ein breit akzeptiertes Regelwerk müssen sich alle am gesellschaftlichen Auftrag „Verkehrssicherung“ Beteiligten immer wieder im demokratischen Prozess abstimmen. Hierbei müssen sie ihre Rolle hinterfragen, ihre Arbeit methodisch kontinuierlich modernisieren sowie ihre evidenzbasierten Vorschläge und Entscheidungen nachvollziehbar vermitteln. Neben dem zentralen Akteur „Fahrzeuglenkende(r)“ schließt dies die Legislative (als Vertreter der Gesellschaft), die Jurisdiktion, die Polizei, die Straßenverkehrsämter und nicht zuletzt die VM ein.

Auftrag und historische Entwicklung

Als gewachsenes Teilgebiet der Rechtsmedizin begutachtet die heutige VM, ob die medizinischen (Mindest‑)Anforderungen, die an eine Fahrfähigkeit oder Fahreignung für eine Führerausweiskategorie gestellt werden, erfüllt sind, waren oder unter welchen Voraussetzungen sie – nach Verstoß oder Krankheit – wiedererlangt werden können. Sie nimmt zudem Stellung in Streitfragen über Fahrfähigkeit und Fahreignung.

Der in der Schweiz verwendete Begriff „Fahrfähigkeit“ – synonym zum in Deutschland gebräuchlichen Begriff „Fahrsicherheit“ – bezeichnet die momentane, zeitlich umschriebene und ereignisbezogene, physische und psychische Befähigung zum sicheren Führen eines Motorfahrzeugs im Straßenverkehr. Der Begriff Fahreignung bezeichnet die allgemeinen, zeitlich nicht umschriebenen und nicht ereignisbezogenen, physischen und psychischen Voraussetzungen zum sicheren Führen eines Motorfahrzeugs.

Dieser – zumindest in der Schweiz – recht klar definierte und institutionalisierte Auftrag entwickelte sich aus drei anderen nicht synchron verlaufenden historischen Geschehnissen:

  • Entwicklung und Verbreitung von Fahrzeugen (Zahl, Dichte, Leistung und Technik) mit der daraus resultierenden Formulierung von (Straßen)Verkehr(sregeln),

  • damit einhergehende Entwicklung von Regeln für den Erhalt (und später die Beibehaltung) einer Fahrerlaubnis und

  • veränderte technische, gesellschaftliche und medizinische Sicht auf das Fahrzeug selbst sowie das Fahren eines Fahrzeugs.

Bei den ersten tödlichen Unfällen mit motorisierten Fahrzeugen [4, 5] und der Frühzeit des Automobilismus bestand die Aufgabe der Rechtsmediziner („coroner“) vorwiegend in der Feststellung des Unfallhergangs und der Todesursache, aber nur ansatzweise in der Einschätzung bzw. Begründung einer Unachtsamkeit als Grundlage für eine Schuldfeststellung. Damals waren also die Anfänge der Unfallrekonstruktion und der forensischen Traumatologie, wie sie heute noch z. B. in der deutschen Verkehrs‑/Rechtsmedizin als Schwerpunkte existieren, schon klar angelegt. Gleichzeitig entsprach die „behördliche“ Fahrerlaubnis zunächst eher einer Registrierung [6], und auf der Straße galten kaum andere Regeln als die tradierten Umgangsregeln. Wie bei nahezu allen technischen Neuerungen wurde eine Vielzahl von positiven und negativen Effekten des Autofahrens postuliert, denen aber sämtlich die wissenschaftliche Grundlage fehlte.

Mit zunehmender Verbreitung von Motorfahrzeugen, also der eigentlichen Entstehung des umgangssprachlich heute so genannten Verkehrs und seiner Verdichtung insbesondere in Städten, entstand die Notwendigkeit allgemein verbindlicher Verkehrsregeln und den Verkehr steuernder technischer Einrichtungen (u. a. Ampeln, Verkehrspolizist). So wurden in Deutschland 1909 in der Reichs-Straßenverkehrsordnung (mittlerweile StVO) erste Verkehrsregeln festgelegt und z. B. die Höchstgeschwindigkeit für alle Fahrzeuge auf 15 km/h begrenzt. Erstmals war auch ein Führerscheinverlust möglich [7]. Für die Schweiz sollen hier die vergleichbaren Konkordate aus den Jahren 1904 und 1914 sowie der Beitritt der Schweiz zur internationalen Übereinkunft über den Automobilverkehr genannt sein [8]. In jeweils länder- und kantonsspezifischer Ausprägung musste daraufhin das Autofahren zunehmend regelhaft erlernt werden, und eine Fahrerlaubnis wurde erst nach Prüfung der Fahrkompetenz erteilt. Hierbei dominierte klar die Fähigkeit zur Handhabung des Fahrzeugs.

Aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen stellte sich die Frage nach medizinischen Voraussetzungen für einen Führerschein in der Realität zunächst nicht. Allerdings traten mit Beginn der 1920er-Jahre medizinisch/pharmakologische Aspekte in der Schuldfeststellung zunehmend in den Vordergrund, wobei der Einfluss von Alkohol und Drogen vorherrschte. Die Erkenntnisse aus derartigen Erhebungen mündeten zunächst nicht in Verboten.

Wegweisende gesetzliche Grundlagen und ihre Entwicklung bis heute

Vor diesem Hintergrund stellt das ab 15.03.1932 geltende Schweizer „Bundesgesetz über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr“ (MFV) eine nahezu unvermittelt frühe und wegweisende Zäsur für die gesamte VM dar. Unter Beibehaltung der wesentlichen verkehrsmedizinischen Inhalte wurde das MFV 1959 vom Straßenverkehrsgesetz (SVG) abgelöst und ab 1976 von der Verkehrszulassungsverordnung (VZV) flankiert.

Das Gesetz führte in der Schweiz 3 nach Leistung und Gefährdung gestaffelte Fahrausweiskategorien ein (Abb. 1), die im Wesentlichen in dieser Form bis zur Einführung der EU-Fahrausweisverordnung im Rahmend einer Revision der VZV im Jahr 2016 bestehen blieben.

Abb. 1
figure 1

Mindestanforderungen nach Fahrausweiskategorien gemäß dem Schweizer Bundegesetz über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (MFV) aus dem Jahr 1932

Der Auftrag der VM wird hier erstmals klar umrissen: Das MFV schrieb eine erstmalig eine umfassende „ärztliche Prüfung“ der physisch-medizinischen „Minimalanforderungen an Bewerber um einen Führerausweis oder Fahrlehrerausweis“ vor. Neben Anforderungen an die Größe, die Funktion bzw. Beweglichkeit der Gliedmaßen und der Wirbelsäule wurden u. a. Personen mit neurologischen und psychischen Erkrankungen, einschließlich Alkohol- und Suchterkrankungen, Diabetes, chronischen Herz- und Gefäß- und Lungenerkrankungen sowie mit Funktionsstörungen der großen Körperdrüsen ausgeschlossen. Zur Sehkraft wurden für jede Kategorie spezifische Anforderungen, einschließlich der Verpflichtung zum Tragen von Brillen, gestellt. Neben diesen umfassenden Ausschlusskriterien wurde bemerkenswerterweise die Wiederholung der Überprüfungen dieser Minimalanforderungen festgelegt: turnusmäßig ab einem festgelegten Alter (z. B. Kategorie I: 45 Jahre), turnusmäßig ohne Alter oder auf Anweisung des Arztes.

Wenngleich das Bundesgesetz die Anforderungen schweizweit festlegte, blieb doch die Bestimmung der Ausführung dieser Untersuchung den Kantonen überlassen. Zudem waren Gesetzgebung und assoziierte Verordnungen in der Umsetzung den zeitgenössischen und weltgeschichtlichen Gegebenheiten unterlegen: So zog die wirtschaftliche Krise Anfang der 1930er-Jahre z. T. konflikthafte kantonale Auslegungen der Gesetze mit erfolglosen Harmonisierungsversuchen seitens des Bundes (Anleitung des Bundes für Vertrauensärzte, 1938Footnote 1) nach sich. Nachfolgend hatte der Zweite Weltkrieg mit der einhergehenden Abnahme der Fahrzeugdichte [9] Einschränkungen bzw. Lockerungen sowie Verwässerungen in der Umsetzung der Bundesgesetze zur Folge. Ab 1944 wurde die Anleitung des Bundes für Vertrauensärzte dahingehend verändert, dass zur Verminderung der Kosten eine Vereinfachung bzw. sogar ein Verzicht auf Wiederholungsuntersuchungen in höheren Fahrausweiskategorien angeordnet wurde.Footnote 2

Die nach dem Zweiten Weltkrieg rasch einsetzende Explosion des Verkehrs (Abb. 2; [9]) resultierte allerdings nicht direkt in einer erneuten Straffung der Praxis. Im Gegenteil wurde bis mindestens 1968 auf eine obligatorische verkehrsmedizinische Untersuchung (VMU) von Bewerbern vollständig verzichtet (Schneebeli, persönl. Kommunikation, 2020).

Abb. 2
figure 2

Anzahl und personenbezogene Dichte von Personenwagen in der Schweiz 1902–2005. (Historisches Lexikon der Schweiz [9])

Einhergehend mit dem rasanten Anstieg an Verkehrstoten bis Anfang der 1970er-Jahre trat ein gesellschaftlich/technischer Wandel ein: Die Fahrzeugentwicklung legte zunehmend Fokus auf Fahrzeugsicherheit, und die Anschnallpflicht wurde nach langer Diskussion und mehrfachen Rückschritten schrittweise Realität [10]. Nicht zuletzt wurde auf der Basis erster groß angelegter systematischer Untersuchungen von Unfallhäufigkeiten durch Borkenstein ([11, 12], Grand Rapids Study), Allsop [13] und nachfolgend Compton [14] auch der gesellschaftlich bis dahin weitverbreitete Alkoholkonsum fahrzeugführender Personen eingeschränkt. In Deutschland erfolgte die schrittweise Veränderung von Promillegrenzen und dazugehörigem Strafmaß ab den 1950er-Jahren (1953: 1,5 ‰, nur Ordnungswidrigkeit; 1966: 1,0 ‰, 1973: 0,8 ‰; [7]; erste dokumentierte Strafe [beachte: kein Entzug der Fahrerlaubnis] für Fahren unter Alkoholeinfluss [15]).

Der verkehrsmedizinische Auftrag wurde etwas verzögert angepasst und verschärft. Mit der Revision der Schweizer VZV im Jahr 1976 wurde die VMU für Bewerber der höheren Kategorien erneut obligatorisch. Ebenso wurde eine Seniorenuntersuchung für alle Kategorien ab 70 Jahren eingeführt, die bis zu einer Anhebung des Alters auf 75 Jahre für Pkw-Lenker im Jahr 2019 Bestand hatte. Die Durchführung der VMU wurde allerdings weiterhin kantonal geregelt.

Parallel rückten medizinische Einschränkungen der Fahrfähigkeit und Fahreignung nach Erhalt der Fahrerlaubnis in den Vordergrund. So führten der zunehmende Genuss- und Suchtmittelgebrauch im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre zu einer deutlichen Erweiterung des Auftrags der VM in Richtung Suchtmittel- bzw. Abstinenzkontrolle (AK).

Unter dem wachsenden „Zivilisationsdruck“ und allen damit einhergehenden gesundheitlichen Belastungen bedarf die dauerhaft und zunehmend anspruchsvolle Aufgabe „Autofahren“ ausreichender physischer, psychologischer und kognitiver Leistungsreserven [16], um ein Fahrzeug sicher lenken zu können. Diese Erkenntnis schlug sich Anfang der 1980er-Jahre im Standardwerk Der Kranke als Fahrzeuglenker [1] nieder. Vorgängig, aber insbesondere im Nachgang fokussierte sich die VM auf die detaillierte Ausarbeitung sowie Ergänzung von Leit- und Richtlinien, indem sie die Informationen aus allen relevanten medizinischen Fachrichtungen zusammentrug. Das so entstandene Querschnittsfach VM konsolidierte sich also zunehmend, blieb aber weitestgehend passiv in der Erarbeitung eigener und spezifischer Ansätze, die die besonders herausfordernde Situation „Autofahren“ untersuchte. Zudem blieb die Ausführung der VMU in kantonaler Regie, bis schließlich mit der Revision der VZV 2016 die schweizweite Einführung eines Stufensystems die Grundlage für eine Professionalisierung bzw. Harmonisierung der Prozesse legte.

Insbesondere der Aspekt der Harmonisierung trägt der bis dato recht umfassenden und für den Exploranden oft schwer verständlichen und als „Gängelung“ empfundenen Praxis einer umfassenden kursorischen VMU Rechnung. Dennoch: Nicht nur aufseiten des „Kunden“, sondern auch aufseiten der Jurisdiktion entstand über die Jahre ein zunehmender Wunsch nach besser nachvollziehbaren und auf wissenschaftlicher Grundlage besser belegbaren Entscheidungen.

Bisherige Limitationen der verkehrsmedizinischen Forschung

Der oben genannten Forderung steht eine vergleichsweise geringe Zahl dedizierter VMU gegenüber. Dies mag einerseits in der Anlage der VM als Querschnittsfach begründet sein: Kriterien, die das Autofahren einschränken, wurden v. a. aus Studien in den eigentlichen Fachgebieten und in der Zusammenschau aller betrachteten Faktoren einer Einzelfallbetrachtung zugeführt. Andererseits ist die VM mit einem bisher vorwiegenden Dienstleistungscharakter kaum in der Lage, umfassende klinische Forschung zu realisieren. Schlussendlich sind die durchaus begründeten Ansprüche und Forderungen an systematische Untersuchungen und die Belastbarkeit der sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen – selbst bei Fokussierung auf ein selektiertes Thema – zunächst inhärent schwierig.

Während also bisher Teilinformationen und Surrogatsysteme zu erfahrungs- und konsensbasierter Beurteilung von Fahrfähigkeit und -eignung herangezogen wurden, zeichnet sich ein weiterer Paradigmenwechsel ab: Die getroffenen Beurteilungen müssen zunehmend wissenschaftlich belegt oder zumindest plausibilisiert werden. Bisher angenommene oder erfahrungsbasierte „Fakten“ bedürfen bei genauer Überprüfung der Datenlage ggf. einer erneuten klaren Plausibilisierung durch Studien zur Fahreignung [17, S. 155 ff.]. Selbst bei solch klassischen Fragestellungen wie dem Substanzabusus sind die Plausibilität und Übertragbarkeit der Schlussfolgerungen unter Einbezug von Variablen wie Wahrscheinlichkeit der Nutzung und Persönlichkeit zu prüfen. Auch juristisch ist nicht die Bewertung des „Idealen“, sondern nur des „Realen“ von Belang [17]. So ist bei vielen Suchtstoffen, deren Konsum angenommen „klar“ eine Fahrunfähigkeit nach sich zieht, nicht ausreichend bekannt, welche Effekte tatsächlich in Rausch‑, Abkling- und Erholungsphase, aber auch während „flashbacks“ etc. auf die Fahreignung vorliegen und welchen Bezug sie zu einem Unfallrisiko haben [17]. Die einfache Lösung ist die Nulltoleranz. Aber wie bewertet man in realiter z. B. die Schmerztherapie Morphin oder die medizinisch indizierte Gabe von Cannabis, wie sie in Deutschland praktiziert wird?

Während in vielen dieser Fragekomplexe aufwendige und langwierige klinische (Längsschnitt‑)Studien wünschenswert und notwendig wären, sind Anspruch und Realität von verkehrsmedizinischer Forschung oft nur schwer in Einklang zu bringen, da die vorhandenen Ansätze bisher limitiert oder limitierend waren. Die retrospektive Untersuchung von Fallzahlen oder die epidemiologische Validierung von Unfallrisiken kann nicht aktiv und systematisch gesteuert werden. Die Verwendung von Surrogatsystemen (psychomotorische Vigilanztests, Fragebogen etc.) sowie Fahrversuche im Realverkehr können entweder aufgrund ihrer Repräsentanz oder ihrer Nichtreproduzierbarkeit kritisiert werden. Der Ansatz der FS bietet mit Hinsicht auf die Ansprüche an Studien den herausragenden Vorteil, reproduzierbare Szenarien in sicherer Umgebung durchführen zu können.

Fahrsimulation – Technik, digitale Inhalte und Aspekte des Studiendesigns

Grundsätzlich zielt FS auf – für die Fragestellung ausreichend – wirklichkeitsgetreue Testsituationen für klinischen Studien ab. Dabei sind die schlussendlichen technischen Einrichtungen ebenso divers wie die Zielrichtung und damit das Studiendesign [18]. Unter dem Begriff „Fahrsimulation“ treten auf der reduziertesten Ebene neben konsolenbasierten Rennspielen mit Lenkrädern und Pedalen mit „force feedback“ (haptische „cues“) auch maximal reduzierte Spurverfolgungsszenarien auf PC-Basis auf (Strichzeichnungen). Auf etwas höherer Ebene bieten unbewegte (Teil‑)Fahrzeuge („mock-ups“) in Kombination mit bildschirm- oder projektionsbasierten Inhalten eine dem realen Auto angenäherte Fahr- und Umgebungssituation sowie ein verbessertes „Eintauchen“ („immersion“) in die digitalen Inhalte („visual cues“). Die teilweise oder vollständige Bewegung eines Mock-up oder einer Teilkarosserie zielt darauf ab, haptische und visuelle Eindrücke mit physischen Reizen zu verbinden, die dem Fahrer zusätzlich den Eindruck von Bewegung und Beschleunigung vermitteln („motion cues“). Ansätze einer solchen Dynamik können im kleinen Maßstab durch Stempel unter dem Fahrzeugchassis erreicht werden, während eine nahezu reale Dynamikempfindung nur mit immensem technischen und räumlichen Aufwand erreicht werden kann: so können z.B. durch die Platzierung eines Fahrzeuges samt Projektionseinrichtung auf einer Stewart-Platform (auch Hexapod genannt) translationale motion cues in die Raumrichtungen x, y, z (vor/zurück, rechts/links, hoch/runter), aber auch Drehbewegungen um die x-, y- und z-Achse vermittelt werden (rollen, nicken und gieren). Zur Vermittlung der Empfindung in langgezogenen Kurven oder bei längerer Be- oder Entschleunigung kann die Stirling-Platform in toto noch über lange (realisiert bis zu 120 m) Wegstrecken in x- und y-Richtung bewegt werden.

Geräte der letzten „Klasse“ sind nahezu ausschließlich in der Automobilindustrie zur simulationsbasierten Entwicklung im Einsatz (z. B. Toyota), und es stehen nur wenige dedizierte Forschungsgeräte dieser Immersionsstufe zur Verfügung (z. B. NHTSA). Auch hier liegt der Schwerpunkt der Forschung nach wie vor auf technischen Weiterentwicklungen statt auf medizinisch und verkehrsmedizinisch relevanten Forschungsprojekten, was nicht zuletzt damit zusammenhängen mag, dass der administrative und finanzielle Aufwand für klinische Studien oft in einem schlechten Verhältnis zu den resultierenden Publikationen (Zahl, Impact) steht.

Nahezu alle Fahrsimulatoren sind adaptierte Einzelanfertigungen. Größe und Immersion sind nicht notwendigerweise entscheidend für die Fähigkeit oder den Versuch, Fragestellungen adäquat beantworten zu können. Vielmehr sind für die Fragestellung ausgewählte digitale Inhalte in (validierten oder zu validierenden) Szenarien und ein adäquates Design einer klinischen Studie mit festgelegten primären und sekundären Messparametern („outcome“) vonnöten. Über die rein „technische“ Ebene hinaus sind im Studiendesign und in der Durchführung auch „weiche“ Faktoren, wie Umgebung, Stimmung, die Einstellung und die Erwartung der Probanden von nichtunerheblicher Bedeutung („setting, set“ [17; S. 155 ff.]).

Mit dieser Aussicht, über FS operationale, kognitive und taktische Fahrleistungsparameter in realitätsnaher, standardisierter, reproduzierbarer und v. a. sicherer Form im Rahmen von klinischen Studien zu erheben, sollten „moderne“ Studien dieser Art nach Möglichkeit zumindest folgende, stichpunktartig ausgeführte Kriterien erfüllen [18, 19]:

  • Die verwendeten Kombinationen von (validierten) Szenarien und Outcome-Parametern sollten repräsentativ für den Verkehr und sensitiv für die jeweilige Fragestellung sein.

  • Studienteilnehmer sollten an den Fahrsimulator „gewöhnt“ sein („familiarization“, vermeidet „simulation sickness“ und Verzerrung durch Lerneffekte).

  • Das Studienpersonal sollte zudem erfahren in der Bewertung und Gewichtung der erhobenen Parameter sein („intra-rater“ und „inter-rater reliability“).

  • Nicht zuletzt sollten idealerweise doppelblinde „Cross-over“-Studiendesigns mit Verum oder Placebo durchgeführt werden.

Mit der sprunghaften Weiterentwicklung von Rechnerkapazitäten und auf der Basis hervorragender Grundlagenarbeit stieg die grundsätzliche Verfügbarkeit von Fahrsimulatoren für die Forschung.

Diskussion der Wertigkeit von Ergebnissen aus Fahrsimulationsstudien für die Praxis

Vor dem oben geschilderten Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Verwendung von und die Zahl von Publikationen mit Fahrsimulatoren stark anstieg. Insbesondere in dem mit der Verkehrsmedizin eng verflochtenen Bereich der Pharmakologie wurde versucht, mithilfe der FS den Einfluss einer Vielzahl von Substanzen auf die Fahrfähigkeit zu ermitteln. Neben Medikamenten mit sedierender Wirkung stehen hierbei v. a. Alkohol und Drogen im Vordergrund. Alkohol als im Verkehr sicher häufigste „Droge“ dient aufgrund seiner klar linearen Pharmakodynamik als gute Kalibrations- [19] und Vergleichssubstanz [20], u. a. um erweiterte Bewertungsschemata [19, 21] vorzustellen. Im Bereich der Drogen wurden Vorschläge für ein generalisiertes Protokoll zu FS-Studien erstellt [22]. Neben MDMA [23], GHB [24], Methamphetaminen, [25], psychotropen Substanzen [26] und Kava [27] wurde der Einfluss der Drogenersatzstoffe Methadon und Buprenorphin im Zusammenhang mit Alkohol [28] untersucht. Letztere unterliegen in der verkehrsmedizinischen Praxis in Hinsicht auf Dosis und Compliance einer regelmäßigen Kontrolle, sodass sich systematische (Längsschnitt‑)Studien zu Fahrleistungen unter z. B. Methadonsubstitution anböten. Auch wenn einer direkten (zeitlichen) Koppelung von VMU und Experiment durch Ethik, Daten- und Patientenschutz enge Grenzen gesetzt sind, böte eine enge räumliche Nähe von VMU und FS Vorteile für begleitende (Längsschnitt‑)Studien.

Eng an die VMU angelehnte, FS-basierte Dosis-Wirkung-Studien zu anderen häufig bzw. regelmäßig kontrollierten Substanzen, wie Cannabinoiden [29,30,31,32,33], ADHS-Medikamenten [20, 34,35,36,37,38,39,40,41,42] oder auch Antidepressiva [43], bieten ebenfalls die Möglichkeit, einerseits klarer nachvollziehbare Angaben zur Fahrfähigkeit zu machen. Andererseits könnte aber auch das postulierte therapeutische Potenzial von z. B. Cannabinoiden (teils zugelassen wie Sativex, Dronabinol, Epidiolex, teils Tinkturen in Selbstmedikation) mit einer datenbasierten Risikoabschätzung aus FS-Versuchen hinterlegt werden, um bisher unklare Gesetzgebung zu verändern oder zu ergänzen. Darüber hinaus kann die Entwicklung oder Verfeinerung von nichtinvasiven Testverfahren für z. B. Cannabis – ähnlich dem SFST oder VERIFY (Verfahren zur Identifikation von Fahrunfähigkeit der Kantonspolizei Zürich, Schweiz; [44]) – an systematische Dosis-Wirkung-Studien von Cannabinoiden in FS angelehnt werden.

Auch Bereiche, in denen eine verkehrsmedizinische Beurteilung in der gesamthaften Einordnung der Fahrfähigkeit und -eignung erhebliche Erfahrung und bisher fachübergreifende Konsensrichtlinien benötigt, wurden teilweise mithilfe der FS untersucht. Hier sind beispielhaft Studien aus den Bereichen Ophthalmologie [45,46,47,48], Neurologie (multiple Sklerose [49, 50], M. Parkinson [51], Huntington-Chorea [52, 53], „mild cognitive impairment“ und M. Alzheimer [54,55,56]) sowie der Psychiatrie (Depression [57, 58] und Demenz [56]) zu nennen. Bei vielen dieser Themen ist die Altersproblematik hinterlegt. Bisher besteht aufgrund der Komplexität und Heterogenität dieser Erkrankungen, aber auch sicher aufgrund der geringen Zahl von vergleichenden Studien noch kein Konsens über die Wertigkeit von FS-Studien für die Praxis.

Selbst in Bereichen mit scheinbar vielen FS-Studien herrscht nicht notwendig Einigkeit oder Klarheit über deren schlussendliche Verwertbarkeit für die Praxis. Dies lässt sich in seiner Komplexität anschaulich mit einer Auswahl von Studien zum Themenbereich „Schlaf“ darstellen: Trotz deutlich unterschiedlicher FS und unterschiedlicher Studienansätze ergibt sich zunächst ein konsistenter Eindruck: Eine induzierte [59], allerdings auch berufs- oder OSAS-bedingte [60, 61] exzessive (Tages‑)Schläfrigkeit wirkt sich nachweislich auf die Fahrleistung in FS aus. Beeinträchtigungen im EEG von OSAS-Patienten sind ein Prädiktor für die Fahrleistung in FS [62, 63]. Der positive Einfluss von z. B. Armodafinil auf die FS-Fahrleistung von Schichtarbeitern mit durch „shift workers disease“ (SWD) bedingter Schläfrigkeit konnte nachgewiesen werden, während die (z. T. lang anhaltenden [64]) negativen Auswirkungen von Zopiclon mehrfach als Positivkontrolle in Studien mit FS [65] und Kombination FS/„on road testing“ (ORT; [66]) eingesetzt wurden. Die Fahrleistung in einer FS kann nach Schreier et al. [67] allerdings nicht als Vorhersageparameter für reale Unfälle im Generellen oder im Individuellen dienen, obwohl in den betrachteten Studien eine moderate Korrelation zwischen Leistungen in FS und realen Testfahrten (ORT) besteht. Hier sei sehr wahrscheinlich nicht die Schwere der Schläfrigkeit, sondern die gefühlte Schläfrigkeit entscheidender. Der letztgenannte, hervorragende Review subsumiert beispielhaft die Problematik, einen allumfassenden Anspruch an FS-Studien und ihre Wertigkeit in der Praxis zu erfüllen, nämlich die eigentlichen Studienergebnisse mit epidemiologischen Daten zu realen Unfällen zu plausibilisieren, also mit Unfallwahrscheinlichkeiten der Kohorte oder des Individuums, wie von Madea gefordert [17]. Diese Problematik verschärft sich noch dadurch, dass bei stark gesunkenen Unfall‑/Todesfallzahlen und nahezu vollständig veränderter Sicherheitstechnik der Fahrzeuge im Vergleich zum Anfang der 1980er-Jahre epidemiologische Effekte nur schwer nachzuweisen sind. Hier mag der naive Ansatz, in FS unendliche viele „Unfälle“ ohne Gefahr oder Schaden einzugehen, vorteilhaft sein.

Resümee und offene Fragen

Fahrsimulation ist grundsätzlich ein Tool, das für systematische und dediziert verkehrsmedizinische Studien zugänglich ist. Fahrsimulation kann so dem Ziel dienen, die Entscheidungen in der verkehrsmedizinischen Begutachtungspraxis zu plausibilisieren sowie transparent und evidenzbasiert zu vermitteln.

Allerspätestens mit dem Tod von Elaine Herzberg, die 2018von einem vollautomatisierten Fahrzeug erfasst worden war [68], stellt sich die Frage, inwieweit sich der Auftrag – und damit die zukünftige Forschung – der VM in dieser Hinsicht weiter verändert: Muss alles im „neu justierten“ System von Mensch und Maschine erneut getestet werden [69]? Ist der Fahrer eines modernen, mit vielen Assistenzsystemen ausgestatteten Fahrzeugs nicht heute schon oftmals kognitiv überlastet? „Verlernt“ die Gesellschaft das Fahren mit zunehmender Automatisierung? Wie viele Anforderungen stellt man an den „klassischen“ Fahrer im mit „automatisierten“ Fahrern (?) gemischten Verkehr? Ist das „Privileg des gesunden Fahrers“, wie von Hartmann postuliert [1], nicht ohnehin inzwischen einem „Privileg des kompetenten Fahrers“ gewichen, oder – wenn noch nicht – wird sich diese Tendenz verstärken? Und wie wird die VM sich dieser Aufgabe stellen?

Fazit für die Praxis

  • Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich sagen: Die Verkehrsmedizin kann in einer Vielzahl von Aspekten vom Potenzial der fahrsimulationsbasierten Forschung profitieren. Sie sollte hierbei den Menschen und seine medizinisch definierte Leistungsfähigkeit im Zentrum des Blickes und ihrer Forschung halten.

  • Vor dem übernächsten Schritt sollte die Verkehrsmedizin ihre gewachsenen Erkenntnisse auf eine vermehrt evidenzbasierte Grundlage stellen und auf dieser Basis einen Beitrag zur gesteigerten Akzeptanz ihrer Arbeit leisten.

  • Fahrsimulationsbasierte verkehrsmedizinische Forschung mit klinischen Studien hat das Potenzial, ein zunehmend integratives Teilgebiet der Rechtsmedizin zu werden.