Rupturen des vorderen Kreuzbands (VKB) gehen häufig mit Verletzungen des anterolateralen Komplexes einher. Dies betrifft die Kapsel mitsamt des anterolateralen Ligaments (C/ALL) in 51–76 % der Fälle, die Kaplan-Fasern (KF) in 19–85 % und die posteriore Wurzel des lateralen Meniskus (LMPR) in 30–40 % [1,2,3,4,5]. Diese Begleitverletzungen sind mit einem höheren Grad an anterolateraler Knieinstabilität und dem Pivot-Shift-Phänomen verbunden [6,7,8,9]. Verletzungen der KF, des femoralen Ansatzes der kapselknöchernen Schicht des iliotibialen Bands (ITB), des C/ALL und des LMPR wurden jeweils mit einer erhöhten anterolateralen Knieinstabilität in Verbindung gebracht, sowohl klinisch als auch in vitro [10,11,12,13].

Eine persistierende anterolaterale Rotationsinstabilität des Knies (ALRI) steht in Zusammenhang mit schlechteren klinischen Ergebnissen und vermindertem Return-to-Sport [14, 15]. Daher hat sich das Behandlungsparadigma bei VKB-Verletzungen dahingehend geändert, dass nicht nur das vordere Kreuzband selbst behandelt wird, sondern auch periphere Kapsel- und Meniskusverletzungen sorgfältiger gesucht und operiert werden. Biomechanische Studien zeigen, dass anterolaterale Verfahren bei kombinierten Verletzungen zu einer besseren Wiederherstellung der Kniekinematik beitragen können als eine isolierte VKB-Rekonstruktion [16, 17]. Klinisch spiegelt sich dies in einer geringeren Revisionsrate und weniger sekundären Meniskusläsionen wider [18, 19]. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Beiträge der einzelnen Strukturen zur Kniestabilität zu ermitteln (d. h. wie stark jede Struktur die tibiofemorale Subluxation einschränkt) und ihren Einfluss auf die Knieinstabilität zu quantifizieren (d. h. wie stark die Laxität des tibiofemoralen Gelenks nach einer Verletzung über die intakten Werte hinaus zunimmt).

Die Ziele dieser Studie waren daher die Quantifizierung der relativen Beiträge von VKB, C/ALL, KF und LMPR zur translatorischen und rotatorischen Stabilität des Knies und Messung der Zunahme der translatorischen und rotatorischen Knieinstabilität nach Durchtrennung von VKB, C/ALL, KF und LMPR.

Die Hypothesen waren, dass das VKB die anteriore tibiale Translation (ATT) am stärksten einschränkt, während die KF die Innenrotation (IR) am stärksten hemmen. Des Weiteren sollte es zu einem signifikanten Anstieg der ATT nach Durchtrennung des VKB kommen und die IR sowie der simulierte Pivot-Shift (SPS) nach Durchtrennung der KF am meisten steigen.

Material und Methoden

Insgesamt wurden 20 humane Kadaverknie mit einem durchschnittlichen Alter von 57 Jahren (47–65 Jahre) für diese Studie verwendet. Zehn Knie wurden zur Untersuchung der Bedeutung der einzelnen Strukturen für die Kniegelenkstabilität herangezogen und in einem Roboter-Setup getestet. Der passive Weg eines jeden Knies wurde zwischen 0° und 90° Flexion identifiziert, um den geringsten Widerstand der Bewegung festzulegen. Aus dieser Position wurden anschließend 88 N anteroposteriore Translation, 5 Nm Innen- und Außenrotation sowie 8 Nm Valgus-Varus-Rotation aufgebracht und die entsprechende Knielaxität in 0°, 30°, 60° und 90° Flexion aufgezeichnet. Die Knielaxität des intakten Knies diente als Ausgangswerte für die Messungen nach Durchtrennung der einzelnen Strukturen. Die zu testenden Kniestrukturen (VKB, KF, C/ALL und LMPR) wurden in variabler Reihenfolge durchtrennt und die Reduktion der hemmenden Kräfte dokumentiert. Die Verringerung der Kräfte entsprach der Bedeutung der zuvor durchtrennten Struktur.

Der simulierte Pivot-Shift bestand aus einer Kombination von 5 Nm IR und 8 Nm Valgusrotation

Die Kniekinematik wurden an 10 weiteren Knien an einem 6‑DOF-Testapparat zwischen 0° und 110° Flexion getestet. Um die Kinematik zu messen, wurden hierfür auch die gleichen Kräfte und Momente wie im Roboter-Testsetup auf die freihängende Tibia aufgebracht. Der simulierte Pivot-Shift (SPS) bestand aus einer Kombination von 5 Nm IR und 8 Nm Valgusrotation. Die anteriore tibiale Translation und tibiale Innenrotation wurde durch optisches Tracking (Polaris Kamera System, NDI) aufgenommen. One- and 2‑way ANOVA mit Bonferroni-Korrektur wurden verwendet, um eine Signifikanz (p < 0,05) für die Roboter- und Kinematiktests zu berechnen.

Ergebnisse

Anteriore tibiale Translation

Das VKB war die einzige Struktur, welche die ATT von 0° bis 90° Beugung signifikant zurückhielt (p < 0,001). Dies reichte von 94 % des gesamten Widerstands der untersuchten Strukturen bei 0° Beugung bis zu 88 % bei 90° Beugung. Keine der anderen Strukturen hemmte die ATT in signifikanter Weise; den größten Beitrag leisteten die KF, die bei 60° und 90° Beugung 7 % des Rückhalts lieferten (nicht signifikant).

Die Durchtrennung des VKB verursachte eine signifikante anteriore Translationsinstabilität über den gesamten Flexionsbereich (p < 0,001), bis zu 9 mm bei 20° Flexion. Die Durchtrennung einzelner lateraler Strukturen (KF, C/ALL oder LMPR) erhöhte die ATT nicht signifikant über die VKB-defiziente Instabilität hinaus, aber die kombinierte Durchtrennung aller dieser Strukturen erhöhte die ATT zwischen 70° und 100° Flexion um bis zu 4 mm (p < 0,05).

Tibiale Innenrotation

Die IR wurde hauptsächlich von den KF zurückgehalten und erreichte 44 % ± 23 % bei 90° Beugung, gefolgt von C/ALL mit 14 % ± 13 % bei 90°. Die KF waren bei 60° und 90° Kniebeugung signifikant widerstandsfähiger als die C/ALL (p < 0,05). Das VKB hemmte die IR bei 0° Kniebeugung, war aber bei höherer Beugung unbedeutend. Die LMPR war kein signifikanter Hemmfaktor für die IR in einem VKB-intakten Knie (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Beitrag des vorderen Kreuzbands (VKB), der Kaplan-Fasern (KF), der anterolateralen Kapsel einschließlich des anterioren lateralen Ligaments (C/ALL) und der hinteren Wurzel des lateralen Meniskus (LMPR) zum Widerstand gegen die Innenrotation bei Robotertests (Raute p < 0,05, * p < 0,01). (Mittelwert ± Standardabweichung, n = 10)

Die IR wurde bei keinem Beugewinkel durch die isolierte Durchtrennung des VKB signifikant erhöht. Die zusätzliche Durchtrennung der anterolateralen Strukturen führte im Vergleich zur isolierten VKB-Durchtrennung ab 70° Kniebeugung zu einer signifikanten IR-Instabilität. Das kombinierte defekte Knie (VKB + laterale Strukturen) hatte eine signifikant größere IR-Instabilität als das intakte Knie über 0° bis 100° Beugung (0° und 40–100°; p < 0,01; 10–30°, p < 0,05; Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Veränderungen der Innenrotation nach Durchtrennung des vorderen Kreuzbands (VKB) und dann auch der anterolateralen Strukturen als Reaktion auf ein Innenrotationsdrehmoment von 5 Nm in einem kinematischen 6‑DOF-Test. (Mittelwert ± Standardabweichung, n = 10; *p < 0,05 signifikanter Anstieg gegenüber dem Zustand nach VKB-Durchtrennung)

Simulierter Pivot-Shift

Anteriore Tibiatranslation.

Die Durchtrennung des VKB führte zu einer signifikanten anterioren Translationsinstabilität während der SPS-Belastung von 0° bis 50° Flexion. Die Durchtrennung der lateralen Strukturen führte zu einem zusätzlichen signifikanten Anstieg der ATT-Instabilität von 10° bis 100° Beugung (Abb. 3a; p < 0,001).

Abb. 3
figure 3

Veränderungen der anterioren tibialen Translation (a) und Innenrotation nach Durchtrennung des vorderen Kreuzbands (VKB) und der anterolateralen Strukturen (b) als Reaktion auf eine simulierte Pivot-Shift-Belastung (kombiniertes internes Drehmoment von 5 Nm und Valgusdrehmoment von 8 Nm) in einem 6‑DOF-Kinematik-Test. (* p < 0,01, Raute p < 0,05 im Vergleich zum intakten Zustand, ** p < 0,001 im Vergleich zum VKB-Insuffizienz-Zustand). (Mittelwert ± Standardabweichung, n = 10.)

Innenrotation.

Die Durchtrennung des VKB verursachte eine geringe IR-Instabilität (Mittelwert < 2°) während der SPS-Belastung von 0° bis 40° Flexion. Die Durchtrennung der lateralen Strukturen verursachte eine größere Zunahme der IR-Instabilität, die von 10° bis 100° Flexion signifikant war und im Durchschnitt 7° über 50° bis 100° Flexion betrug; bis zu 5° dieser Zunahme folgten auf die Durchtrennung der KF. Das kombinierte verletzte Knie (VKB und laterale Strukturen) wies bei allen Flexionswinkeln eine signifikante IR-Instabilität auf, die bei 100° Flexion einen Anstieg von 8° über die native Laxität erreichte (Abb. 3b).

Diskussion

Die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie waren, dass eine anterolaterale Instabilität bei simulierten Pivot-Shift-Tests nur dann zu beobachten ist, wenn sowohl die KF als auch die C/ALL durchtrennt sind. Bei isolierter Verletzung einer der beiden Strukturen, zeigte sich keine signifikante Erhöhung der ALRI, was darauf hindeutet, dass sie synergetisch wirken, um die anterolaterale Rotationsinstabilität (ALRI) zu hemmen. Die KF sind der wichtigste Hemmer für die tibiale IR in höheren Flexionsgraden. In ähnlicher Weise ist das VKB der primäre Hemmer für die ATT und hemmt die IR nur streckungsnah. Die Ergebnisse zeigen unter Verwendung von robotergestützten und kinematischen Methoden in einer einzigen Studie, wie das VKB und die lateralen Strukturen über den gesamten Bewegungsbereich zusammenarbeiten, um dem Kniegelenk Stabilität zu verleihen.

Die Diskussion über die ALRI sorgt in der orthopädischen Fachwelt immer noch für lebhafte Diskussionen. Die Funktionen der anterolateralen Kniestrukturen wurden umfassend untersucht, aber die bisherigen Ergebnisse waren nicht konklusiv. Verletzungen der KF, des C/ALL und des LMPR wurden jeweils mit einer rotatorischen Instabilität in Verbindung gebracht, wobei verschiedene Autoren die eine oder andere Struktur als wichtiger erachteten [10, 12, 20, 21]. Einige Studien untersuchten in deren Versuchsaufbau nur eine Struktur, während die anderen nicht untersucht wurden, was die Bedeutung der untersuchten Strukturen überbewerten könnte [1, 8, 22, 23]. Zumindest ein Teil dieser Kontroverse ist darauf zurückzuführen, dass nur Veränderungen der Knieinstabilität (Laxität, kraftkontrolliert) gemessen wurden, was klinisch beobachtet wird, aber nicht dasselbe ist wie die Bedeutung von Strukturen, welche die Gelenklaxität einschränken (wegkontrolliert) und die Stabilität des Knies gewährleisten.

Das VKB ist der primäre Hemmer für die ATT, was vorangegangene Studien bestätigen [12, 24]. Die Rolle des VKB bei der Kontrolle der Rotationsinstabilität ist weniger gut erforscht: In früheren Studien wurde es als primärer Stabilisator der IR beschrieben [21, 25]. Es gibt jedoch immer mehr Belege dafür, dass das VKB bei der Kontrolle der IR nur eine untergeordnete Rolle spielt und vor allem bei voller Streckung wichtig ist [12, 26,27,28,29]. Die vorliegende Studie zeigt, dass das VKB maximal 16 % des Widerstands gegen die IR beiträgt. Bei einer Beugung von 30° sind die anterolateralen Weichteile für den Widerstand gegen die IR wichtiger, und das VKB ist weniger bedeutend.

Kaplan-Fasern (KF) sind der wichtigste Hemmer der tibialen Innenrotation (IR) über 30° Knieflexion

In der vorliegenden Studie waren die KF mit dem tiefen ITB der wichtigste Widerstand gegen IR von 30° bis 90° Flexion mit bis zu 44 % bei 90° Flexion. Kittl et al. [12] untersuchten das oberflächliche und tiefe ITB getrennt und fanden einen höheren Beitrag des gesamten ITB zum Widerstand gegen IR bei 60° und 90° Flexion von 76 % bzw. 72 %. Diese Zahlen deuten auf eine signifikante IR-Instabilität hin, wenn das ITB isoliert verletzt ist; in Vorstudien wurde aber nur eine Zunahme von 1° bis 3° im gebeugten Knie berichtet [10, 20]. Diese IR-Veränderungen wären bei der klinischen Untersuchung schwer zu finden, was darauf hindeutet, dass die KF möglicherweise nicht isoliert geschädigt wären. Diese Studie zeigt, dass die ALRI nach Durchtrennung der KF erheblich zunimmt. Der Effekt verstärkt sich mit der Beugung des Knies und ist geringer, wenn die C/ALL intakt sind.

In Übereinstimmung mit einem früheren Bericht zeigt die vorliegende Studie, dass der C/ALL die IR weniger zurückhält als der KF/ITB [12]. Beide Studien ergaben, dass der C/ALL-Komplex 10–15 % des IR-Drehmoments von 30° bis 90° Beugung aufhält. Trotzdem gibt widersprüchliche Meinungen, inwieweit die C/ALL eine signifikante Rolle spielt. Bei einem VKB-intakten Knie führt eine C/ALL-Verletzung nicht zu einem signifikanten Anstieg der IR [20, 21, 30]; er ist also kein primärer Stabilisator. Bei VKB-defizienten Knien wurde über eine kleine, aber signifikante Auswirkung auf die IR nach Durchtrennung des C/ALL berichtet [10, 30,31,32]. Die vorliegende Studie unterstützt diese früheren Ergebnisse: Die Durchtrennung des C/ALL führt zu einem geringen Anstieg von ALRI und IR bei intakten KF und zu einem größeren Anstieg der IR-Instabilität, wenn die KF bereits durchtrennt wurden.

Diese Studie zeigt, dass der laterale Meniskus in einem VKB-intakten Knie die IR nicht hemmt, aber eine LMPR-Verletzung in einem VKB-defizienten Knie zu einem weiteren Anstieg der ALRI führt.

Frühere Kadaverstudien haben berichtet, dass eine laterale Meniskektomie oder eine Durchtrennung des LMPR die IR- oder ALRI-Instabilität erhöht [1, 4, 8, 13, 22]. Diese Berichte beziehen sich jedoch auf VKB-defiziente Knie. Die Ergebnisse der vorangegangenen Studien stimmen mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit überein, wonach die IR geringfügig zunimmt, wenn das LMPR in einem VKB-defizienten Knie durchtrennt wird. In klinischen Studien wurden laterale Meniskusverletzungen mit einem höheren Grad an Instabilität bei Pivot-Shift-Belastung in Verbindung gebracht [4, 33, 34].

Die Studie muss in Zusammenschau ihrer Limitationen betrachtet werden. Die Ergebnisse beruhen auf Arbeiten an humanen Kadavern und sind daher nur begrenzt klinisch übertragbar. Die verwendeten Methoden beruhen jedoch auf umfangreicher Literatur, die die Gültigkeit der Verwendung von (1) frisch eingefrorenen kollagenen Geweben, (2) sequenziellen Schnittstudien zur Zurückhaltung in Robotertests und (3) kinematischen Messungen zur Messung der erhöhten Gelenkinstabilität belegt. Die Proben waren älter, als die für VKB-Verletzungen typisch ist, was ihr Verhalten beeinflusst haben könnte. Dies ist darauf zurückzuführen, dass keine jüngeren Kadaver zur Verfügung standen, aber eine sorgfältige Untersuchung stellte sicher, dass keine pathologischen Veränderungen vorlagen.

Außerdem handelte es sich beim simulierten Pivot-Shift um einen quasi-statischen Test und nicht um das dynamische klinische Manöver. Obwohl es sich um ein bewährtes Modell handelt, könnte ein dynamischer Testaufbau einen tatsächlichen Pivot-Shift besser nachbilden.

Schließlich bieten diese Ergebnisse zwar eine Begründung für chirurgische Eingriffe zur Behandlung verletzter lateraler Strukturen, doch wurde in dieser Arbeit nicht untersucht, ob durch einen chirurgischen Eingriff die Stabilität auf dem Niveau des intakten Knies wiederhergestellt werden kann.

Fazit für die Praxis

  • Der anterolaterale Komplex fungiert als funktionelle Einheit, um die Rotationsstabilität zu gewährleisten.

  • Das vordere Kreuzband (VKB) ist der primäre Stabilisator für die anteriore tibiale Translation (ATT).

  • Die Kaplan-Fasern (KF) sind der wichtigste Hemmer der Innenrotation (IR) über 30° Knieflexion.

  • Eine kombinierte Verletzung der KF und der anterolateralen Kapsel/des anterolateralen Ligaments (C/ALL) erhöht die anterolaterale Rotationsinstabilität (ALRI) erheblich, während eine isolierte Verletzung der KF oder der C/ALL dies nicht tut.

  • Verletzungen der posterioren Wurzel des lateralen Meniskus (LMPR) verursachen keine signifikante Instabilität bei intaktem VKB.