„Und niemals kann der Zeugungswille aus dem Geschlechtstrieb werden“

Einleitung

Häufig wird die lange vergessene und auch schwierige Entwicklung der deutschen Sexualwissenschaft und Sexualmedizin mit dem Berliner Institut von Magnus Hirschfeld (1868–1935) und seinen vielfältigen Aktivitäten in Verbindung gebracht [3]. Hierbei geraten andere Entwicklungsstränge häufig in Vergessenheit, insbesondere die Verbindungen zu den sich parallel entwickelnden klinischen Fächern wie der Urologie, der Gynäkologie oder der Neurologie/Psychiatrie. In den letzten Jahren hat sich der Forschungsdiskurs deutlich verbreitert und Fahrt aufgenommen [4].

Schon detailliertere Einzeluntersuchungen allein zu weiteren Berliner Forschern wie Iwan Bloch (1872–1922), Albert Moll (1862–1939) oder auch Max Marcuse sind rar und beleuchten häufig nur einzelne Facetten ihres weit gespannten, differenzierten Oeuvre. Im „Personenlexikon der Sexualforschung“ von Sigusch aus dem Jahre 2009 steht eher die Einordnung in rein sexualwissenschaftliche Diskurse im Vordergrund. In seiner „Geschichte der Sexualwissenschaft“ sieht der gleiche Autor die Sexualwissenschaft aus der Abgrenzung zu den medizinischen klinischen Fächern wie der Urologie/Andrologie und Gynäkologie entstanden und nicht als beiderseitig befruchtende und konstituierende Wissenschaften, wobei viele Sexualwissenschaftler wie Albert Moll oder auch Magnus Hirschfeld in rein urologischen Zeitschriften Einzelpublikationen zu sexualwissenschaftlichen Themen im Grenzgebiet zur Urologie veröffentlichten.

Weiterhin muss man bedenken, dass die „reinen“ Sexualwissenschaftler gerade bei ihren privaten Patienten immer im Mitbewerb von Klinikern wie Urologen, Frauenärzten oder Psychiatern standen. Das waren die eigentlichen Fachgebiete, bei denen die Sexualorgane in den eigenen Fachkanon integriert waren und sind – die aber gerade nicht den Begriff „Sex“ im Namen tragen, was für Patienten bis zum heutigen Tage vielfach angenehmer und weniger stigmatisierend zu sein scheint. Weitere Fachrepräsentanten sahen ihre eigene klinische Tätigkeit mehr in der Nähe zu Neurologie – Psychologie-Psychiatrie wie Albert Moll, der auf seinem Briefkopf – „Institut für praktische Psychologie“ hervorhob, um nicht den Begriff „Sex“ zu annoncieren.

Max Marcuse war der jüngste der vier fachprägenden Berliner Repräsentanten dieser Ära, zu denen auch, nicht nur in der urologischen Erinnerungskultur häufig vergessen, Gottfried Benn (1886–1956) oder Hans Haustein (1894–1933)Footnote 1 gehörten.

Viele frühe Sexualforscher waren als Privatgelehrte ohne zweiten akademischen Grad und damit ohne stärkere Verbindungen beispielsweise an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität in eigener, oft umsatzstarker Praxis im Großstadtbereich tätig, was ihnen eine unabhängige wissenschaftliche Tätigkeit erst ermöglichte. Weiterhin waren aufgrund persönlicher Gegensätze die Kommunikation der einzelnen Protagonisten untereinander häufig erschwert. Diese entzündeten sich vielfach an der Frage „reine Wissenschaftlichkeit versus gesellschaftliche Wirksamkeit“, die bis heute in der Sexualwissenschaft ein innewohnendes Movens ist.

Die allgemeinen Lexikaeinträge repetieren bei Max Marcuse bis heute einen Normalfaktenstand, der über eine unter Rolf Winau (1937–2006) betreute Dissertation von Thomas Mayer nicht hinausgeht.

Wir wollen versuchen, das vielschichtige, formal mehreren wissenschaftlichen Fachbereichen angehörende, interdisziplinäre Werk Max Marcuses und dessen Ausstrahlung in die jeweiligen medizinischen Fächer einzuordnen, insbesondere, da bei der parallelen Fachspezialisierung sowohl von Urologie als auch von Sexualmedizin während der 1920er-Jahre durchaus verschiedene Varianten wissenschaftlicher und praktischer urologischer/venerologischer/sexualmedizinischer Tätigkeit für einen niedergelassenen Arzt ohne direkte Universitätsaffiliation besonders im Großstadtbereich möglich waren.

Kurze Vita

Max Marcuse wurde am 14. April 1877 in Berlin in ein jüdisch stämmiges Elternhaus geboren, das in der Neumark (poln. Nowa Marchia) nordöstlich der Oder, bis 1945 zur preußischen Provinz Brandenburg (Regierungsbezirk Frankfurt) bzw. der nordöstlichste Teil zur Provinz Pommern gehörig, seine Wurzeln hatte. Sein Vater Carl (1831 Schwerin–1906 Berlin) war Kaufmann. Für das Jahr 1880 lässt sich ein C. Marcuse in der Dragonerstraße für Berlin nachweisen.Footnote 2 Seine Mutter Johanna, geborene Labus (1840–1912), entstammte einer dortigen Mühlenbesitzerfamilie. Er wuchs somit in einem gutbürgerlichen assimilierten, finanziell gut situierten Umfeld auf. Er hatte zwei Schwestern (Hedwig M 1861–1875) und (Lina M 1864–1938). Max Marcuse besuchte das Sophiengymnasium in der Spandauer Vorstadt bis zur „Befähigung zum einjährigen Militärdienst“ in Berlin und später das renommierte königliche Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, an dem er „zu Michaelis“ 1895 seine Reifeprüfung ablegte. Das Königliche Friedrich-Wilhelms-Gymnasium erfreute sich regen Zuspruchs der Berliner Eliten und erreichte vor der Jahrhundertwende mit fast 1000 Schülern zumeist aus protestantischen und jüdischen Familien hohe Schülerzahlen (Abb. 1).

Abb. 1
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Königliches Friedrich-Wilhelms-Gymnasium zu Berlin

Infobox Schüler des Friedrich-Wilhelms Gymnasiums Berlin

  • James Israel 1848–1926 Urologe

  • Max Dessoir 1867–1947 Arzt

  • Walther Rathenau 1867–1922 Politiker

  • Johannes Sobotta 1869–1945 Anatom

  • Arthur Pappenheim 1870–1916 Internist

Danach begann er das Studium der Medizin in Berlin (1895–1898) an der Friedrich-Wilhelms-Universität und hörte Vorlesungen u. a. bei dem Zoologen Oskar Hertwig (1849–1922), den beiden Internisten Georg Klemperer (1865–1946 Boston) und Hermann Senator (1834–1911), dem berühmten Pathologen Rudolf Virchow (1821–1902), dem Anatomen Wilhelm Waldeyer (1836–1921) und dem Neurologen und Psychiater Emanuel Mendel (1839–1907).Footnote 3 Zeittypisch wechselte Marcuse mehrfach den Studienort und verbrachte das Sommersemester 1898 in WürzburgFootnote 4 und einige Zeit in Freiburg/B. (1898–1900). Sein Medizinische Staatsexamen legte er am 1. Juli 1900 in Freiburg mit der Note „gut“ ab und erhielt seine Approbation am 9. Juli 1900. Er promovierte im Jahre 1901 (Colloquium 12. November 1901) in Berlin mit einem dermatologischen Thema bei „Zur Kenntnis der Hauthörner“Footnote 5 (Abb. 2). Bereits im März 1899 hatte Marcuse an der Medizinischen Fakultät in Jena angefragt, ob er eine in Berlin angefertigte Arbeit in Jena als Dissertationsschrift einreichen könne, in der Hoffnung, in Jena bereits vor dem medizinischen Staatsexamen promoviert werden zu können. Noch immer galt zu dieser Zeit die Promotion als universitärer Abschluss des Medizinstudiums, obwohl in Preußen das Staatsexamen als medizinische Endprüfung des Staates mit konsekutiver Approbation bereits ab 1825 eingeführt war. Gerade zu dieser Zeit hatte die Reformdiskussion, die 1901 in einer großen Studienreform mündete, deutlich wieder an Fahrt aufgenommen. Die Fakultät lehnte – nachdem zunächst eine Bescheinigung des Direktors der medizinischen Poliklinik über den Sachverhalt eingefordert wurde – das Gesuch ab, da die Zulassung zur Promotionsprüfung nach Jenenser Regeln ein mindestens 8‑semestriges Studium voraussetzte, was Marcuse zu dieser Zeit noch nicht vorweisen konnteFootnote 6 (Abb. 3).

Abb. 2
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Links Frontispiz Dissertation Max Marcuse (Sammlung Moll, Repro Moll-Keyn, mit freundl.Genehmigung). Rechts Abdruck der Dissertation im Archiv für Dermatologie und Syphilis 1902

Abb. 3
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Anschreiben Max Marcuses an die Universität Jena vom 04.03.1899 (Repro Uni Jena, mit freundl. Genehmigung)

Nach dem Staatexamen war er zunächst „Volontär – Assistent“ bei dem Neisser Schüler Josef Jodassohn (1863–1936) in Bern. Jadassohn beschäftigte sich in diesem Grenzgebiet besonders mit Fragen der Prostitution und der Verhütung von Geschlechtskrankheiten. Nach Ablegen seiner Promotion (Berlin) Ende 1901 arbeitete Max Marcuse bis Sommer 1902 in der privaten, nicht universitären Poliklinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten von Alfred Blaschko (1858–1922)Footnote 7, dem Mitbegründer der deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1902 in Berlin. Hier erhielt Marcuse sicherlich die fachliche Prägung zu den Wissenszusammenhängen von Geschlechtskrankheiten und Prostitution, die sein Mitstreiter Iwan Bloch als ein wichtiges konstituierendes Merkmal der sich entwickelnden neuen Spezialdisziplin Sexualwissenschaft herausstellte. Gleichzeitig war das Themenfeld Geschlechtskrankheiten mit ihren Auswirkungen auf den Harntrakt (gonorrhoische Urethralstrikturen – syphilitische Blasen- und Nierenveränderungen) für die sich parallel entwickelnden Urologie fachbildend.

Diese für Marcuse wichtige Prägung wird dadurch unterstrichen, dass Blaschko in der von Marcuse herausgegebenen Zeitschrift Sexual-Probleme als ständiger Mitarbeiter im Frontispiz aufgeführt wurde.

Ab September 1902 war Max Marcuse besoldeter „Hülfsarzt“ in der Hautkranken-Station des Frankfurter Städtischen KrankenhausesFootnote 8, das von Karl Herxheimer (1861–1942) geleitet wurde. Im Februar 1903 verließ Hans Marcuse das Krankenhaus, nachdem er bei der Besetzung einer Sekundärarztstelle zugunsten eines Stadtratssohns übergangen worden war.Footnote 9 Danach ließ sich er sich im Jahre 1904/05 als „Arzt für Haut- und Harnleiden“ in Berlin in der stark frequentierten Leipziger Straße nieder (Abb. 4, 5 und 6).

Abb. 4
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Ausriss Adressbuch für Berlin und seine Vororte 1905, Scherl, Berlin, S 1306, ab 1932 war er als „Sexualarzt“ in Wilmersdorf dann eingetragen, vorher 1930 unter der Rubrik „Harn-Blasen-Nierenleiden“, Adressbuch für Berlin 2. Band S 189

Abb. 5
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Ausriss Adressbuch für Berlin und seine Vororte 1922, 3. Teil, S 188, 189 (Montage Moll-Keyn, mit freundl. Genehmigung). Man sieht, dass Geschlechtskrankheiten und Harnerkrankungen unter einer Rubrik firmieren können. Marcuse war zu dieser Zeit unter der Adresse Lützowstraße 85, Berlin Tiergarten, eingetragen

Abb. 6
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a Im RMK für 1912 firmiert Max Marcuse mit „Salbentopf“ und Katheter als Venero-Urologe und Sexualleiden (RMK 1912 S 137). b Im RMK für 1931 firmiert Max Marcuse formal nur noch mit dem „Salbentopf“ als „Dermatologe“ (RMK 1931 S. 92) (Reichs-Medizinal-Kalender für Deutschland/begründet von Dr. Paul Börner/Teil II, Ärztliches Handbuch und Ärzteverzeichnis 1931 Georg Thieme, Leipzig online: https://digital.zbmed.de/medizingeschichte/periodical/pageview/5727962.). Dies zeigt, dass das Überlappungsfeld der Venerologen, die sich der Urologie zugehörig fühlen, größer sein kann als eine Charakterisierung im RMK mit „Salbentopf“ und oder „Katheter“, die in der Regel eine gute Charakterisierung dieser Gruppe darstellt. 1931 gibt er Sexualleiden hier nicht an, obwohl dies sein Hauptbetätigungsfeld darstellt

Max Marcuse heiratete 1905 die 3 Jahre jüngere, in Berlin geborene Mühlenbesitzertochter Helene Frida Elisabeth Kohls (1880–1961), die einen Teil ihrer Kindheit in Althöfchen in der Neumark (Stary Dworek pol., Landkreis Schwerin an der Warthe, Provinz Posen) verbracht hatte. Von dieser ließ er sich nach mehr als 20 Jahren scheiden.Footnote 10Footnote 11 Aus dieser Ehe entstammte der Sohn Hans Renatus (Yohanan Meroz 1920–2006), der später Botschafter Israels in der Bundesrepublik war. 1936 heiratete Max Marcuse in Palästina Grete Seelenfreund geb. Freudenthal (–1984), mit der er schon seit 1931 einen Sohn (Michael; hatte Abb. 7).

Abb. 7
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Links Die Praxis war zunächst an einer stark frequentierten Einkaufsstraße, der bedeutendsten Einkaufs- und Geschäftsstraße der Metropole, mit mehreren Straßenbahnlinien gelegen. An ihr lagen die Warenhäuser von Georg Wertheim (1857–1939), 1892 erbaut und Leonhard Tietz (1849–1941), 1899/1900 erbaut. Das Ambulatorium befand sich in der Nähe des S‑Bahnhofs Wedding und der U‑Bahnstation Reinickendorf. Die Nummerierung der Leipziger Straße ist heute geändert. An der Praxisadresse Nr. 42 alt, Ecke Markgrafenstraße, stand ein Geschäftshaus der Architekten Georg Rathenau und Friedrich August Hartmann im Stil der beginnenden Moderne. Es wurde von 1913 bis 1943 vom Damenkonfektionshaus R. M. Maassen genutzt. Seit 1932 war hier eine Filiale der Firma Woolworth. Leipziger Straße in: https://www.diegeschichteberlins.de/geschichteberlins/berlin-abc/stichwortehn/829-2015-06-08-08-06-33.html, (zugegriffen 13.04.2023). Später war die Praxis in der vornehmen Gegend Lützowstraße 85 in Berlin-Tiergarten unweit der Evangelischen Elisabeth-Klinik und des U‑Bahnhofs Kurfürstenstraße. Rechts Max Marcuse Ende der 1920er-Jahre (Repro Moll-Keyn, Sammlung Moll, mit freundl. Genehmigung)

Bereits im Sommer 1933 fasste Max Marcuse den Entschluss, aufgrund der politischen Lage nach Palästina zu emigrieren (Tab. 1).

Tab. 1 Antijüdische Maßnahmen im ersten Halbjahr 1933 nach Walk

Mit der Bahn gelangte er mit seinem Sohn nach Triest, von dort mit dem Dampfer „Martha Washington“ der „Austro-Americana-Linie“, einer österreich-ungarischen Reederei, nach Palästina.

In den Jahren 1933 bis 1936 war Palästina das wichtigste Exilland für jüdische Flüchtlinge. 1933 emigrieren etwa 38.000 Juden von insgesamt 525.000 jüdischen oder dem Judentum nahestehenden Mitbürgern des Deutschen Reiches. Am 3. August 1933 erreichte Hans Marcuse den Hafen von Jaffa. Auf der Reise ging ein von Lovis Corinth (1858–1925) angefertigtes Portrait Marcuses verloren (Abb. 8).

Abb. 8
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Plakat und Prospekt der Austro American Linie mit dem Schiff „Martha Washington“ https://www.austriainusa.org/austroamericana 1908 in Dienst gestellt, im Ersten Weltkrieg Truppentransportschiff der USA

Hier in Israel konnte Max Marcuse, wie viele andere, nicht mehr (nicht nur aufgrund von Sprachproblemen) an seine alten Erfolge anknüpfen. Dies war ein Problem, was bei vielen in Deutschland vollständig assimilierten Juden bestand.

Max Marcuse verstarb in Tel Aviv am 24.06.1963.

Wissenschaft

Bereits im Studium war Marcuse mit den Problemen von unehelichen Müttern und Abtreibung nach Zeitzeugenangaben in Berührung gekommen. Dieses Problem des außerehelichen Geschlechtsverkehrs prägte seine wissenschaftlichen Arbeiten wesentlich. Hieraus resultierten bereits frühe Zeitschriften- und Buchpublikation. Zuvor hatte er, venerodermatologisch geprägt, 1907 die Buchpublikation ,Hautkrankheiten und Sexualität‘ verfasst sowie Buchbesprechungen in der Fachliteratur, die ihn als besonderen Kenner der Materie ausweisen. Während seiner klinischen Zeit verfasst er eigene Arbeiten und Artikelrezensionen in einer renommierten venerodermatologischen Fachzeitschrift, dem bei Julius Springer herausgegebenen und bis heute bestehenden Archiv für Dermatologie und Syphilis. Auch war er allgemeinbildend publizistisch tätig (Abb. 9 und 10).

Abb. 9
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Früh beschäftigte sich Max Marcuse auch mit Fragen des außerehelichen Geschlechtsverkehrs hier exemplarisch in der Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene im Jahre 1904 (Bd 1 266–269, 296–322). Während er zu dieser Zeit als Spezialarzt für Dermatologie und Harnkrankheiten im Berliner Adressbuch „firmiert“, nennt er sich in diesem Aufsatz in einer urologischen Zeitschrift nur „Spezialarzt für Dermatologie“. Dies ist ein gutes Beispiel, dass die Eigensicht auf die eigene Fachzugehörigkeit nicht sicher in der Eigensicht festgelegt war

Abb. 10
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Links Frontispiz Hautkrankheiten und Sexualität (Urban und Schwarzenberg, Berlin-Wien). Rechts Uneheliche Mütter (Repro Moll-Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Im Kreise der Sexualforscher war Marcuse entscheidend bei Diskursen zur Heterosexualität beteiligt und stand den Diskursen zur Homosexualität ablehnend gegenüber. Für ihn war der zentrale Ansatzpunkt der Sexualreform nicht die Erforschung des „Perversen“, sondern die Modernisierung der Heterosexualität.

Er gehörte zu der Vielzahl von Autoren der Zeit, die Ehehandbücher verfassten oder sich mit Beratungsfragen beschäftigten und sich in dieser Publikationsform an ein akademisches Publikum wandten, indem arrivierte Wissenschaftler wie z. B. Albert Moll, der nicht unumstritten war, gewonnen wurden (Abb. 11).

Abb. 11
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Max Marcuse 1927 Frontispiz Die Ehe Ihre Physiologie, Psychologie, Hygiene und Eugenik – Ein biologisches Ehebuch (Repro Moll-Keyn, mit freundl. Genehmigung). Aus heutiger Sicht ist uns der Begriff Eugenik in diesem Zusammenhang nicht mehr geläufig, gehörte jedoch in den 1920er-Jahren zum wissenschaftlichen Mainstream

Mit dieser Arbeit forderte er insbesondere die katholische Moraltheologie heraus. Denn Marcuse vertrat die Ansicht, dass Ärzte und kein Priester für die Ehevorbereitung zuständig sein sollten. Darüber hinaus war Marcuse ein engagierter Streiter für eine detaillierte Vorbereitung auf die Ehe, worunter er neben einer umfänglichen Unterrichtung über Geschlechtskrankheiten auch die Vermeidung jeder sexuellen Abstinenz verstand. Diese benannte er als Hauptursache für zahllose psychosomatische Leiden und die damals als allgemein verbreitete Zivilisationskrankheit benannte „Nervosität“. Als er immer mehr in kirchlichen Zeitschriften und auf Tagungen attackiert wurde, griff Marcuse zum äußersten Mittel: Er veröffentlichte die Fallstudie eines Patienten, der katholischer Priester war und schilderte bis ins letzte Detail dessen sexuelle Phantasien, die Folge des Zölibats seien. Daraufhin verstummten seine Gegner schlagartig und bedachten ihn für die nächsten Jahrzehnte mit Schweigen.

Urologie

Im Gegensatz zu weiteren wichtigen Protagonisten der frühen Sexualwissenschaft widmete sich Max Marcuse wie auch Hermann Rohleder (1866–1934) in Leipzig oder Samuel Jessner (1859–1929) in Königsberg diesem besonderen interdisziplinären Arbeitsfeld, was aus der eigenen klinisch-praktischen Arbeit in niedergelassener Praxis resultierte. Die Arbeiten sind ein wichtiges Zeugnis und zugleich frühe Quellen der frühen Verbindung von Sexualmedizin mit der Urologie und Venerologie. Marcuse schaffte es, diese Themen in allgemeinen medizinischen Zeitschriften zu publizierten. Daher ist er, wie andere, die meist nur in den jeweiligen fachspezifischen Blättern publizierten, in der urologischen Erinnerungskultur oder der von Venerologen oder Dermatologen wenig verankert.

Auch war der „Broterwerb“ in einer umsatzstarken Praxis notwendig, um als Privatgelehrter ohne Verbindung zu einer Universität oder Forschungseinrichtung arbeiten zu können. Dies wird vielfach in der Historiographie übersehen, wenn auf die Spezialisierung als Sexualwissenschaftler abgehoben wird. Bisher wurde nur die finanzielle Situation des Hirschfeld-Instituts beleuchtet. Die Behandlung von Geschlechtskrankheiten, die in der vorantibiotischen Ära bis 1945 aufwendig war und beispielsweise bei der Gonorrhö Instillationsschemata z. B. nach Janet oder Harnröhrenbougierungen in aufsteigender Durchmesserfolge (Dilatatoren nach KollmannFootnote 12 oder Oberländer) vorsah, war beispielsweise in der Preugo (Preußische Gebührenordnung 1896 eingeführt als Ablösung der Medizinaltaxe von 1815, bis 1965 gültig)Footnote 13 und der Adgo (Allgemeine Deutsche Gebührenordnung der Ersatzkassen 1924–1982)Footnote 14 durchaus gut dotiert, aber nicht auf der Höhe einer blinden Blasensteinlithotripsie. Auch die Salvarsan-Therapie ab 1910/1911 wie auch die zuvor durchgeführten „Schmierkuren“ zur Quecksilberanwendung erforderten mehrfaches Erscheinen der Patienten. Somit bot diese spezialisierte Beschäftigung im Großstadtbereich ein finanziell auskömmliches und zugleich gesichertes Einkommen, da die Patienten die Diskretion einer Fachpraxis, die häufig unter einem anderen Label annoncierte, zu schätzen wussten, besonders, wenn deren Inhaber auch publizistisch tätig waren.

Hans Haustein (1894–1933)Footnote 15, der in Berlin Wilmersdorf eine ähnliche Praxis betrieb und sich auch wissenschaftlich auf ähnlichem Gebiet betätigte, gab für das Jahr 1900 allein für Berlin 8529 Männer an, die geschlechtskrank in der Behandlung von Ärzten standen, in 107 preußischen Städten waren im Jahre 1900 23,7 % der männlichen und 25,5 % der weiblichen Bevölkerung an Geschlechtskrankheiten erkrankt.

Im Jahre 1912 schrieb Max in der viel gelesenen Medizinischen Klinik über die „Atonie der Prostata“ (Abb. 12).

Abb. 12
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Montage aus Ausgabenanfang und Artikelanfang Medizinische Klinik 1912 (Repro Moll-Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Weitere reine urologische Themen waren „Orgasmus ohne Ejakulation“ im Jahre 1922 in der renommierten Deutschen Medizinischen Wochenschrift sowie eine Arbeit über die Enuresis nocturna als sexualneurotisches Problem in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik 1924.

In seiner Arbeit zur „Zur Kenntnis des Climacterium virile, insbesondere über urosexuelle Störungen und Veränderungen der Prostata bei ihm“ publiziert er in Nachfolge Freuds zu den hormonellen und psychologischen Störungen eines beginnenden Testosteronmangels, was für eines Teils seines Klientel zeittypisch war, wobei er neben sexuellen Abirrungen eine bestehende Oligospermie herausstellte.

Mit Bezug zur Urologie verfasste er in seinem eigenen Handwörterbuch der Sexualwissenschaft 1923 die Stichworte Enuresis, Kastration, Klimakterium des Mannes, Pubertät. Der Wiener Oskar Scheuer (1876–1941 Ghetto Litzmannstadt [Lodz, Polen]), der für das dortige von Leo Schidrowitz (1894–1956) inaugurierte „Wiener Institut für Sexualforschung“ tätig war, verfasste weitere urologischen Stichworte für diese Publikation wie Aphrodisiaka, Beschneidung, Priapismus (Abb. 13).

Abb. 13
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Buchcover Handwörterbuch der Sexualwissenschaft 2. Auflage, Marcus und Webers, Bonn, 1926

Im Handbuch der Sexualwissenschaften von Albert Moll bearbeitete Max Marcuse das Stichwort „Neuropathia sexualis“ (Abb. 14).

Abb. 14
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Thekla Wolle und Max Marcuse vor 1933 in Berlin, aus Krause-Burger S 2007 DVA (Repro Moll-Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Zur Verhütungsfrage – Eugenik

Für manche ist die Tatsache befremdlich, dass Max Marcuse – wie viele Forscher seiner Zeit – sich einerseits mit für uns noch immer aktuellen Fragen beschäftigen konnte, andererseits aber auch Fragen der Eugenik – ähnlich Helene Stöcker oder Magnus Hirschfeld – durchaus positiv gegenüberstand. Das waren Debatten, die auch Urologen wie Friedrich Wilhelm Schallmayer (1857–1919), der länger in Düsseldorf wirkte, maßgeblich prägten und zu dem er sich publizistisch äußerte. Marcuse schätzte besonders den Rassebiologen und Polygynisten Christian Freiherr von Ehrenfels (1859–1932), dem er in Publikationen immer wieder zustimmte. Ehrenfels war ebenso wie Marcuse ein engagierter Gegner kirchlichen Einflusses auf das Sexualleben der Menschen.

Marcuse setzte er sich für die Verhütung beim Geschlechtsverkehr in Wort und Schrift vehement ein – ein Thema, das zu dieser Zeit noch keine Breitenwirkung besaß (Abb. 15).

Abb. 15
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Frontispiz links Vortragpublikation ,Die sexuologische Bedeutung der Zeugungs- und Empfängnisverhütung in der Ehe‘, 1919; rechts ,Der Praeventivverkehr in der Medizinischen Lehre und Ärztlichen Praxis‘, 1931, Enke, Stuttgart (Repro Moll-Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Insgesamt erschienen von ihm mehr als 70 Originalarbeiten (Buchpublikationen und wissenschaftliche Artikel) sowie über 400 Rezensionen in den von ihm redigierten Zeitschriften.

Verbandspolitik und Netzwerke

Im Jahre 1904/1905 war Max Marcuse, zu dieser Zeit 27 Jahre alt, Mitbegründer des Bundes für Mutterschutz (Helene Stöcker, 1869–1943, New York) und Ausschussmitglied. Er leitete von seiner Berliner Praxis aus zunächst die Geschäfte.

Im Jahre 1913 war er Mitbegründer der „Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung“ (IGSF) zusammen mit Albert Moll, um gegen die bereits existierende „Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik“ (ÄGESE), in der Albert Eulenburg, Iwan Bloch und Magnus Hirschfeld prägend waren und der auch der Urologe Carl Posner (1854–1928) angehörte, eine Organisation in Stellung zu bringen, die die Sexualforschung „rein“ wissenschaftlich, vollkommen unparteiisch und insbesondere über den medizinischen Tellerrand hinausblickend betreiben sollte.

Von 1908 bis 1914 gab Max Marcuse die Sexual-Probleme – Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, Sauerländer Verlag, heraus. Von 1919–1932 die Zeitschrift für Sexualwissenschaft sowie von 1918–1931 redigierte er die Monographiereihe „Abhandlungen aus dem Gebiete der Sexualforschung“ (Abb. 16).

Abb. 16
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Links Zeitschrift für Sexualwissenschaft X. Band 1923 Heftcover. Rechts Abhandlungen aus dem Gebiete der Sexualforschung (Repro Moll-Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Ebenfalls redigierte er die Verhandlungen des I. Internationalen Kongresses für Sexualforschung, Berlin, vom 10. bis 16. Oktober 1926.

Allein diese Tätigkeiten zeigen seine gute Integration in die Gruppe der Berliner und internationalen Sexualmediziner/-wissenschaftler, die aber auch nicht immer frei von Spannungen war. Mit Helene Stöcker und den tonangebenden Frauen des Bundes für Mutterschutz überwarf sich Marcuse theoretisch, politisch und persönlich in der Frage der Herausgeberschaft der Zeitschrift für Mutterschutz Ende 1907. Im Kern ging es bei der Trennung um eine Unvereinbarkeit von „objektiv“-wissenschaftlichem Anspruch einerseits, den er vertrat und politisch-„fürsorglicher“ Reformarbeit andererseits, für die im Bund v. a. Helene Stöcker und Maria Lischnewska (1854–1938) standen. Die Herausgeberarbeit in der Zeitschrift Mutterschutz – Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik riss er an sich und nannte sie in Sexual-Probleme um und vereinigte diese 1909 mit der initial von Eulenburg und Bloch 1908 begründeten Zeitschrift für Sexualwissenschaft (Abb. 17).

Abb. 17
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X Cover Zeitschrift für Sexualprobleme

Max Marcuse war nicht Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Urologie.

Exodus

Nach seiner Emigration im Jahre 1933 im Alter von 56 Jahren gelang es Max Marcuse aus vielfältigen Gründen nicht mehr, an seine bestehenden Netzwerke anzuknüpfen. Dies lag zum einen an sprachlichen Problemen im Hebräischen, die es ihm nicht ermöglichten, in Israel ausreichend zu kommunizieren. Auch fanden seine in der Zeit vor 1933 geprägten Auffassungen im sich neu bildenden Staat Israel mit einer gänzlich anderen Bevölkerungsstruktur und Sexualitätsauffassung keine Basis, wie Kirsten Leng kürzlich detailliert herausstellte. Aber auch seine fehlende Möglichkeit, in der englischen Sprache ausreichend zu kommunizieren, war für seine Isolation verantwortlich, obwohl er der einzige der vier großen Berliner Sexualwissenschaftler war, der nicht in den 1930er-Jahren verstorben war.

In der Zeitschrift Der Orient, der an die Form der Die Weltbühne angelegt war und in deutscher Sprache erschien, publizierte Marcuse zu sexueller Tradition im Judentum. In einer weiteren Ausgabe der Zeitschrift beschäftigt ihn das Urteil in einem Sexualprozess, das wesentlich auf dem festgestellten Charakter des Angeklagten beruhte. Hier konnte er auf eigene Publikationen aus den 1920er-Jahren zurückgreifen.

Auch zu Sexualproblemen im Kibbuz nahm er in deutscher Sprache Stellung.

An alte Erfolge knüpft nur noch einmal in kleineren Publikationen 1948–1949 sowie in seinem „ABC Führer durch Sexualität und Erotik“ an. Dies wird von manchen Autoren als Fauxpas angesehen, da der Verlag dem Beate Uhse-Konzern nahestand. Zu diesem Buch hatte der in den 1950er- und 1960er-Jahren renommierte Hamburger Sexualforscher Hans Giese (1920–1970)Footnote 16 das Vorwort verfasst (Abb. 18). Giese versuchte ebenfalls, Marcuse für die neu gegründete Gesellschaft für Sexualforschung zugewinnen. Hierzu war Marcuse aber nicht bereit. Er bezweifelte, dass „in einer sich als ‚deutschen‘ Gesellschaft bezeichnenden Organisation (…) fuer (sic) einen vormals deutschen Juden heute noch oder wieder ein legitimer Platz sein koennte (sic)“.Footnote 17

Abb. 18
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Cover-Umschlag A B C Führer durch Sexualität und Erotik, Stephenson Verlag (Repro Moll-Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Zusammenfassung – Fazit für die Praxis

In der schwierigen Gründungsphase der deutschen Sexualmedizin/-wissenschaft spielte die Urologie in ihrer Ausprägung als Venerologie und Sexualmedizin des Mannes eine konstituierende Rolle, was sich an der Biographie Max Marcuses gut ablesen lässt, ein Momentum, das in der Erinnerungskultur sowohl der Urologie, Venerologie und Sexualmedizin verloren gegangen ist.

Das Jahr 1933 bedeute für beide Fächer, Urologie und Sexualmedizin, einen wesentlichen Einschnitt, da die vor 1933 tätigen Forscher, häufig jüdischer Herkunft, nach dem Kriege oder in der Emigration an ihre alten Erfolge und Positionen nicht mehr anknüpfen konnten (aufgrund Alters, Sprachproblemen, Verschiebung des Wissenschaftsdiskurses), was einen wesentlichen Wissensverlust und Änderung von Forschungsperspektiven nach sich zog. Auch wirkten die Netzwerke der jüngeren Generation, die sich in der NS-Zeit herausgebildet hatten, noch deutlich in der Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten in medizinischen Fachgesellschaften, Universitäten und in der Gesellschaft fort.

Marcuse gehörte in Tel Aviv neben dem gleichaltrigen Viktor Blum (1877–1954) in Chicago zu den wenigen der Urologie nahestehenden Emigranten jüdischer Abstammung, denen eine publizistische und ärztliche Tätigkeit in ihrer erzwungenen Emigration im Ausland überhaupt gelang.