„Hinter den 3‑E’s verbergen sich die Themen Ernährung, Entgiftung und Energie. Zur Entgiftung des Körpers wurden jeden Tag Natronbäder, Kaffee-Einläufe, Ölziehen und alle drei Tage Hydro-Kolon-Anwendungen zur Darmsanierung durchgeführt.[1]

Diese Empfehlungen wurden in internetbasierten Foren als wissenschaftliche Erfolge zur Prävention und Heilung des Harnblasenkarzinoms propagiert. Besonders gefährlich werden diese heroischen Therapieansätze für den Patienten, wenn sich wissenschaftlich ungeprüfte Behandlungsversuche mit guten Geschäftsmodellen vermischen lassen. Trotz der Einführung von prospektiv randomisierten Studien nach den GCP-Kriterien („good clinical practice“) zur Überprüfung der Wirksamkeit und Sicherheit von neuen Substanzen, lässt das medizinische Rechtssystem weiterhin genügend Spielraum für unseriöse Praktiken von Wunderheilern.

Aus diesen Gründen haben sich das Leitlinienprogramm Onkologie der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.), der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (DKG) und der Deutschen Krebshilfe e. V. (DKH) das Ziel gesetzt, gemeinsam die Entwicklung und den Einsatz wissenschaftlich begründeter und praktikabler Leitlinien in der Onkologie zu fördern und zu unterstützen. Für die Erstellung von Leitlinien ist dabei ein recht aufwendiges und komplexes AWMF-Regelwerk einzuhalten. Bei der qualitativ höchsten Form der Leitlinienmethodik, der S3-Leitlinie, werden neben den aufwendigen systematischen Literaturrecherchen mit Erstellung von detailliert „metrischen“ Evidenztabellen zudem mehrtägige Konsensuskonferenzen aller beteiligten interdisziplinären Fachgesellschaften unter Berücksichtigung aller Interessenkonflikte gefordert. Für das Harnblasenkarzinom gab es bis dato keine evidenz- und konsensbasierte deutsche S3-Leitlinie.

Entwicklung und Hürden der S3-Leitlinie Harnblasenkarzinom

Von der Bewilligung des Vorantrags bis zur Veröffentlichung der S3-Leitlinie Harnblasenkarzinom sind insgesamt 5 Jahre vergangen. Die finale Publikation der S3-Leitlinie Harnblasenkarzinom mit einem Umfang von 400 Seiten ist für Herbst 2016 geplant. An der Bearbeitung der S3-Leitlinie waren das Leitlinienprogramm Onkologie der AWMF, der Deutschen Krebsgesellschaft und der Deutschen Krebshilfe unter Beteiligung von weiteren 31 medizinischen Fachgesellschaften und Patientenvertretern beteiligt. Die federführenden Fachgesellschaften waren die Deutsche Gesellschaft für Urologie e. V. und die Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft BlasenCarcinom der DKG e. V. (IABC). Insgesamt waren 63 Mitglieder, davon 42 abstimmungsberechtigte Mandatsträger, an insgesamt vier mehrtägigen Konsensuskonferenzen beteiligt.

Die S3-Leitlinie beinhaltet 65 Schlüsselfragen, jedoch konnte nur eine Schlüsselfrage an einer internationalen Leitlinie adaptiert werden. Das Hauptproblem der bereits bestehenden internationalen Leitlinien (z. B. AUA, EAU, NCCN und ESMO) liegt in ihrer unzureichenden methodischen Qualität, die vom AWMF-Regelwerk gefordert wird. Die Bewertung der methodischen Qualität von Leitlinien wird über das AGREE-II-Instrument gemessen [2]: Alle internationalen Leitlinien sind hier durchgefallen. Die Ausnahme bildete die im Frühjahr 2015 publizierte NICE-Leitlinie („National Institute for Health and Care Excellence“) aus England, die diese hohe Qualitätsgüte erfüllte. Somit stand die deutsche S3-Leitlinie Harnblasenkarzinom zu Anfang vor einer Herkulesaufgabe und musste bei 43 Schlüsselfragen komplett neue Literaturrecherchen durchführen. In der praktischen Umsetzung waren dabei 17.400 Literaturzitate, 4600 Abstracts, 1600 Volltexte und 332 Evidenztabellen zu bearbeiten. Insbesondere die Erstellung der Evidenztabellen stellte eine maximale Arbeitsbelastung dar: Berechnet man im Durchschnitt eine Arbeitszeit von 2,5 h pro Evidenztabelle, so benötigte die Leitliniengruppe alleine für diesen methodischen Arbeitsschritt eine Gesamtstundenzahl von 830 h. Weiterhin mussten zusätzlich alle methodischen Arbeitsschritte der Literaturrecherche und Literaturanalyse in einem gesonderten Leitlinienreport dokumentiert werden, welcher aktuell ein Volumen von über 800 Seiten umfasst (Leitlinienreport unter http://leitlinienprogramm-onkologie.de/).

Die Leitliniengruppe hatte sich entschlossen für zwei Hauptthemen mit diskussionsreichen Aspekten eine unabhängige Literaturrecherche und Bewertung von der Donau-Universität in Krems, Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie, durchführen zu lassen. Durch die externe und unabhängige wissenschaftliche Bewertung sollte verhindert werden, dass berufspolitische Interessengruppen die Therapieempfehlungen womöglich verzerren könnten. Es handelte sich um folgende Themen:

  1. 1.

    organerhaltende Radiotherapie/Radiochemotherapie beim muskelinvasiven Harnblasenkarzinom,

  2. 2.

    neoadjuvante/adjuvante Chemotherapie vor/nach radikaler Zystektomie beim muskelinvasiven Harnblasenkarzinom.

Die extern durchgeführte De-novo-Literaturrecherche dieser beiden Schlüsselfragen kostete insgesamt 65.000 € und machte >20 % des geförderten Gesamtbudgets aus. Auf der Homepage des Leitlinienprogramms Onkologie kann der vollständige Bericht der Donau-Universität Krems eingesehen werden (http://leitlinienprogramm-onkologie.de/).

Letztlich konnten aus den 65 Schlüsselfragen insgesamt 226 Empfehlungen und Statements in der S3-Leitlinie konsentiert werden. Dazu gibt es ausführliche Hintergrundtexte und ein detailliertes Literaturverzeichnis auf 400 Seiten (Langversion der S3-Leitlinie unter http://leitlinienprogramm-onkologie.de/).

Zahlen und Fakten „hinter den Kulissen“

In unserem Vorantrag für die Erstellung einer S3-Leitlinie mit 65 Schlüsselfragen wurde bereits ein Zeitraum von 3,5 Jahren mit 4 Konsensuskonferenzen und ein Gesamtbudget von 400.000 € kalkuliert. Die Finanzplanung im Vorantrag wurde jedoch von der Krebshilfe nicht bewilligt und auf ein Gesamtfördervolumen von 289.000 € für 2,5 Jahre zurückgestuft. Nach Fertigstellung der S3-Leitlinie wurde aber tatsächlich ein Zeitraum von 3,5 Jahren mit 4 Konsensuskonferenzen und ein Gesamtbudget von 480.000 € benötigt.

Durch die aufwendigen Formalisierungsprozeduren der S3-Leitlinie inklusive systematische Literaturrecherchen, Literaturauswahl, Erstellung von Evidenztabellen, Leitlinienreport, inhaltliche und formale S3-Textbearbeitung, Durchführung von zahlreichen Telefonkonferenzen, Vorbereitung von Konsensuskonferenzen war die Personalplanung gänzlich unterfinanziert. Vorgesehen waren ursprünglich eine halbe Stelle für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter und eine Sekretariatsstelle für 2,5 Jahre. Dem gegenüber erwartet das Leitlinienprogramm von allen S3-Mitgliedern eine ehrenamtliche, aber qualitativ hochwertige Tätigkeit und die eigenständige Bearbeitung und Zuordnung der Literaturrecherchen nach dem AWMF-Regelwerk sowie die Erstellung von Evidenztabellen. Dieser Anspruch geht an der Wirklichkeit eines praktizierenden Mediziners und medizinischen Mitarbeiters komplett vorbei. Der Leser erhält einen kleinen Einblick im S3-Management wenn er nur die Anzahl an Telefonaten und den E‑Mail-Verkehr der Leitlinienkoordinatoren betrachtet: Innerhalb von 3 Jahren wurden über 7000 Telefonate und 16.000 E‑Mail-Nachrichten getätigt. Um den qualitativ hohen Anspruch des S3-Regelwerks gerecht zu werden, waren wir gezwungen mehr Personal aufzustocken, um alle S3-Mitglieder maximal unterstützen zu können und letztlich den S3-Entwicklungsprozess zeitlich einzuhalten. Dies gelang nur durch eine alleinige Querfinanzierung der Urologischen Klinik der Technischen Universität München mit zusätzlichen Personalkosten von über 140.000 €.

Ein weiteres Problem zeigte sich bei der Finanzierung der Reisekosten der S3-Mitglieder. Die Reisekosten wurden mit max. 200 € pro Konsensuskonferenz veranschlagt. Leider mussten viele Mitglieder Ihre nicht gedeckten Zusatzkosten aus Ihrem eigenen Privatbudget finanzieren. Auch die zusätzlichen Kosten für ein gemeinsames Abendessen bei 2‑tägigen Konsensuskonferenzen wurden nicht akzeptiert. An dieser Stelle möchten wir uns bei der Deutschen Gesellschaft für Urologie e. V. bedanken, die zusätzliche Reisekosten und Aufwendungen bei den Konsensuskonferenzen mit einem Betrag von 22.000 € mitfinanzierte.

Die S3-Leitlinienkoordinatoren möchten an dieser Stelle bewusst kritisch und provokativ die Erstellung von Leitlinien nach dem derzeitigen Regelwerk reflektieren. Eine vollständig unterfinanzierte Förderung verbunden mit dem Anspruch an eine hochqualitative Arbeit von S3-Mitgliedern auf der Basis von ehrenamtlicher Tätigkeit kann nicht die Zukunft von weiteren S3-Leitlinien sein. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass S3-Leitlinien die Grundlage für politische Entscheidungsprozesse wie der Einführung von Qualitätsindikatoren oder Disease-Management-Programmen darstellen.

Neue Wege zur S3-Leitlinie

S3-Leitlinien sind wichtig und notwendig! Sie sind der Baustein für ein evidenz- und konsensbasiertes Vorgehen in Diagnose, Therapie und Nachsorge von Blasenkarzinompatienten. Allerdings müssen wir uns ernsthaft fragen, ob es nicht Instrumente gibt, um das Ergebnis einer Leitlinie zeiteffektiver und kostengünstiger zu erzielen, zumal im Leitlinienprogramm spätestens nach 3–5 Jahren eine intensive Überarbeitung gefordert wird. Eine Lösungsmöglichkeit wäre, die aufwendigen Literaturrecherchen mit den zahlreichen Evidenztabellen nur auf systematische Reviews und Metanalysen zu beschränken.

In England werden den S3-Leitlinien vergleichbare Instrumente politisch deutlich stärker gewichtet und finanziell gut gefördert. Sie werden von einer Regierungsbehörde, dem „National Institute of Clinical Excellence“ (NICE), an professionelle, unabhängige Expertengruppen und Methodiker in Auftrag gegeben und umfänglich finanziert. Die Niederlande gaben bereits ein mit dem AWMF-Prozess vergleichbares Regelwerk auf und adaptierten die NICE-Leitlinie an die niederländischen Bedingungen.

Zusammenfassend sollte das Regelwerk für die deutschen S3-Leitlinien vollständig und grundsätzlich neu überdacht werden. Unsere Forderung ist entsprechend der NICE-Guidelines eine Förderung und Einrichtung von professionellen unabhängigen Expertengruppen und Methodikern, die im Austausch mit interdisziplinären Fachgruppen eine S3-Leitlinie entwickeln können. Leitlinienarbeit als Freizeitbeschäftigung und Querfinanzierung durch individuelle Klinikbudgets geht an der Wirklichkeit der Menschen, die dies leisten sollen, ebenso wie an ökonomischen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen gänzlich vorbei.