Die Inzidenz der traumatischen glenohumeralen Schulterluxation liegt in Deutschland bei 11–29/100.000 Personen pro Jahr. Es dominiert die Altersgruppe der 21- bis 45-jährigen Männer (53 %), welche sich die Verletzung hauptsächlich beim Sport zuziehen [6]. Die traumatische anteroinferiore Schulterluxation ist mit 80–90 % die häufigste Form, während die posteriore Luxation wesentlich seltener auftritt (4 %; [6]). Durch das Trauma entsteht meist eine der Luxationsrichtung entsprechende Instabilität des Glenohumeralgelenks, die insbesondere bei jüngeren Patienten operativ behandelt wird [6]. In dieser Arbeit wird der seltene Fall einer multidirektionalen Schulterinstabilität als Folge einer traumatischen unidirektionalen posterioren Luxation ohne vorbestehende Hyperlaxität beschrieben.

Gängige Klassifikationen der Schulterinstabilität wurden von Gerber und Nyffeler sowie Silliman und Hawkins beschrieben [3, 12]. Gerber und Nyffeler unterscheiden zwischen Instabilität und Hyperlaxität als Krankheitsbilder, die zwar gemeinsam auftreten können, jedoch voneinander zu unterscheiden sind. So wird zwischen einer multidirektionalen Instabilität (MDI) ohne bzw. mit Hyperlaxität unterschieden [3]. Ebenso unterscheiden Silliman und Hawkins die Hyperlaxität als Risikofaktor des Krankheitsbilds der MDI [12].

Bei der multidirektionalen Instabilität kommt es häufig zu einer verspäteten Diagnose

Die Diagnosestellung der MDI ist durch unterschiedliche Verletzungsmechanismen und das heterogene klinische Bild deutlich erschwert, was nicht selten zu einer verspäteten Diagnose bzw. Fehldiagnose führt [10]. Zur Bestimmung des Therapiealgorithmus ist das Erkennen von Begleitverletzungen wie Rotatorenmanschettenrupturen, SLAP-Läsionen (superiores Labrum von anterior nach posterior) und Frakturen wesentlich [10].

Fallpräsentation

Anamnese

Der 28-jährige professionelle Bob-Anschieber aus dem deutschen Olympiakader stellte sich 5 Wochen nach einem Mountainbikesturz auf den ausgestreckten Arm vor. Er berichtete von einer hinteren Luxation mit Spontanreposition. Seither klagte er über ein Instabilitätsgefühl „in allen Richtungen“ sowie über Schmerzen im Sulcus bicipitalis.

Befund

Der Patient zeigte einen positiven Jerk-Test (Abb. 1) und ein vorderes Apprehension-Zeichen bei 90° Abduktion (Abb. 2) ohne Zeichen einer Hyperlaxität (negativer Gagey-Test, negatives Sulkus-Zeichen; normwertiger Beighton-Score). Die Untersuchung zeigte positive SLAP-Tests (O’Brien-Test+, Speed-Test+, Palm-up-Test+) und einen zusätzlichen Druckschmerz über dem Sulcus bicipitalis. Die funktionelle Untersuchung der Rotatorenmanschette war unauffällig.

Abb. 1
figure 1

Jerk-Test

Abb. 2
figure 2

Vorderer Apprehension-Test

Radiologisch stellte sich eine Reversed Hill-Sachs-Läsion dar (Abb. 3). Die Magnetresonanztomographie (MRT) zeigte eine posterioinferiore Reverse-Bankart-Läsion, eine anteroinferiore Bankart-Läsion (Abb. 4) sowie eine fragliche SLAP-Läsion (Abb. 5). In der Arthro-Computertomographie (CT) zeigte sich keine knöcherne Läsion.

Abb. 3
figure 3

Reversed Hill-Sachs-Läsion in der Computertomographie (Pfeil)

Abb. 4
figure 4

Anteroinferiore Kapsel-Labrum-Läsion in der Magnetresonanztomographie (Pfeil)

Abb. 5
figure 5

Bizepssehnenanker in der Magnetresonanztomographie (Pfeil). a Coronare Darstellung, b sagitale Darstellung

Diagnose

Es wurde die Diagnose einer posttraumatischen multidirektionalen Schulterinstabilität mit posterioinferiorer Reverse-Bankart-Läsion und anterior-inferiorer Labrumläsion sowie SLAP-III-Läsion gestellt.

Therapie und Nachbehandlung

Bei subakuter Verletzung mit klinisch multidirektionaler Instabilität, jungem Alter, sportlich hohem Anspruch und fehlendem ossärem Defekt am Glenoid wurde die Indikation zur arthroskopischen Weichteilstabilisierung gestellt.

In Seitenlage erfolgte primär die Anlage eines hohen dorsalen Standardportals und eines anterosuperioren Arbeitsportals. Folgender arthroskopischer Befund konnte dokumentiert werden: Es stellten sich eine Ablösung des Labrums zwischen 3 und 9 Uhr, ein glenoidaler Knorpelschaden posteroinferior zwischen 6 und 7 Uhr sowie ein nach posterior auslaufender korbhenkelartiger Einriss des superioren Labrums (Abb. 6) bei stabilem Bizepssehnenanker und regelrecht verlaufender Bizepssehne dar. Die Rotatorenmanschette stellte sich intakt dar.

Abb. 6
figure 6

a Dorsale Labrumläsion. b Reversed Hill-Sachs-Läsion. c Anfrischen des dorsalen Glenoidrands. d Platzierung des ersten All-suture-Ankers auf der 7‑Uhr-Position

Zunächst wurde ein Débridement der Korbhenkelläsion durchgeführt. Bei intakter restlicher Bizepssehneninsertion und intaktem Pulley-System ergab sich keine Indikation für eine Tenotomie der langen Bizepssehne (LBS). Im Anschluss erfolgte die Anlage eines tiefen posterolateralen Arbeitsportals unter Sicht. Das vernarbte posteriore Labrum wurde mit dem Bankart-Messer mobilisiert und angefrischt und anschließend ein All-suture-Anker (FiberTak Soft Anker®, Fa. Arthrex, Naples, FL, USA) auf der 7‑Uhr-Position eingebracht. Die beiden Ankerfäden wurden nun einzeln durch den Kapsel-Labrum-Komplex gestochen und mittels Pushlock-Anker fixiert (Abb. 7). Analog erfolgte die Verankerung des Kapsel-Labrum-Komplexes durch All-suture-Anker auf 8‑ und 9‑Uhr-Position. Anschließend wurde ein tiefes anteroinferiores Portal nach Imhoff et al. bei 5:30 Uhr angelegt [4]. Hierüber erfolgte analog die Refixation des ventralen Kapsel-Labrum-Komplexes mit 3 All-suture-Ankern in 5:30-/4:30-/und 3:30-Uhr-Position.

Abb. 7
figure 7

a Fixierung der Fäden mittels Pushlock-Anker. b Analoges Vorgehen auf der 8‑ und 9‑Uhr-Position mit All-suture-Ankern. c Einbringen des ersten Fadenankers am anteroinferioren Glenoid auf 5:30 Uhr. d Abschlussbild ventral nach Setzen aller Fadenanker

In der abschließenden Tasthakenkontrolle zeigten sich stabile ventrale und dorsale Kapsel-Labrum-Verhältnisse bei Zentrierung des Oberarmkopfes.

Die Nachbehandlung erfolgte mittels Ruhigstellung in einem Schulterlagerungskissen (SLK Kissen, Fa. Medi, Bayreuth, Deutschland) für 6 Wochen. Übungsbehandlungen unter physiotherapeutischer Kontrolle wurden initial mit einem Bewegungsausmaß in der 1.–3. Woche auf 45° Abduktion/30° Flexion/30° Innenrotation (IR)/0° Außenrotation (ARO) limitiert. Ab der 4.–6. Woche wurde die Limitation auf 90° Abduktion/60° Flexion/45° IR/0° ARO erweitert. Ab der 7.–8. Woche wurde die aktive Beweglichkeit freigegeben.

Bei der Verlaufskontrolle 6 Wochen postoperativ war die Schulter passiv frei beweglich und zeigte keine Instabilitätszeichen. Der Patient war schmerzfrei. Im Anschluss konnte er mit der aktiven Aufbelastung des Schultergelenks beginnen. Sportartspezifisches Training wurde ab dem 4. postoperativen Monat freigegeben, die Rückkehr zum Wettkampf für den Bobsport ab dem 6. Monat postoperativ.

Diskussion

Die traumatische MDI auf Basis der posterioren Schulterluxation ist selten. Werner et al. beschreiben die MDI als Folge meist eines erweiterten Kapselvolumens oder einer Hyperlaxität, wohingegen ein Trauma als Ursache in der Literatur bislang nur selten beschrieben wurde [14]. Im hier präsentierten Fall liegt eine traumatische Ursache ohne Hyperlaxität oder erweitertes Kapselvolumen vor, die einwirkenden Kräfte des Fahrradsturzes waren ausreichend zum Entstehen der MDI.

Üblicherweise luxiert der Humeruskopf bei einer posterioren Luxation in 90° Elevation, Adduktion und Innenrotation und schädigt das posteriore Labrum sowie die Kapsel, wodurch konsekutiv eine posteriore Instabilität bedingt werden kann [8]. In seltenen Fällen wird eine zusätzliche anteriore Instabilität beschrieben [8]. Grund sind zeitgleiche Läsionen der anterioren Kapsel, des inferioren glenohumeralen Ligaments (IGHL) und des anterioren Labrums während des Luxationsereignisses, die in der Folge die posteriore Komponente der Instabilität verstärken [9]. Diese anterioren Verletzungen der Schulter sind durch die hohe Krafteinwirkung im Rahmen einer Luxation und die hängemattenartige Aufhängung der Schulter zu erklären [2]. Die zusätzliche anteriore Instabilität stellt die Trennschärfe zwischen der posterioren glenohumeralen Instabilität (PGHI) und der multidirektionalen Instabilität (MDI) dar [7].

Ein häufiger Risikofaktor der MDI ist die Hyperlaxität, die bei 13 % der Patienten mit Erstluxation der Schulter vorzufinden ist [6]. Dieses Defizit stellt keine eigenständige Pathologie dar, ist jedoch in der Ätiologie der MDI ein zu beachtender Faktor [7]. Weitere Risikofaktoren sind sportliche Aktivität, besonders Kontakt- und Überkopfsportarten, und eine glenoidale Retroversion > 16°.

Bei posterioren Luxationen sollte immer auf relevante Begleitverletzungen geachtet werden

Relevante, zu beachtende Begleitverletzungen der posterioren Luxation sind Reversed Hill-Sachs-Läsionen durch Impaktion des Humeruskopfs gegen die Glenoidkante, SLAP-Läsionen durch Krafteinwirkung auf die lange Bizepssehne (v. a. durch Zugbelastung), Rotatorenmanschettenläsionen durch Krafteinwirkung auf die Sehnen und Begleitverletzung des anterioren Labrums durch Scherkräfte.

Die Therapie der posterioren Stabilisierung ist in der Literatur viel diskutiert. Die konservative Therapie wird bei atraumatischen Instabilitäten bevorzugt. Bei traumatischer Instabilität und positivem Jerk-Test ist die operative Stabilisierung des Schultergelenks indiziert [7]. Arthroskopische Eingriffe sind hierbei der Goldstandard. Je nach Ausmaß der Begleitverletzung werden additiv rekonstruktive Maßnahmen der Begleitstrukturen durchgeführt. Für die weichteilige Verletzung, bei fehlendem ossärem Defekt, entspricht der Goldstandard der Rekonstruktion des Labrums mittels Fadenankern unter gleichzeitiger Raffung des aIGHL und pIGHL, die als wichtige Stabilisatoren des Gelenks dienen [11].

Biomechanische Studien haben die Rolle der LBS als passivem Stabilisator des Glenohumeralgelenks beschrieben. Die LBS verhindert die omnidirektionale Translation, Torsionsbewegungen und reduziert die Kraft auf das IGHL durch konkave Kompression [1]. Umgekehrt konnte gezeigt werden, dass eine Verletzung des Bizepssehnenankers zu einer erhöhten anterioren und posterioren Verschieblichkeit führt. Daher sollte insbesondere bei hohem funktionellem Anspruch ein Erhalt der LBS im Kontext einer MDI – wie im vorliegenden Fall – angestrebt werden [13]. Gerade korbhenkelartige Läsionen sind jedoch als anzunehmende Schmerzursache zu behandeln.

Im Fall des Patienten war eine operative Therapie der Reverse Hill-Sachs-Läsion nicht indiziert, da diese als „non-engaging“ Läsion klassifiziert wurde. Eine „engaging“ Reversed Hill-Sachs-Läsion ist nach Palmer und Widén definiert als ein Defekt, der in einer athletischen Funktionsstellung mit dem Glenoidrand verkantet. Dieser Defekt könnte mittels eines arthroskopischen Transfers der Subskapularissehne therapiert werden [5].

Fazit für die Praxis

  • Ein Trauma als Ursache einer multidirektionalen Instabilität ohne Hyperlaxität ist selten.

  • Posteriore Luxationen sind schwer zu diagnostizieren und werden in der klinischen Praxis häufig falsch oder gar nicht diagnostiziert – eine erhöhte Aufmerksamkeit, auch im Hinblick auf eine mögliche MDI – ist angebracht.

  • Bei Luxationen sollte immer auf glenohumerale Begleitverletzungen, wie SLAP-Läsionen, Rotatorenmanschettenläsionen und Knorpelschäden geachtet werden.