Hanne Seemann: „Chronischer Rückenschmerz ist keine Krankheit im Sinne einer somatisch zuordenbaren Erkrankung, sondern Folge bedeutender Störungen des biopsychosozialen Gleichgewichts mit der Unmöglichkeit, das Gleichgewicht von sich heraus wiederherstellen zu können“.

Die Fehlzeiten der Arbeitnehmer wegen Rückenschmerzen schießen in die Höhe. In Deutschland stieg die Zahl innerhalb des letzten Jahres von 17,9 auf 19,7 Tage/Jahr. Das entspricht einem Anstieg um rund 10%! Dies nennt man nicht gerade eine orthopädische Erfolgsstory! Der „Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen“ spricht bei Patienten mit Rückenleiden von einer „Über-, Unter- und Fehlversorgung“. Demnach hätten wir eine Überversorgung bei der operativen Therapie, der bildgebenden Diagnostik, bei Injektionen und der Verordnung von Bettruhe sowie bei der passiven physikalischen Therapie. Unterversorgt hingegen seien sie bei der Beratung und psychosozialen Unterstützung. Der Rat empfiehlt, die Rückenschmerzbehandlung auf der Grundlage evidenzbasierter Leitlinien zu optimieren. Diese Analyse trifft den Nagel auf den Kopf und wird dennoch geflissentlich ignoriert – nicht ganz folgenlos: immerhin haben wir die mittlerweile teuerste Volkskrankheit produziert!

Tausendfach werden täglich wissenschaftlich unsichere Maßnahmen in der täglichen Praxis geleistet – der Großteil der Infiltrationen, Akupunkturen, Elektrotherapie und Krankengymnastik gehört dazu. Tausendfach werden Operationsindikationen zu weit gestellt. Fatal ist, dass nicht wirksame Therapieformen symptomunterhaltend sind, die Chronifizierungsrate weiter steigern und das Heer der Rückenkranken vermehren. Ein Bärendienst an der Bevölkerung. Im internationalen Vergleich schneiden wir Deutschen bei der beruflichen Wiedereingliederung (zusammen mit den Dänen) am schlechtesten ab. Die „Return-to-work-Raten“ bei rückenschmerzbedingter 12-wöchiger Arbeitsunfähigkeit ist deprimierend niedrig [2]. Bei uns nehmen nur 54% in den folgenden 2 Jahren ihre Arbeit wieder auf – in den Niederlanden sind es 81%.

Es muss die Frage erlaubt sein, inwieweit unsere chronische Nichtbeachtung der Datenlage zur Therapieeffizienz eine Mitschuld am eklatanten Anstieg der Rückenschmerzpatienten trägt. Oder anders gesagt: Es kann nicht sein, dass wir wider besseres Wissen weitermachen wie bisher.

Bei chronischen Rückenschmerzen ist die interdisziplinäre multimodale Therapie „Goldstandard“. Tückischerweise vollzieht sich der Übergang von der akuten in die chronische Phase fast unmerklich. Der Bandscheibenvorfall mit handfestem morphologischem Befund wandelt sich undramatisch im Laufe der Monate zum biopsychosozialen Phänomen. Der ungeschulte Beobachter mag den kleinen aber essentiellen Wandel übersehen: Keine sinnfällige Zäsur drängt während der Chronifizierungsphase zur Abkehr von der monomodalen Therapie hin zum Bearbeiten der „yellow flags“! Im Gegenteil, die Patienten lassen sich nur ungern von ihren bisherigen Bewegungs- oder Essgewohnheiten abbringen. Psychosoziale Aspekte sind oft gerade in betroffenen Köpfen tabuisiert. Passive Therapieformen sind beliebt. Die konfliktfreie Fortführung der Therapie „as usual“ wird einem leicht gemacht.

Definitionen und Grundsätze der interdisziplinären Therapie wurde kürzlich von der Ad-hoc-Kommission der DGSS zusammengefasst und werden in diesem Heft zitiert [1]. Eine diesbezügliche ärztliche Bewusstseinsbildung und Anpassung des Praxisalltags an die eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sind notwendig. Wir benötigen Rahmenbedingungen, welche die interdisziplinäre Therapie in der täglichen Praxis weiter etablieren helfen. Die Schaffung weiterer interdisziplinärer Verbünde im kassenärztlichen Bereich ist dringend zu fördern.

Im vorliegenden Themenheft „Nichtoperative Rückenschmerzbehandlung“ wird v. a. die chronische Problematik thematisiert. Als Autoren gewonnen werden konnten Wegbereiter und Träger der konservativen Versorgung. Im Hinblick auf die Unverzichtbarkeit der interdisziplinären Therapie beim chronischen Rückenschmerz werden psychologische, physio- und sporttherapeutische Arbeiten präsentiert. Bei Letzteren wollen wir auch die nötige intelligente Steuerung des Belastungsaufbaus unter permanenter Berücksichtigung psychologischer Aspekte darstellen. Dies geht konzeptionell weit über die bisher geübte Trainingstherapie hinaus. Die psychosoziale Betreuung ist im Team so wichtig wie vielfältig. Sie ermöglicht und begleitet die Physiotherapie durch Abbau der Angst („fear avoidance behaviour“), definiert Ziele (z. B. den beruflichen Wiedereinstieg) und hilft bei deren Erlangung (z. B. durch Sozialberatung). Hierbei sind Orthopäden alleine schlichtweg überfordert – und die positiven Ergebnisse der interdisziplinären multimodalen Therapie sprechen für sich!

Wir hoffen die Essentials einer modernen und effektiven interdisziplinären Behandlung des Rückenschmerzes in diesem Themenheft darstellen zu können.

L. Weh