Einleitung

Das Kerngeschehen

Am 13.06.1984 kommt der Vater mit seiner 3 Jahre alten MM gegen 17 Uhr vom Kindergarten nach Hause. Nach der Heimkehr wollte MM, wie so oft, zum Nachbarsjungen gehen, um mit diesem zu spielen, und wird vom Vater hingebracht. Von diesem Augenblick an wird MM nicht mehr lebend gesehen.

Tatortabsuche und Ermittlungen

Als MM nicht, wie üblich, gegen 18 Uhr zurückkehrte, befragten die Kindseltern die Mutter des Nachbarjungen nach dem Verbleib ihrer Tochter. Sie ging zu dieser Zeit mit ihrem Säugling im Kinderwagen und dem Jungen spazieren. Auf Vorhalte nach dem Verbleib ihrer Tochter gab sie an, dass MM nach einem Streit fortgelaufen sei. Der ebenfalls 3‑jährige Junge wird später von einem Kinderpsychologen hierzu befragt. Seinen wechselnden Angaben über den Verbleib von MM konnte jedoch kein Glauben geschenkt werden. Nach ergebnisloser Fortsetzung der Suche in der Nachbarschaft und Umgebung verständigte der Vater gegen 19.30 Uhr Polizei und Feuerwehr, die gegen 20 Uhr eintrafen. Kindeseltern, 70 Feuerwehrbeamte, Beamte der Mordkommission und Rechtsmediziner durchsuchen jeden Winkel im Hause und in der Umgebung; MM bleibt aber weiterhin verschwunden.

Wiederauffinden

Am 11.07.1984 wird der eindeutig an Kleidung und Hautleisten sowie Zahnvergleich identifizierte, in einem Bachlauf treibende, hochgradig faule Leichnam von MM aufgefunden.

Ergebnisse

Obduktionsergebnisse

Bei der Obduktion des 108 cm langen Leichnams befand sich dieser im Zustand hochgradiger Fäulnis mit ausgedehnter Madenbesiedelung und ausgeprägter Waschhautbildung (Liegezeitschätzung im Wasser = Leichenliegezeit). Es fiel eine stark eingekotete Unterhose auf. Bei der inneren Besichtigung findet sich über der rechten Schläfen-Scheitel-Region eine 3 × 1 cm messende Bluteinlagerung in der Kopfschwarte.

Zitat aus dem Leichenöffnungsprotokoll: „Direkt darunter erkennt man eine 4 × 4 cm messende Impressionsfraktur des rechten Schläfenbeins. Von deren oberer Begrenzung geht eine 8 cm lange halbkreisförmige Frakturlinie scheitelwärts. Am unteren Rand verläuft eine 11 cm lange Frakturlinie genau in der Naht zwischen Schläfen- und Scheitelbein, die sich spreizen lässt (Abb. 1).“ Symmetrisch hierzu auf der Gegenseite des Schädeldaches eine 10 cm lange, bogenförmige Bruchlinie in der Naht des linken Schläfenbeins, das sich als Knochenschuppe abheben lässt. Im linken Schläfenmuskel eine flüssige, nichtabgrenzbare Bluteinlagerung. Bluteinlagerung im linken Felsenbein. Fehlen von epi- oder subduralen Blutungen.

Abb. 1
figure 1

Rechte Schläfenseite vergrößert, mit Maßstab

Zusatzuntersuchungen

Diatomeennachweis: negativ. Toxikologische Untersuchungen: negativ. Untersuchungen der Scheidenabstriche auf Sperma: negativ. Feingewebliche Untersuchungen: Speisebrei in den Bronchien. Untersuchung des Mageninhalts: gering angedaute Fleischbestandteile, Tomatenschalen, Reiskörner und Apfelschalen entsprechend der Mittagsmahlzeit gegen 13 Uhr.

Zusammenfassung der Diagnose

Geformtes Schädel-Hirn-Trauma über der rechten Schläfenseite und ein weiteres Trauma mit bilateralen Biegungsbrüchen der Schläfenknochen. Der Tod ist in einem höchstens stundenlangen Zeitraum nach der letzten Mahlzeit eingetreten (ca. gegen 18 Uhr). Speisebreiaspiration und Kotabgang könnten für einen Tod durch Ersticken sprechen. Eine sichere Todesursache konnte jedoch wegen der fortgeschrittenen Fäulnis nicht angegeben werden. Für die weitere Untersuchung zur möglichen späteren Identifizierung eines Tatwerkzeugs wurde die Asservierung und Mazeration des gesamten Schädels empfohlen. Der Schädel wurde schließlich durch Beschluss des LG Bonn endgültig asserviert.

Differenzialdiagnose der Brüche

Als Ursachen kamen in Betracht: a) Stürze, b) Schläge mit einem geformten Werkzeug, c) Verkehrsunfall. Ein Sturzgeschehen konnte aufgrund der Anzahl der Kopfverletzungen und der geformten Verletzungen ausgeschlossen werden. Für einen Verkehrsunfall ergab sich kein Anhalt. Es wurde geschlussfolgert, dass bei nur geringer Impression und Einblutung die anzunehmenden Schlageinwirkungen allenfalls eine Bewusstlosigkeit, aber nicht den Tod zur Folge gehabt hätten.

Der Anwalt der Eltern von MM beantragte bei der Staatsanwaltschaft die Einholung von Zweitgutachten zu Todeszeitpunkt, Todesursache und Notwendigkeit der Schädelasservierung.

Diskussion des Falles MM

Zweitgutachten

Die Professoren St/Oe erstatteten an der Leiche zwei ausführliche Zweitgutachten. Die kreisförmige Gestalt der Fraktur im rechten Schläfenbein spreche für die Einwirkung einer geformten Gewalt. Sie zitierten einen Fall von Werkgartner [12], bei dem eine 12 cm im Durchmesser messende Eisenkugel eine Fraktur im Durchmesser von 4 cm am Schädel verursacht hatte. Da nur der hintere Anteil der Fraktur im rechten Schläfenbein bei MM leicht imprimiert war, könne bei der Dünne des Schädeldaches eine nur geringe lokale Gewalt einen derartigen Bruch erzeugt haben. Das Fehlen jeglicher oberflächlicher Verletzungen spreche für eine unmittelbar präfinale oder postmortale Verursachung. Die Frage, ob möglicherweise eine Strangulation als Todesursache in Betracht käme, habe sich aufgrund der Fäulnis weder bei der Obduktion noch durch die histologischen Untersuchungen klären lassen. Der Aspirationsvorgang könnte darauf hindeuten. Die Einkotung könnte auch andere Ursachen wie Intoxikation oder Schädel-Hirn-Trauma, aber auch psychische Gründe wie Angst haben.

Auch Prof. Tr-Be ging in den Gutachten zur Entstehung der Impressionsfraktur von einer geformten Einwirkung eines kreisrunden Gegenstandes aus, die jedoch einen tödlichen Geschehensablauf nicht erklären könnte. Aufgrund eigener Befundung des Mageninhalts ging Prof. Tr-Be von einem Tod 4 bis 6 h nach der letzten Mahlzeit aus.

Asservierung des Schädels nach § 87 StPO

Zum Zeitpunkt der Obduktion waren Todesursache, Tathergang und Motiv in diesem Tötungsdelikt völlig unklar. Der Obduzent hatte ad hoc zu entscheiden, welche möglichen späteren Beweismittel asserviert werden mussten.

In die Abwägung eingehen mussten die oft erst durch Obduktion nachweisbaren Tötungsdelikte an Kindern [8] im staatlichen Auftrag (§ 87 StPO) gegen das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit (Art 2, Abs 2 GG) und das Elternrecht (die nicht selten in solchen Fällen selbst als Täter in Betracht kommen) (Art 6 Abs. 1 GG).

Alle befragten Professoren der Rechtsmedizin bejahten das Erfordernis der Asservierung des Schädels.

Heifer und Pluisch befassten sich im Jahre 1991 ausführlich mit der konsentierten und auch der nichtkonsentierten Entnahme von Leichenorganen im Rahmen der klinischen Sektion [2]. Für die klinische Sektion galt nach dem Urteil des 9. Zivilsenates des BGH vom 31.05.1990, IX ZR 157/89 – OLG Koblenz, LG Mainz, (unveröff.), dass die auch ohne Einwilligung bzw. gegen den Willen des Verstorbenen oder der Angehörigen durchgeführte Sektion tatbestandslos ist. Damit sollte ein angemessener Ausgleich zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen und dem Totensorgerecht der Angehörigen geschaffen und dem der Allgemeinheit verpflichteten Interesse der medizinischen Wissenschaft der Vorrang eingeräumt werden.

Geerds [5] hat sich im Jahre 1997 in einem „rechtsmedizinischen Seminar“ in Mainz ausführlich mit rechtlichen und tatsächlichen Problemen von Leichenschau und Leichenöffnung nach § 87 StPO befasst. Im Gegensatz zur klinischen Sektion (s. oben) ist in § 87, 3, 4 StPO lediglich bei einer Ausgrabung der Leiche vorgeschrieben, dass „zugleich die Benachrichtigung eines Angehörigen des Toten anzuordnen (ist), wenn der Angehörige ohne Schwierigkeiten ermittelt werden kann und der Untersuchungszweck durch die Benachrichtigung nicht gefährdet wird“.

Ethische Aspekte rechtsmedizinischer Obduktionstätigkeit

Wenige Jahre nach dem Fall MM motivierten Fälle dieser Art als schwere Eingriffe in die nach § 87 StPO schwachen Elternrechte Schweizer Rechtsmediziner zur Entwicklung der sog. Virtopsy mit bildgebenden Verfahren, mit dem Ziel, auf eine Leichenöffnung (und Knochen- und Gewebsasservierung) gänzlich zu verzichten und damit die Gefühle der Angehörigen in ihrer Trauer nicht weiterzuverletzen [1, 11].

In den 1980er-Jahren entwickelte Saternus am Beispiel des plötzlichen Kindstods das Konzept längerfristiger Elternbegleitung mit psychologischer Betreuung [9, 10] durch den Rechtsmediziner. Im Jahr 2007 wurde schließlich das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) gegründet, mit dem Auftrag, im Kinderschutz bedarfsgerechte frühe Hilfen zu bieten und Wissenschaft und kommunale Ebene als lernendes Dienstleistungssystem zu Fehleroffenheit, fachlicher Fehleranalyse und Qualitätssicherung und zu einer Kultur der Feinfühligkeit zu führen [7, 14]. Auch heute kommt es gelegentlich noch zu Auseinandersetzungen zwischen Rechtsmedizinern, wie weit die Betreuung von Angehörigen durch Rechtsmediziner gehen soll [7, 8].

Das Bundesverfassungsgericht hat eine umfangreiche Rechtsprechung zur Frage der Verhältnismäßigkeit von Behördenhandeln [3] entwickelt und ein Übermaßverbot als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips [13] im Rahmen der Angemessenheitsprüfung erkannt, demgemäß Maßnahmen der öffentlichen Gewalt (hier: Absetzen des Kopfes von MM zur späteren Identifizierung eines möglichen Tatwerkzeugs) angemessen sein müssen [4]. Sie müssen heute mit dem Persönlichkeitsrecht des verstorbenen Kindes aus Art 1(1), Art 2(2) GG im Wege der praktischen Konkordanz [6] abgewogen werden. Eine Überprüfung von § 87 StPO im Hinblick auf die Beteiligung von Angehörigen an der Beschlagnahmeentscheidung durch Gerichte und Staatsanwaltschaften aus heutiger Sicht ist bislang nicht erfolgt. Im Falle MM handelte es sich um eine besonders belastende Eilentscheidung, bei der Gefahr im Verzuge im Vordergrund stand. Jede nur denkbare Maßnahme, die zur Aufklärung dieses mit höchster krimineller Energie ausgeführten Verbrechens beitragen konnte, musste getroffen werden. Auch bei Prüfung der ethischen Voraussetzungen muss das dringende Strafverfolgungsinteresse gegen die Erhaltung der Integrität des kindlichen Leichnams abgewogen werden. Heute wäre diese Abwägung zugunsten der Unversehrtheit des Leichnams durch den Einsatz weniger eingreifender Mittel der Dokumentation wie 3D-Fotografie und CT zwingend vorzunehmen.

Fazit für die Praxis

  • Ohne Tätereinlassung/Geständnis erfolgte keine Aufklärung der Todesumstände an der hochgradig faulen Leiche MM.

  • Heute wäre die Asservierung des Schädels durch Einsatz moderner bildgebender Verfahren entbehrlich.

  • Aus heutiger Sicht wäre eine Beteiligung der Eltern an Entscheidungen nach § 87 StPO zu fordern.

  • Die Arbeit des Rechtsmediziners steht in diesen Fällen in besonderem Maße im Lichte der Öffentlichkeit.

  • Wenn die/der Täter sich nicht irgendwann gegenseitig beschuldigen und sich daraus ein Mordkriterium ergäbe, nach dem das Verfahren wegen Nichtverjährung wieder aufgenommen würde, wird der Fall MM nie aufgeklärt werden.