Die häufigen urologischen Tumorerkrankungen betreffen überwiegend Patienten im hohen Lebensalter [1]. Nur jeder 4. Patient mit einem Harnblasenkarzinom ist jünger als 65 Jahre. Noch ausgeprägter ist das Überwiegen höherer Altersgruppen beim Prostatakarzinom [1]. Bei den betroffenen Patienten ist das Vorliegen von chronischen Begleiterkrankungen sehr häufig [2]. Damit ist eine Reihe von Problemen und Besonderheiten verbunden, darunter ein erhöhtes Risiko von Nebenwirkungen, zusätzliche Kosten, eine verminderte Lebensqualität und eine höhere Sterblichkeit [2]. Besonders beim Prostatakarzinom kann eine durch Begleiterkrankungen verkürzte Lebenserwartung die Chance vermindern, von einer frühen Erkennung und Behandlung der Tumorerkrankung zu profitieren [3]. Gegenwärtig gibt es trotz einer Vielzahl von verfügbaren Möglichkeiten zur Messung der Komorbidität in der Onkologie bisher keinen Konsens über das beste Instrument [2, 3, 4].

Im höheren Alter (ab dem 70. Lebensjahr) wird bei Patienten mit Prostatakarzinom von der „International Society of Geriatric Oncology“ ein Screening mit dem Geriatrics-8- (G8-)Screeninginstrument empfohlen [5]. Bei diesem Instrument werden 8 Parameter (Nahrungsaufnahme, Gewichtsverlust, Mobilität, Demenz oder Depression, Body-Mass-Index, Einnahme von mehr als drei verschreibungspflichtigen Medikamenten, Selbsteinschätzung des Gesundheitszustands und Alter) untersucht und mit Punkten bewertet, wobei manche Domänen bis zu drei, manche bis zu zwei und eine bis zu einen Punkt erhalten kann [5]. Der maximal erreichbare Wert liegt bei 17 Punkten. Patienten mit ≥14 Punkten gelten als gesund. Bei einem niedrigeren Wert wird ein umfassendes geriatrisches Assessment („comprehensive geriatric assessment“, CGA) empfohlen [5]. Darunter wird eine multidisziplinäre Beurteilung des funktionellen, psychologischen, kognitiven, sozialen und Ernährungszustands sowie der Komorbidität verstanden [6]. Beurteilt werden dabei neben der Komorbidität mittels dem „Cumulative Illness Score Rating-Geriatrics“ (CISR-G) der Grad der Abhängigkeit, der Ernährungszustand und neurologische und psychiatrische Probleme und die Reversibilität der gesundheitlichen Beeinträchtigungen [5]. Ziel des geriatrischen Assessments ist die Erfassung komplexer Zusammenhänge, die sich durch einzelne Parameter und die Routineanamnese nicht adäquat erfassen lassen [7].

Beim CISR-G werden 13 Parameter beurteilt und in fünf Schweregrade (0=kein Problem bis 4=extrem schweres Problem) unterteilt [8, 9]. Basierend auf dem Ergebnis dieses Assessments werden die geriatrischen Patienten in die drei Gruppen „fit“ (fit), „vulnerable“ (bedroht) und „frail“ (gebrechlich) unterteilt [5]. Während die fitten geriatrischen Tumorpatienten und die bedrohten Patienten – letztere nach geriatrischer Intervention – die Standardbehandlung erhalten sollen, wird für gebrechliche Patienten eine adaptierte bzw. eine modifizierte Therapie empfohlen [5]. Obwohl diese Empfehlungen plausibel erscheinen, bleibt unklar, welche konkreten Therapiemodifikationen aus ihnen abgeleitet werden sollen. Beim Prostatakarzinom wird bei gebrechlichen geriatrischen Patienten nur in Ausnahmefällen eine kurative Therapie indiziert sein. Ob jedoch diese Entscheidung mit Hilfe eines aufwendigen geriatrischen Assessment tatsächlich besser getroffen werden kann, sollte durch Daten untermauert werden.

Die aktuelle Prostatakarzinomleitlinie der „European Association of Urology“ (EAU) bezeichnet das CISR-G als bestes Instrument zu Vorhersage der konkurrierenden Sterblichkeit beim Prostatakarzinom [9]. Zurückhaltender ist das Statement der EAU-Leitlinie zum muskelinvasiven und metastasierten Blasenkarzinom. Sie erwähnt zwar das geriatrische Assessment, empfiehlt jedoch die Nutzung des Charlson-Scores zur Therapieplanung und erklärt ein speziell für Blasenkarzinompatienten entwickeltes Instrument für wünschenswert [10]. In der S3-Leitlinie zur Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms wird ein geriatrisches Assessment vor Einleitung einer Therapie bei multimorbiden Patienten über 70 Jahren für hilfreich erklärt, ohne jedoch detaillierte Empfehlungen für seine Durchführung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu geben [11]. Begrenzt ist die Datenlage über den Nutzen eines geriatrischen Assessments auch bei den anderen urologischen Tumoren. In einer großen Patientenstichprobe von Patienten, die sich einer Operation wegen eines urologischen Tumors unterzogen, war ein hoher Frailty-Index („Canadian Study of Health and Aging Frailty Index“) mit einer erhöhten Komplikationsrate und einer höheren 30-Tage-Sterblichkeit verbunden [12]. Dabei war der Frailty-Index ein besserer Prädiktor als der Charlson-Score, jedoch weniger gut als die „American-Society-of-Anesthesiologists“-(ASA-)Risikoklasse [12]. Die besten Vorhersagen waren mit einer Kombination von ASA-Klasse und Frailty-Index möglich [12]. Interessanterweise war die Vorhersagekraft des Frailty-Index bei der 30-Tage-Sterblichkeit der radikalen Zystektomie, einem Eingriff mit besonders hoher Komplikationsrate, schlecht [12].

Wünschenswert wäre eine einfach anwendbare reproduzierbare Klassifikation, die wichtige Endpunkte möglichst gut vorhersagen kann

Während ein geriatrisches Assessments in auf die Betreuung älterer Patienten spezialisierten Kliniken tendenziell bessere Behandlungsergebnisse ermöglicht [7], ist sein Wert in der operativen Medizin noch nicht abschließend geklärt. Eine komplette Untersuchung kann viel Zeit in Anspruch nehmen, was in der Routine einer operativen Klinik problematisch ist [4, 13, 14]. Einem solchen Aufwand muss ein entsprechender Nutzen für den Patienten gegenüberstehen. Wünschenswert wäre eine einfach anwendbare reproduzierbare Klassifikation, die wichtige Endpunkte (Komplikationsrate, funktionelle Verschlechterung, perioperative Mortalität, längerfristige konkurrierende Mortalität) möglichst gut vorhersagen kann. Es existieren eine Vielzahl von Werkzeugen wie die Instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens („instrumental activities of daily living“, IADL), die eine relativ schnelle Orientierung ermöglichen und mit der perioperativen Komplikationsrate, der Entlassung in eine Pflegeeinrichtung und der längerfristigen Sterblichkeit assoziiert sind [13, 15, 16, 17].

Klinisch bedeutsam wäre die Identifikation modifizierbarer Faktoren, welche eine erfolgversprechende Intervention zur Verbesserung des Therapieergebnisses, der Therapietoleranz oder des längerfristigen Überlebens möglich machen würde. Der Ernährungszustand [18, 19, 20], das postoperative Delirrisiko [14] und die psychosoziale Situation und Lebensqualität [21] sind solche möglicherweise modifizierbare Faktoren. In interventionellen Studien sollte geprüft werden, ob eine systematische Erfassung und therapeutische Beeinflussung dieser Faktoren bei urologischen Patienten machbar ist und inwieweit sie tatsächlich die Therapieergebnisse verbessern kann.

M. Fröhner

H. Rübben