Einleitung

Unter dem Stichwort „Onanie“ findet sich im „Kleinen Brockhaus“ aus dem Jahr 1905 eine kurze zeitgenössische Definition als

unnatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes, schwächt den Körper und schädigt den sittlichen Charakter [1]

und ein Verweis auf das wissenschaftliche Standardwerk zu diesem Thema, Hermann Rohleders „Die Masturbation. Eine Monographie für Ärzte, Pädagogen und gebildete Eltern“, das zwischen 1899 und 1921 in vier Auflagen erschien.

Anlässlich Rohleders 60. Geburtstags 1927 schrieb Hermann Franz Oskar Haberland (1887–1945?) in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft über den Jubilar:

Rohleder gehört zu den ersten, welche die Bedeutung der Sexualwissenschaft in ihrem vollen Umfange erkannt haben. Er hat eine außerordentlich fruchtbringende Pionierarbeit geleistet [2].

Rohleder war im direkten Austausch mit wichtigen Kollegen seiner Zeit, wie Ernst Haeckel (1834–1919) in Jena, Magnus Hirschfeld ([3], 1868–1935) in Berlin [4] und Eugen Steinach (1861–1944) in Wien [5]. Gleichzeitig blieben Rohleders ab 1923 unternommene Versuche, in Leipzig eine Professur für Sexualwissenschaft zu etablieren, erfolglos.

Vor einigen Jahren erschien eine Bioergographie Rohleders [6], die besonders seine Arbeiten zur künstlichen Befruchtung und Masturbation hervorhebt; die Arbeiten zur künstlichen Befruchtung waren bereits vorher beachtet worden [7, 8]. In den deutschsprachigen Standardwerken zur Geschichte der Sexualwissenschaft ist Rohleder berücksichtigt [9]. Dabei beschreibt Volkmar Sigusch Rohleder einerseits als „offensichtlichste(n) vorzeitige(n) Pionier der Sexualmedizin“, andererseits stuft er ihn nicht als „Geistesriesen“ ein und kritisiert Inhalte und Stil von Rohleders wissenschaftlichen Arbeiten [10, S. 69–72].

In der Urologiegeschichte hat Rohleder bisher nur am Rande Erwähnung gefunden [11], obwohl er bereits ab 1903 als Arzt für „Haut- und Harnkrankheiten“ niedergelassen war und damit zu den frühen Urologen in Deutschland gezählt werden kann. Bis heute sind Urologie, Andrologie und Sexualmedizin eng verknüpft. In der Phase der medizinischen Spezialisierung um 1900 bildete die Dermatovenerologie eine der Quelldisziplinen der sich entwickelnden Urologie [4]. So ist zu erklären, dass einzelne Urologen, wie etwa Carl Posner in Berlin [12] oder eben Hermann Rohleder in Leipzig zur Erforschung der pathologischen und darüber der physiologischen Sexualität kamen.

Gleichzeitig ist für die entstehende Sexualwissenschaft in dieser Zeit typisch, dass viele Protagonisten ohne institutionelle Anbindung agierten und aus unterschiedlichen – meist medizinischen – Disziplinen kommend, als „Privatgelehrte“ tätig waren. Sexualität gewann in Abgrenzung von Zeugung erst um 1900 in Schriften über „Sexuelle Funktionsstörungen“ des Mannes eine eigene Kontur [13]. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde über ein geordnetes Zusammenspiel von Gehirn, Nerven und Muskeln gesprochen, die Libido rückte verstärkt in den Fokus der Forscher als Oberbegriff für Lust und sexuelle Erregung [14].

Die Publikationsorte beschränkten sich meist nicht auf ausgewählte Zeitschriftentitel oder Zeitschriftengruppen. Einige zu dieser Zeit entstehende Zeitschriften – wie die von Rohleder begründete „Vita sexualis“ (s. unten) waren kurzlebig. So entzieht sich die Literatur oft einer systematischen Recherche, insbesondere wenn Zeitschriften noch nicht digital erfasst sind [15].

In der vorgelegten Studie werden Leben und Werk Rohleders mit dem Fluchtpunkt seines Wirkens als Venerologe, Urologe und Sexualmediziner analysiert. Es wird gefragt, was die Disziplinentwicklung von Geschlechtskrankenfürsorge, Behandlung von Leiden der Harnorgane und Erforschung der menschlichen Sexualität gemein haben und wo sich diese Entwicklungen unterscheiden. Das Werk Rohleders wird in den Kontext seiner Zeit eingeordnet, Bezüge zu klinischer Medizin, Sexualwissenschaft, Endokrinologie und Eugenik werden erläutert.

Kurze biographische Skizze

Hermann Oskar Rohleder (Abb. 1) wurde als elftes Kind des Braumeisters, Brauereibesitzers und Stadtverordneten Friedrich August Rohleder (1820–1895) und der Friederike Auguste, geb. Schmidt (1830–1908), am 5. Februar 1866 im Sächsischen Dommitzsch geborenFootnote 1Footnote 2Footnote 3 [16]. Von 1871 bis 1880 besuchte er die dortige Bürgerschule, danach das renommierte Dresdener Kreuzgymnasium, wo er 1889 das Abitur ablegte.Footnote 4

Abb. 1
figure 1

Herrmann Oskar Rohleder (1866–1934). Aus: Haberland, HFO (1887–1945? [2, S. 346]). (Repro Moll-Keyn mit freundl. Genehmigung, ebenfalls Nachweis SLUB, Deutsche Fotothek)

Im Anschluss begann er ab Mai 1889Footnote 5 das Medizinstudium in Leipzig und hörte u. a. bei den Leipziger wissenschaftlichen Größen der Zeit wie dem Internisten Heinrich Jacob Wilhelm Curschmann (1846–1910), dem Chirurgen Carl Thiersch (1822–1895) und dem Gynäkologen und Geburtshelfer Paul ZweifelFootnote 6 (1848–1927). Das Physikum legte er im Februar 1890 abFootnote 7, 1894 wurde Rohleder mit der bei Paul Zweifel erstellten Arbeit „Ein Fall von primärem Carcinom der weiblichen Urethra“ [17] unter den Prüfern Wilhelm His (1831–1904; Anatomie) und Hubert Sattler (1844–1928; Ophthalmologie) zum Doktor der „Medizin, Chirurgie und Geburtshülfe“ promoviert.Footnote 8

Nach dem Studium ließ sich Rohleder im Leipziger Stadtteil Gohlis als „praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer“ nieder. In den folgenden Jahren wechselten Wohnung und Praxis mehrmals innerhalb Leipzigs, ab 1903 war er wieder in Gohlis mit der zusätzlichen Bezeichnung „Specialarzt für Haut- und Harnkrankheiten“ registriert [18]. Andrea Hommel geht davon aus, dass dem eine Assistententätigkeit an der Leipziger Poliklinik für Hautkrankheiten, Syphilis und Harnkrankheiten bei Artur Kollmann (1858–1941) vorausgegangen war (s. unten; [7]). In seinen Publikationen und auf Briefköpfen gab er in den folgenden Jahren ebenfalls „Spezialarzt für sexuelle Erkrankungen“ [19] und „Sexualarzt“ [20, 21] anFootnote 9. Im Reichsmedizinalkalender von 1898 ist keine Spezialisierung vermerkt, in der Ausgabe von 1928 wird er als Dermatologe und Urologe geführt [22, 23]. Rohleder scheint nicht Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Urologie gewesen zu sein. Wahrscheinlich sah er sich zum Zeitpunkt ihrer Gründung bereits überwiegend als Sexualmediziner.

Rohleder heiratete 1896 in seinem Geburtsort Dommitzsch Melanie Thekla Jenny Wegener (1858–1917), geb. Francke. Die Ehe blieb kinderlos. In Leipzig verstarb Hermann Rohleder am 21. Januar 1934.Footnote 10

Seine Publikation „Vorlesungen über das Geschlechtsleben des Menschen“ ist auf der Liste der von den Nazis in Berlin verbannten Bücher aus dem Jahre 1933 vermerkt [24]. Es bleibt unklar, ob der zu dieser Zeit der 66 Jahre alte Autor darüber Kenntnis erlangte.

Disziplinentwicklung der Urologie in Leipzig

In Leipzig als aufstrebende sächsische Industriestadt hatte sich bereits 1890 Arthur Kollmann (Abb. 2a) für „Krankheiten der Harnwege“ habilitiert. Dieser besaß ab 1901 eine außerordentliche Professur an der Universität Leipzig für „Krankheiten der Harnorgane“ [25]. Auch war Kollmann ab 1901 zusammen mit dem Dresdener Urologen Friedrich Martin Oberländer (1851–1915; Abb. 2b) mit dem Standardwerk über die Diagnostik und Therapie der Gonorrhö und die Behandlung von Harnröhrenstrikturen besonders hervorgetreten [26] und war – ebenfalls mit Oberländer – Mitherausgeber des Centralblatt für die Krankheiten der Harn- und Sexualorgane.

Abb. 2
figure 2

Arthur Kollmann (1858–1941), Leipzig (a), Felix Martin Oberländer (1851–1915; b), Dresden. Die beiden wichtigsten Vertreter der frühen sächsischen Etablierung der Urologie als Spezialdisziplin. (Museum, Bibliothek und Archiv, Deutsche Gesellschaft für Urologie). (Repro Moll-Keyn mit freundl. Genehmigung)

In der Zeit vor einer einheitlich geregelten Facharztausbildung (1924 „Bremer Richtlinie“, [27]) und vor der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Urologie 1906 [28] berechtigte eine Tätigkeit in der von Kollmann geleiteten (privaten) „Poliklinik für Hautkrankheiten, Syphilis und Harnkrankheiten“ Rohleder im Anschluss als „Specialarzt für Haut- und Harnkrankheiten“ zu annoncieren [2].

Publizistisches Werk und Arbeitsschwerpunkte

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es Berührungspunkte der Urologie mit der Sexualmedizin. Zeitgenössische Quellen nennen etwa die Behandlung von Geschlechtskrankheiten, insbesondere der Gonorrhö, die „sexuellen Operationen der Prostata“, die Therapie der Impotenz, die Behandlung der Sterilität durch Samenleiteroperationen und die Therapie der sexuellen Neurasthenie [29].

Rohleder trat nach seiner Promotion über Harnröhrenkarzinome mit einem breit angelegten Themenspektrum zur Sexologie publizistisch in Erscheinung, neben Zeitschriftenartikeln verfasste er auch zahlreiche Monographien, die breit beachtet wurden und teils in mehreren Auflagen erschienen. Sein Publikationsverzeichnis umfasst mehr als 100 Einträge, seine Personalbibliographie ist in der Bioergographie von Alexander Burkard veröffentlicht [6].

Ab 1896 gab er im Leipziger Verlag W. Malende, die Zeitschrift Vita sexualis heraus, die jedoch nach wenigen Heften wieder eingestellt wurde (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Frontispiz der von Hermann Rohleder herausgegebenen Zeitschrift Vita sexualis. (Repro Moll-Keyn mit freundl. Genehmigung)

Im Vorwort beschrieb Rohleder das Programm der Zeitschrift und auch die ihn antreibenden Intention:

Zu den Gebieten, auf denen gerade in der neuen und neuesten Zeit immense Fortschritte zu verzeichnen sind, und die in der Praxis und während der Studienzeit auf der Universität recht stiefmütterlich behandelt werden, aber dennoch dem Praktiker recht notwendig sind, gehört auch das der geschlechtlichen Erkrankungen und des Geschlechtslebens des Menschen überhaupt. […] Wir zielen [auf] das gesamte Gebiet der sexuellen Gebrechen, wie die Impotenz, die krankhaften Samenverluste, die Sterilität, […] dann die Onanie, Nymphomanie, die Anaesthesia und Hyperesthesia sexualis, die Frigidität, die sog. Conträren Sexualempfindung, das gesamte Prostitutionswesen [und werden den Arzt] mit den neuesten Errungenschaften auf dem Gebiete der Syphilidologie, der Gonorrhoe und des Ulcus molle und der eventl. einschlagenden Hauterkrankungen bekannt machen [30].

Obwohl Rohleder hier schon eine Erforschung des „Geschlechtsleben des Menschen überhaupt“ ankündigt, stehen in dieser Aufzählung doch pathologische Sexualität und Geschlechtskrankheiten im Vordergrund. In diesem Zusammenhang wird die Verbindung der Sexualmedizin zur Venerologie besonders deutlich. Im zweiten Band der Zeitschrift gedruckten Beitrag

Vom Wesen und die Bedeutung des menschlichen Geschlechtstriebes und die Wichtigkeit einer genauen Kenntnis des Geschlechtslebens für die gesamte ärztliche Thätigkeit [31]

wird jedoch bereits eine Ausweitung seines Interesses auf breitere Fragen deutlich.

Einige Jahre später, 1908, gehörte Rohleder zu den Begründern der von Magnus Hirschfeld (1869–1935) herausgegebenen Zeitschrift für Sexualwissenschaft [32], die er gemeinsam mit dem Wiener Ethnologen und Slawisten Friedrich Salomon Krauss (1859–1938) als Redakteur betreute. Der oben genannte Beitrag Haberlands zu Rohleders 60. Geburtstag 1926 deutet darauf hin, dass er mit Magnus Hirschfeld als Begründer der Zeitschrift erinnert wurde (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Frontispiz Zeitschrift für Sexualwissenschaft 1. Jahrgang 1. Heft mit der Erwähnung von Hermann Rohleder unter der redaktionellen Mitarbeit

Hier wird bereits Rohleders Publikation Vorlesungen über Geschlechtstrieb und gesamtes Geschlechtsleben des Menschen ausführlich besprochen. Nach Auffassung des Rezensenten Alfred Kindt „marschiert“ Rohleders Arbeit „gewissermaßen an der Spitze, da sie sich streng akademisch gibt und zunächst für Ärzte berechnet ist“ [33].

In der seit 1908 von Max Marcuse (1877–1963) herausgegebenen Zeitschrift Sexualprobleme. Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik wird Rohleder als „ständiger Mitarbeiter“ geführt (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Frontispiz der Zeitschrift für Sexualprobleme 1912 mit Namensnennung von Hermann Rohleder. Im Herausgeberkollegium finden wir ebenfalls den Urologen und Eugeniker Wilhelm Schallmayer (1857–1919)

Rohleder veröffentlichte zahlreiche Monographien zu Themen der Sexualwissenschaft und Sexualmedizin. Als Schwerpunkte lassen sich hier (1) Allgemeine Sexualwissenschaft, (2) Sexualpädagogik (3) natürliche und künstliche Zeugung und (4) Eugenik ausmachen.

In der Einleitung des ersten Bandes seiner Vorlesungen über Sexualtrieb und Sexualleben des Menschen (1901) beklagt er, dass sexualmedizinsches Wissen „für einen (ärztlichen) Allgemeinpraktiker nur mühsam zu beschaffen“ sei [34]. In der Folge gab er zwischen 1901 und 1912 die „Vorlesungen über Sexualtrieb und Sexualleben des Menschen“ in vier Bänden heraus, ab der 3. Aufl. dann als „Vorlesungen über das gesamte Geschlechtsleben des Menschen“ betitelt. Band 1: Das normale, anormale und paradoxe Geschlechtsleben; Band 2: Die normale und anormale Kohabitation und Konzeption (Befruchtung); Band 3: Das perverse heterosexuelle und automonosexuelle Geschlechtsleben; Band 4: Die homosexuellen Perversionen des Menschen auch vom Standpunkt der lex lata und lex ferenda. Die vier Bände erschienen, gelegentlich mit kleinen Variationen der Titel, jeweils in fünf überarbeiteten Auflagen ([35,36,37,38]; Abb. 6). Im Vorwort erläutert Rohleder:

Durch die Lektüre vorliegender Vorlesungen soll der Praktiker imstande sein, sich ein eigenes Bild über das betr. Gebiet zu bilden, auch auf Grund der Anschauungen der einzelnen Autoren […]. Deshalb versuchte ich, das menschliche gesamte Sexualleben seinem geistigen Auge vorzuführen […], [39].

Abb. 6
figure 6

Frontispiz Vorlesungen über Geschlechtstrieb und gesamtes Geschlechtsleben, Sammlung Moll. (Repro Moll-Keyn mit freundl. Genehmigung)

Die populärste Monographie zur Sexualpädagogik aus der Feder Rohleders war sicherlich „Die Masturbation. Eine Monographie für Ärzte, Pädagogen und gebildete Eltern“ [40], die zwischen 1899 und 1921 in vier Auflagen erschien. Daneben veröffentlichte er aber auch in Handbüchern und medizinischen sowie pädagogischen Zeitschriften (Abb. 7).

Abb. 7
figure 7

Frontispiz der mehrfach aufgelegten (1899, 1902, 1912, 1921) Monographie „Die Masturbation“ von Hermann Rohleder. Sammlung Moll. (Repro Moll-Keyn mit freundl. Genehmigung)

Für Rohleder war es wichtig, dass sich zu diesem Thema gerade Mediziner zu Wort meldeten und nicht nur „die Geistlichkeit“, wobei er sich hier auf die vielfach aufgelegten Aufklärungsschriften des Lunder Mediziners Seved Ribbing (1845–1921) bezog [41S. VI]. Bei der Beschreibung der Folgen der Masturbation spiegelte er alle zu dieser Zeit diskutierten Zustände wieder. Insbesondere der Neurasthenie als zu dieser Zeit häufig vorkommenden und als schwer zu therapierend angesehenen Störung des Nervensystems räumte er großen Raum ein [41, S. 190]. Ausführlich beschrieb er zeittypisch die Auswirkungen auf die Sinnesorgane, den Verdauungstrakt, die Atmungsorgane, die Muskulatur sowie die Genitalorgane mit besonderer Berücksichtigung des zu dieser Zeit häufig diskutieren Symptomkomplexes der Spermatorrhoe und Impotenz [41, S. 217–218]. Für Rohleder war Sexualität und die damit verbundene Sexualaufklärung an den Rahmen von Ehe und heterosexuelle Paarbeziehung gebunden [42]. Bis in die 1920er-Jahre formierte sich eine wissenschaftlich fundierte und therapeutisch orientierte Sexualmedizin, in der verschiedene Ansichten über Sexualstörungen verhandelt wurden und zahlreiche therapeutische Angebote – von der chirurgischen Intervention bis zur psychoanalytischen Kur – konkurrierten [43]. Rohleder vertrat den herrschenden Sexual- und den seit den 1850er-Jahren [44] nunmehr medikalisierten Anti-Onanie-Diskurs [45], der die Masturbation als „sexuelles Gebrechen“ [41, S. 334] ansah.

Die natürliche und künstliche Zeugung nahm im Werk Rohleders eine herausgehobene Stellung ein, weshalb Hommel [7] und Burkard [6] darauf bereits eingegangen sind. Sie schätzen ein, dass Rohleder einer der führenden Forscher in Deutschland zu diesem Thema war. Kurios mutet seine Idee an, die „Wiederherstellung eines lebenden, längst ausgestorbenen Zwischenglieds zwischen Mensch und Affe als Beweis unserer Abstammung vom Affen“ durch die künstliche Befruchtung eines Affen mit menschlichem Sperma herbeizuführen. Hierzu war Rohleder mit dem Jenaer Zoologen Ernst Haeckel in Korrespondenz [46] und veröffentlichte sowohl eine Monographie [47] als auch in den Monistischen Monatsheften [48].

In der Monatsschrift für Harnkrankheiten und Sexuelle Hygiene verfasste Hermann Rohleder 1905 einen ausführlichen Beitrag über den Neomalthusianismus [49]. Der Begriff bezieht sich auf den englischen Ökonom Thomas Malthus (1766–1834), der im frühen 19. Jahrhundert proklamiert hatte, dass Bevölkerung geometrisch, die für ihren Unterhalt nötigen Ressourcen jedoch nur arithmetisch anwuchsen. Aus diesen Gründen müsste es immer einen Kampf um die knappen Ressourcen geben, in dem die Stärkeren überlebten, während die Schwächeren zugrunde gingen. Dieses Denken hatte großen Einfluss auf das Konzept des „Überlebens des am besten Angepassten“ in Charles Darwins (1809–1882) Evolutionstheorie und wurde in der Folge auch in der Eugenik wirkmächtig.

Unter dem Schlagwort Neomalthusianismus wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts Fragen von Geburtenregelung, Armenfürsorge und Bevölkerungspolitik verhandelt [50, 51]. Rohleder sah als Mitbegründer der „Gesellschaft zur Bekämpfung der Überbevölkerung Deutschlands“ [52] eine sinkende Geburtenziffern weniger kritisch als viele Zeitgenossen. Vielmehr sah er in der Verringerung des Nachwuchses geradezu eine positive Voraussetzung rassischer und kultureller Fortentwicklung:

Übergroße Kinderzahl neigt mehr zu Degeneration, Qualitätenverschlechterung, kleine Kinderzahl mehr zu Regeneration [53, 54].

Er propagierte die „Zeugung einer gesünderen, kräftigeren Nachkommenschaft“ [55], die sich durch eine „vernunftmäßige […] Anwendung von Präventivmitteln im sexuellen sowohl ehelichen wie außerehelichen Verkehr“ erreichen ließe [56]. Nach Rohleder ging es nicht allein darum, gutes Erbmaterial zu fördern (sog. „positive Eugenik“), sondern auch das „schlechte“ einzugrenzen (sog. „negative Eugenik“). Daher forderte er, ähnlich wie in einigen Staaten der USA bereits bestehend, eine Gesetzgebung zur Sterilisation für Alkoholiker, Taubstumme, Geisteskranke und andere von ihm als „Minderwertige“ bezeichnete Personen [57, 58]. Mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchseses“ wurde in Deutschland 1933 ein entsprechendes Gesetz erlassen.

Laut Rohleder hätten gerade Frauen das größte Interesse „an den modernen, eugenischen, rasseverbessernden Bestrebungen“, wodurch eine „Hebung der Rasse“ erreicht würde [59].

Die „negative Eugenik“ wurde bei ihm mit dem Gesichtspunkt vertreten, dass „die Vererbung der Minderwertigen zu verringern“ sei, „denn diese Gruppen der geistig Minderwertigen füllen unsere Irrenhäuser, Gefängnisse, Zuchthäuser, Besserungs- und Erziehungsanstalten der verschiedenen Art bzw. ein Teil derselben läuft nach abgebüßter Strafe frei herum und hat das Recht auf Fortpflanzung wie der Wollwertige“ [60, S. 80]. Er war der Auffassung, dass „eine Eugenik, das Erstreben einer Rassenhygiene und Rassenverbesserung, einer Höherzüchtung der Menscheit“ für „eine Förderung der modernen Kultur wie die Sozialhygiene“ notwendig sei [60, S. 79].

Gedankengut „positiver Eugenik“ finden wir ebenfalls bei Rohleders Kollegen im Bereich der Sexualwissenschaft, Magnus Hirschfeld [3, 61], was von den SexualreformerInnen als in der Tradition des Humanismus und der Aufklärung stehend begriffen wurde.

Dass durch Urologie/Venerologie geprägte Wissenschaftler ähnliches Gedankengut entwickelten, zeigt sich ebenfalls am Schaffen eines der bekanntesten Rassenhygieniker Wilhelm Schallmayer (1857–1919), der mit dem Werk „Vererbung und Auslese“ ein bis nach dem Ende des Ersten Weltkrieges führendes Lehrbuch zur Rassehygiene verfasst hatte [62, 63], wobei Schallmayers „Rasse-Begriff“ die gesamte Menschheit meinte. Auch Hans Haustein (1894–1933 Berlin)Footnote 11, Venerourologe in Berlin, Sozialhygieniker und Medizinhistoriker am Kaiser-Wilhlem-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch und eher dem sozialdemokratischen sozialistischen Meinungsspektrum während der Weimarer Republik zuzuordnen, nahm in seinen Publikationen zu Fragen von Geschlechtskrankheiten, Prostitution und „Sozialhygiene“ eugenisches Gedankengut seines Lehrers Alfred Grotjahn (1869–1931) auf [64].

Hermann Rohleder schloss sich als einer der ersten bisher bekannten Mediziner in Deutschland Eugen Steinachs (1861–1944) Theorie von der Bedeutung der Leydig-Zellen als „Pubertätsdrüse“ an [3, 5, 65]. Rohleder folgte – wie übrigens auch der Berliner Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld – Steinachs Auffassung, dass die Hodentransplantation zur Therapie der Homosexualität geeignet wäre [66, 67].

Versuche der Institutionalisierung der Sexualwissenschaft

Am 21.02.1913 rief Hermann Rohleder zusammen mit Iwan Bloch (1872–1922), Albert Eulenburg (1840–1917) und dem Psychoanalytiker Heinrich Körber (1867–1927) die „Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik“ (ÄGeSe) ins Leben [68]. Die Gesellschaft war der Versuch, die Sexualwissenschaft als eigenständige Disziplin im Wissenschaftsbetrieb zu etablieren. Als Fachgesellschaft nahm sie anfangs nur Ärzte als Mitglieder auf, während ihr biologisch fundierter Ansatz die bisherige Deutungshoheit von Psychiatern, Theologen und Nationalökonomen über die menschliche Sexualität in Frage stellte. Mit dieser Gründung wollten die Promotoren Anschluss an den damals neuesten Stand der Wissenschaft suchen, die sie u. a. in der Eugenik sahen. Damit beanspruchten sie gleichzeitig Mitsprache bei gesellschaftspolitischen Diskursfeldern der Zeit wie Geburtenkontrolle oder angewandter Vererbungsforschung [69, 70]. Rohleder wurde zum Beisitzer im Vorstand gewählt.

Am 25. September 1923 schrieb Hermann Rohleder einen Brief an den Dekan der Leipziger medizinischen Fakultät, den Medizinhistoriker Karl Sudhoff (1858–1938), in dem er die Gründung eines „Lehrstuhls für Sexualmedizin“ zum Vorschlag brachte (Abb. 8). Auf dem Briefbogen firmiert Rohleder als „Specialarzt für Sexualleiden“. Der Sexualmediziner und Urologe begründet seinen Antrag mit dem „Aufschwung der Sexualwissenschaften in den letzten Jahrzehnten“ und der „Dozentur“ (fälschlich teils von den Zeitgenossen als „Lehrstuhl“ aufgeführtFootnote 12), die seit 1921 in Königsberg von dem Dermatologen Samuel Jessner (1859–1929) besetzt wurde. Rohleder machte einen Aufschwung der Sexualwissenschaft auch in der Gründung von Fachzeitschriften, ärztlichen wissenschaftlichen Gesellschaften, der Publikation wissenschaftlicher Artikel und der Lehre an anderen Universitäten fest. Demgegenüber seien die Medizinstudenten auf diesem Gebiete wenig ausgebildet.Footnote 13

Abb. 8
figure 8

Schreiben Rohleders an den Dekan der Med. Fak Leipzig 25.09.1923 Universitätsarchiv Leipzig (UAL) Med. Fak I Nr. 1 Bd 5 Bl 123/124. (Mit freundl. Genehmigung)

Die Fakultät lehnte das Gesuch Rohleders ab, was auch mit einem Gutachten des Leiters der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig Oswald Bumke (1877–1950) in Zusammenhang stand und das Verhältnis der akademischen Eliten zur neuen Fachdisziplin verdeutlicht:

Ich bin entschieden gegen die Einrichtung eines sexualwissenschaftlichen Institutes. Ich kenne keine Sexualwissenschaft als solche. Was sich dafür ausgibt, ist entweder eine höchst fragwürdige Pseudowissenschaft, wie sie z. B. Herr Magnus Hirschfeld und Herr Ministerialdirektor Dr. Wullfen, jeder freilich auf eine verschiedene Weise, betrieben haben; oder der irreführende Name für eine sehr notwendige und zweckmäßige Aufklärungsarbeit, die als solche mit Wissenschaft aber gar nichts zu tun hat […]. Das gesetzmäßige Ergebnis der Einrichtung derartiger Lehrstühle ist die Züchtung eines Dilettantismus, der über alles redet und nichts richtig versteht, und gegen den wir Universitäten uns mit Händen und Füßen wehren müssen.Footnote 14

Dieser Stellungnahme schlossen sich neben Sudhoff, der das Schreiben Bumbkes an weitere Kollegen herumreichte, u. a. an den Internisten Adolf von Strümpell (1853–1925), den Gynäkologen Walter Stoeckel (1871–1961) und an den Professor für „Professor für Ohren‑, Hals- und Nasenkrankheiten“, Adolf Barth (1852–1936).Footnote 15 Damit war Rohleders Vorschlag abgelehnt, ohne bei der Fakultätsratssitzung diskutiert worden zu sein (Abb. 9). Diese Ablehnung mag auch Gründe darin gehabt haben, dass einzelne Fachbereiche eine „Beschneidung“ oder Konkurrenz zu ihrem eigenen Fachgebiet und eine Abwerbung ihrer Patienten befürchteten, wobei hiervon die Fächer Gynäkologie, Dermatologie oder Neurologie-Psychiatrie sicherlich am stärksten betroffen gewesen wären. Diese pekuniären Gründe waren auch bei der Restriktion der Urologie durch die Chirurgie über mehrere Jahrzehnte ein wesentlicher Faktor. Zudem galt die „Sexualwissenschaft“ als eine „Geständniswissenschaft“ wie die Psychoanalyse und besaß einen zweifelhaften Ruf und schien somit für eine akademische Beschäftigung wenig geeignet, auch da eine größere Anzahl jüdischer Wissenschaftler sich derer angenommen hatte [71].

Abb. 9
figure 9

Rückseite des Gutachten Bumkes, auf dem Sudhoff die Kollegen zustimmen lies, damit der „Fakultätssitzung erfolgreich vorgearbeitet worden war“ und somit keine weitere Aussprache zum Sachverhalt erforderlich wurde. Oswald Bumke an den Dekan der Med. Fak Leipzig Med. UAL Fak I Nr 1a Bd 5 Bl 125

Eine weitere Eingabe von 1926, die eher auf das Gebiet der „Sexualhygiene“ abhob, war ebenfalls erfolglos.Footnote 16 Trotzdem fanden 1926 noch Gespräche mit dem sächsischen Ministerium für Volksbildung über die „Mitarbeit von Dr. Rohleder (nur) in Gestalt einer Honorarprofessur, nicht einer planmäßigen Professur“Footnote 17 statt, die aber ohne Konsequenzen blieben. Es lassen sich keine entsprechenden Veranstaltungen Rohlders in Vorlesungsverzeichnissen nachweisen.Footnote 18

Zusammenfassung und Fazit für die Praxis

In seiner „Geschichte der Sexualwissenschaft“ bezeichnet Volkmar Sigusch Rohleder als „offensichtliche(n) vorzeitige(n) Pionier der Sexualmedizin“[72]. Ähnlich wie der 12 Jahre ältere Carl Posner (1854–1928) in Berlin war Rohleder über die Behandlung der Geschlechtskrankheiten zur breiteren Erforschung der menschlichen Sexualität gekommen.

Während die Publikationen Rohleders in Zusammenhang mit Themen zur künstlichen Insemination und Eugenik durchaus bis in die heutige Zeit wissenschaftlich rezipiert wurden, blieb seine wichtige Funktion in Diskursen über Masturbation, Geburtenregelung, Homosexualität oder Sexualaufklärung in der frühen Phase der Etablierung der Sexualwissenschaft bisher eher unbekannt.

Nicht nur in den Metropolen Berlin und Wien lassen sich frühe Vertreter im Grenzgebiet von Urologie und Sexualwissenschaft aufspüren, auch für das sächsische Industriegebiet findet sich mit Rohleder ein publikationsfreudiger und zu Lebzeiten viel beachteter Forscher. Wie in Berlin gelang es auch in Leipzig nicht, an der Universität einen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft zu etablieren, obwohl in Königsberg bereits mit Hermann Jessner (1859–1929) seit 1921 eine „Dozentur“ (zeitgenössisch auch als „Lehrauftrag für das gesamte Gebiet der Sexuallehre“Footnote 19 oder „Lehrstuhl für Dermatologie und Sexologie“ [73] bezeichnet) eingerichtet worden war [10, S. 117]. Schon die unterschiedlichen Formulierungen in der Literatur zeigen die wenig etablierte Rolle dieses neuen Lehrangebots und auch des neuen Fachgebiets an. Hier spielten neben hochschulpolitischen Gründen zu einer kritisch gesehenen Fachzersplitterung sicherlich auch monetäre Überlegungen eine Rolle, da sowohl der Neurologie – Psychiatrie wie auch der Frauenheilkunde, Dermatologie oder Chirurgie (im Bereich der Urologie) Patienten durch das neue Fachgebiet entzogen worden wären. Damit zeigen sich zwischen der Fachentwicklung der Urologie und der Sexualwissenschaft nicht nur inhaltliche Überschneidungen, sondern auch strukturelle Ähnlichkeiten.