Die zunehmende Komplexität unserer Diagnose- und Behandlungsoptionen verlangen nach Ordnung. Leitlinien können hier einen Rahmen schaffen, der die vorhandene Evidenz aufzeigt und für die klinische Anwendung so aufbereitet, dass daraus idealerweise Handlungsstränge und/oder Algorithmen ableitbar werden, die in die klinische Praxis eingebracht werden können. Für die urologischen Erkrankungsbilder gibt es mittlerweile eine umfangreiche Sammlung solcher Leitlinien und v. a. in der Uroonkologie bereits einen großen Erfahrungsschatz mit einer entsprechenden Historie zum Umgang mit Leitlinien – sowohl bei der Erstellung als auch bei deren Nutzung und Verbreitung. Auch liefert die steigende Zahl an Untersuchungen zur Adhärenz der Leitlinien unbestritten Hinweise zu deren Nutzen [1,2,3]. Dennoch werden Leitlinien nicht in ausreichendem Maße genutzt.

Von zwei wesentlichen Aspekten hängt die Adhärenz zu Leitlinien ab:

  1. a)

    Qualitätsmerkmale der Leitlinie selbst.

Hierunter fällt nicht nur die umfassende Darstellung der vorhandenen Evidenz zu einem Thema und die entsprechende Einordnung durch geeignete Prüfung und – dort wo Evidenz fehlt – dann konsentierte Expertenmeinung. Auch Aktualität und die zeitnahe Umsetzung neuer Erkenntnisse in Empfehlungen und Einschätzungen zeichnen Qualität einer Leitlinie aus. Gerade Letzteres ist v. a. im Rahmen der Erstellung von S3-Leitlinien mit ihren hohen Qualitätsanforderungen und der dadurch bedingten strukturimmanenten Rigidität nicht immer umsetzbar. Auch inhaltlich haben die strengen Ansprüche, die die Deutsche S3-Leitlinie im internationalen Vergleich hinsichtlich der Güte sicher auszeichnet, den Nachteil, dass Daten unterhalb einem bestimmten Evidenzlevel (Phase-II-Studien oder Registerstudien) nur unzureichend Berücksichtigung finden können, auch wenn diese Daten etwa zur Zulassung eines Medikaments geführt haben. Auch werden zu vielen Fragestellungen zukünftig nicht mehr die Untersuchungen auf hohem Evidenzlevel durchgeführt werden, wie wir uns das inhaltlich vielleicht wünschen würden. Damit bleibt zukünftig die weiter steigende Herausforderung das Spannungsfeld zwischen Aktualität und Qualität so in eine Leitlinie einbringen zu können.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt dürfte auch in der Frage liegen, ob die Leitlinie im Vergleich den Qualitätsansprüchen, die man an sie stellt, bestehen kann. Bereits 2003 hatte man international damit begonnen, ein Messinstrument zu entwickeln, mit dem sich die methodische Qualität und das Verbreiten klinischer Leitlinien vergleichen lässt und dem dann 2010 eine entsprechend überarbeitete und erweiterte Version folgte [4]. Hintergrund der Entwicklung solcher Instrumente ist es, einen Vergleich zwischen verschiedenen Leitlinien zu ermöglichen, was von der Gesundheitspolitik bis zum Anwender in Klinik und Praxis genutzt werden könnte.

  1. b)

    Verbreitung der Leitlinie.

Bei der Verbreitung der Leitlinie sei nicht nur an den schlichten Zugang zu Leitlinien gedacht. Vielmehr geht es um die einfache „Nutzbarkeit“ von Leitlinien. Lassen sich daraus keine konkreten Handlungsanweisungen für die klinische Praxis ablesen, werden sie sich nicht verbreiten.

Die Arbeit zu „Barrieren der Leitlinienadhärenz“ von J. Kranz in diesem Heft gibt einen sehr treffenden Einstieg in die Thematik und zeigt beispielhaft wie Faktoren identifiziert werden können, die die Adhärenz vom Leitlinien – hier zu Epidemiologie, Diagnostik, Therapie und Management unkomplizierter bakterieller ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten – beeinflussen können. Die fragebogenbasierte Studie, die deutschlandweit durchgeführt wurde, hat dabei sowohl patienten- als auch arztbezogene Faktoren evaluiert. Auch wenn die Mehrheit der Befragten (34,9 %) den Leitlinien weitestgehend folgt, war einer der häufigsten Kritikpunkte Layout und Länge der Leitlinien. „Die Befragten wünschen sich eine kurze prägnante Leitlinie für den Arbeitsalltag, z. B. in Form von Flussdiagrammen oder kurze Anleitungen für die Kitteltasche.

Die aktuelle Struktur der Leitlinien hat das bisher nicht ausreichend berücksichtigt. Die verantwortlichen Editoren zu Leitlinien haben es sich daher zum Ziel gemacht, gemeinsam mit eingeladenen Autorengruppen „Fallbasierte Leitlinien“ zu erstellen, die diese Lücke schließen sollen. In den kommenden Ausgaben wird es hierzu vor dem Hintergrund der jeweiligen Leitlinie dann einen konkreten Algorithmus geben, der fallbasiert die Leitlinien und ihre Handlungsanweisungen darstellt.

Ein erstes Beispiel für diese Form der Darstellung und Aufarbeitung mag die Arbeit von Schöb et al. in diesem Heft sein. Beispielhaft ist hier auf die „Therapie des benignen Prostatasyndroms beim geriatrischen Patienten“ eingegangen und die Anwendung und Limitation medizinischer Leitlinien dargestellt: Der konkrete Fall eines 87-jährigen Patienten, der mit seiner komplexen Krankheitsgeschichte exemplarisch ausgewählt wurde, eignet sich hervorragend für eine schrittweise Aufarbeitung und Darstellung im Kontext der vorhandenen Evidenz aus den Leitlinien. Die „Fallauflösung“ am Ende der Diskussion liefert praxisnah und konkret eine Darstellung der tatsächlichen Behandlung und das abschließende Fazit ordnet den Fall in den Kontext der aktuellen Datenlage ein.

Fazit

Die Autoren wünschen sich ausgehend von diesen und kommenden Beiträgen eine Belebung der Diskussion um das Thema Leitlinien und deren konkrete Nutzung über das bisherige Maß hinaus und hoffen gemeinsam mit den Autoren künftiger „Fallbasierter Leitlinienbeiträge“ Leitlinien noch weiter in den Fokus unserer alltäglichen Arbeit in Klinik und Praxis zu bringen.