FormalPara Originalpublikation

Montopoli M, Zumerle S, Vettor R et al (2020) Androgen-deprivation therapies for prostate cancer and risk of infection by SARS-CoV-2: a population-based study (N = 4532). Ann Oncol. https://doi.org/10.1016/j.annonc.2020.04.479

Im Dezember 2019 wurde erstmals von Fällen einer bisher unbekannten Pneumonie in der zentralchinesischen Stadt Wuhan berichtet. Diese konnten auf ein neuartiges Coronavirus („severe acute respiratory syndrome-coronavirus 2“, SARS-CoV-2) zurückgeführt werden [1]. Seither breitet sich die Erkrankung, von der Weltgesundheitsorganisation offiziell COVID-19 („coronavirus disease 2019“) genannt, weltweit aus [2].

SARS-CoV‑2 ist ein behülltes Virus, das zur Familie der Beta-Coronaviren zählt. Insgesamt sind sechs Coronaviren bekannt, von denen zwei, SARS-CoV und MERS-CoV („middle east respiratory syndrome-coronavirus“), beim Menschen ernste respiratorische Symptome verursachen [3]. Im Gegensatz zu MERS-CoV zeichnet sich SARS-CoV‑2 durch eine hohe Infektiosität und Transmissionsrate aus [2, 4]. Die geschätzte Reproduktionszahl des Virus liegt zwischen 2,24 und 3,58 bei einer epidemischen Verdopplungszeit von wenigen Tagen und damit einer exponentiellen Entwicklung [5, 6]. Das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) schätzt den Fall-Verstorbenen-Anteil („case-fatality rate“, CFR) für Europa auf 1,5 % [7]. Eine chinesische Studie zeigte eine Gesamt-CFR von 2,3 %. Bei einem Alter zwischen 70 und 79 Jahren bzw. ab 80 Jahren stieg diese Rate allerdings auf 8,0 bzw. 14,8 % [8]. Häufige Komorbiditäten bei Patienten mit einem schweren Verlauf waren kardiovaskuläre Erkrankungen, arterielle Hypertonie und Diabetes mellitus [9]. Daten, die eine eindeutige Identifizierung von Risikogruppen ermöglichen, liegen bisher nicht vor.

Pathophysiologisch scheinen Transmembranserinproteasen (TMPRSS) eine Rolle beim Zelleintritt von Coronaviren zu spielen. Aktuelle Studien zeigen, dass SARS-CoV‑2 das Angiotensin-Converting-Enzym 2 (ACE2) zum Zelleintritt nutzt. Dieser Prozess wird gefolgt von einer proteolytischen Spaltung eines S‑Proteins von TMPRSS2, was letztendlich zur Fusion der zellulären und viralen Membran führt [10].

Zum einen ist also, vor dem Hintergrund der hohen Transmissionsrate, eine Identifizierung von Risikopatienten und damit die Ermöglichung von besonderen Schutzmaßnahmen für einen schweren Verlauf von besonderem Interesse. Zum anderen ist es wichtig, Faktoren zu identifizieren, die eine potenzielle Protektion vor einer Infektion oder einem schweren Verlauf darstellen.

Da TMPRSS2 beim Prostatakarzinom vermehrt exprimiert wird und dessen Transkription vom Androgenrezeptor (AR) reguliert wird [11, 12], beschäftigt sich die vorliegende Untersuchung mit der Frage, ob eine Androgendeprivationstherapie (ADT) ein protektiver Faktor bei SARS-CoV-2-Infektionen sein könnte [13].

Dazu wurden die Krankenakten von 9280 Patienten mit nachgewiesener SARS-CoV-2-Infektion aus 68 Krankenhäusern in Venetien, einer Region in Nordostitalien mit hoher Prävalenz an COVID-19-Erkrankungen, retrospektiv auf folgende Parameter untersucht: Geschlecht, Krankenhausaufenthalt, Aufnahme auf eine Intensivstation, Tod, Tumorerkrankung, Prostatakarzinom und ADT. Obwohl die Prävalenz von COVID-19-Erkrankungen insgesamt bei Frauen häufiger als bei Männern war (56 % vs. 44 %), wurden Männer häufiger hospitalisiert (60 %), auf einer Intensivstation behandelt (78 %) und verstarben auch häufiger (62 %).

Unter den Erkrankten lag bei 8,5 % eine Krebserkrankung vor (n = 786), 1,3 % aller erkrankten Patienten hatten ein Prostatakarzinom (n = 118), wobei unklar bleibt, ob dieses eine zum Zeitpunkt der SARS-CoV-2-Infektion aktive Prostatakarzinomerkrankung war oder lediglich ein Prostatakarzinom in der Anamnese vorlag. Unter allen männlichen Patienten mit Tumorerkrankung war das Prostatakarzinom die häufigste Entität (28 %). Innerhalb der männlichen Population hatten Patienten mit einer malignen Grunderkrankung ein höheres Risiko für das Auftreten einer SARS-CoV-2-Infektion (Odds Ratio [OR] 1,79; 95%-Konfidenzintervall [‑KI] 1,62–1,98). Hinsichtlich der Frage nach Verlauf der Virusinfektion zeigten sich häufiger schwere Verläufe bei Patienten mit einer onkologischen Erkrankung. Von allen männlichen Erkrankten wurden 47 % (n = 2131) in ein Krankenhaus aufgenommen und 6,9 % (n = 312) verstarben, während 67,9 % (n = 292) der männlichen Erkrankten mit einer Tumorerkrankung in einem Krankenhaus behandelt wurden und 17,4 % verstarben (n = 75).

Eine zweite Population in Venetien, nämlich Patienten mit einer Prostatakarzinomdiagnose zum Zeitpunkt der Auswertung (venetianisches Tumorregister), wurde schließlich noch in zwei Gruppen aufgeteilt, von denen die eine Gruppe bereits vor der SARS-CoV-2-Epidemie eine ADT erhielt und die andere nicht. Auch hier fehlen Informationen über das Stadium der Erkrankungssituation oder ob es sich z. T. lediglich um Patienten mit einer Prostatakarzinomvorgeschichte handelt. Insgesamt erhielten 5273 Patienten in Venetien zum Zeitpunkt der Datenauswertung eine ADT. Innerhalb dieser Gruppe wurde bei nur 4 Männern eine SARS-CoV-2-Infektion nachgewiesen. Von allen SARS-CoV-2-positiven Fällen hatten Patienten mit einem Prostatakarzinom unter ADT ein signifikant geringeres Risiko für eine Infektion mit SARS-CoV‑2 verglichen mit Patienten, die keine ADT erhielten (OR 4,05; 95%-KI 1,55–10,59). Noch größer war der Unterschied beim Vergleich mit der Gesamtgruppen aller Patienten mit onkologischen Diagnosen (OR 4,86; 95%-KI 1,88–12,56).

FormalPara Diskussion.

Ziel der vorliegenden Datenauswertung war es, die Hypothese zu überprüfen, ob eine ADT bei Patienten mit einem Prostatakarzinom einen protektiven Effekt auf die Möglichkeit einer SARS-CoV-2-Infektion und einen damit einhergehenden schweren Verlauf hat.

Anhand der durchgeführten, retrospektiven Analyse konnte zudem gezeigt werden wie sich das Geschlecht und verschiedene onkologische Vorerkrankungen auf das Risiko für eine Infektion oder einen schweren Verlauf auswirken. Die auswertbaren Krankenakten stammen aus Venetien, einer Region in Norditalien, die in Europa sehr früh und ausgeprägt von der Pandemie betroffen war [14].

Zum Vergleich liegen Daten aus Deutschland vom 23. April 2020 von 12.178 übermittelten Fällen vor [15]. Zu 10.063 von diesen Fällen existieren klinische Daten. Zu schwereren Verläufen mit Pneumonie kam es in 1–2 % der Fälle, eine Hospitalisierung erfolgte in 8–10 % der Fälle (14–17 % in der Gruppe der >80-Jährigen), bei 1–9 % war ein Intensivaufenthalt notwendig und es verstarben 1 % der Patienten. Insgesamt lag bei 13 % der Erkrankten eine Krebserkrankung vor. Eine Vorerkrankung, unabhängig von ihrer Art, wurde als Risikofaktor für einen schweren Verlauf gewertet und mit Angabe von mindestens einem Risikofaktor stiegen die Risiken für einen schweren Verlauf (mindestens 4 %), eine Hospitalisierung (mindestens 15 %) und das Versterben (mindestens 37 %). Eine genaue Auswertung bzgl. der onkologischen Vorerkrankungen liegt für Deutschland leider noch nicht vor. Im Vergleich zu Venetien ist der Anteil onkologischer Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion höher, was möglicherweise an flächendeckend empfohlenen Früherkennungs- und Vorsorgeuntersuchungen und deshalb höherer Rate an bekannten Tumorerkrankungen oder den flächendeckenderen Testmöglichkeiten auf SARS-CoV‑2 in Deutschland liegt. In beiden Auswertungen stieg allerdings das Risiko für eine Infektion und einen schweren Verlauf mit dem Vorliegen einer Vorerkrankung, wobei die Daten aus Venetien sich in der vorliegenden Analyse auf eine onkologische Vorerkrankung beziehen, während die onkologischen Patienten in Deutschland nur einen Teil der Patienten mit Vorerkrankung bzw. einem Risikofaktor ausmachen.

Ein Nachteil beider retrospektiver Analysen ist die Tatsache, dass nicht alle Personen mit einem bestimmten Merkmal getestet und evaluiert wurden. Im Hinblick auf die Daten aus Venetien bleibt unklar, wie viele Patienten, die eine ADT erhielten, überhaupt auf COVID-19 untersucht wurden. Mutmaßlich ist die Dunkelziffer der Patienten unter ADT mit einer Infektion höher. Ein Gegenargument könnte sein, dass sich ein schwerer Verlauf wahrscheinlich durch Hospitalisierung demaskiert hätte. Weiterhin bleibt auch unklar, ob alle relevanten Merkmale von Patienten mit ADT und einer nachgewiesenen COVID-19-Infektion aus den Krankenakten vorliegen und in die Untersuchung miteinbezogen wurden.

Zudem wurden in der Studie Patienten mit einem Prostatakarzinom unter ADT hinsichtlich ihres Risikos für eine Infektion mit SARS-CoV‑2 verglichen mit der Gesamtgruppe aller Patienten mit onkologischen Diagnosen. Hierbei ist nicht ersichtlich, ob für den Vergleich nur männliche onkologische Patienten oder die Gesamtkohorte, ungeachtet ihres Geschlechts, herangezogen wurde. Innerhalb der Gruppe von Patienten unter ADT besteht zudem möglicherweise eine große Inhomogenität. Die Therapie kann vom biochemischen Rezidiv bis hin zur weit fortgeschrittenen metastasierten Erkrankungssituation eingesetzt werden. Dieses gilt auch für die Patienten mit anderen onkologischen Erkrankungen, für die ebenfalls das Stadium der Tumorerkrankung nicht bekannt ist. Je nach Erkrankungsstadium liegt wahrscheinlich eine unterschiedliche Einschränkung des Immunsystems vor, was ebenfalls einen Einfluss auf das Risiko für eine Infektion und deren Verlauf haben könnte.

Trotz der Einschränkungen, die sich aus dem retrospektiven Charakter der Analyse ergeben, geben die vorliegenden Daten einen Hinweis, dass eine Inhibition von TMPRSS2 durch ADT möglicherweise zu einer Risikoreduktion für einen schweren Verlauf einer COVID-19-Infektion führen könnte. Dieses Ergebnis sollte sicherlich anhand prospektiv durchgeführter Studien weiter untersucht und im Idealfall bestätigt werden und könnte Ausgangspunkt von Forschungsbemühungen zur Evaluation aktiver Therapieoptionen sein.