Zusammenfassung
Michel de Montaigne (1533–1592) war der bedeutendste Vertreter des französischen Humanismus des 16. Jahrhunderts. Fragmentarisch verstreut in seinen „Essais“ und in chronologischer Folge im Tagebuch seiner Bäderreise nach Italien schildert er ausführlich sein ihn vom 46. Lebensjahr bis zum Tode begleitendes Nierensteinleiden. Ein zusätzliches Gewicht erhält dieses urologische Selbstzeugnis durch die außergewöhnliche Persönlichkeit des Patienten, der seine Urolithiasis und deren Auswirkungen auf sein eigenes Leben nicht nur aus subjektiver Sicht reflektiert, sondern seine Krankheitserfahrung zum Ausgangspunkt kritischer Überlegungen zu Stellenwert und Grenzen der medizinischen Möglichkeiten seiner Epoche macht. In klarer Erkenntnis der Schwierigkeit ärztlicher Praxis postuliert er eine erfahrungsgestützte rationale Herangehensweise. Besonders interessant ist Montaignes Haltung zu den Ärzten seiner Zeit. Er sieht den Nutzen einer Arztkonsultation für sich und generell für den Patienten nur selten als gegeben an, lastet dies – trotz z. T. heftiger antiärztlicher Invektiven – aber weniger den Ärzten selbst an als dem zwar rational strukturierten, aber noch weitgehend spekulativen, hippokratisch-galenisch geprägten medizinischem Lehrgebäude.
Abstract
Michel de Montaigne (1533–1592) was the most important representative of French Humanism in the sixteenth century. Fragmentarily scattered throughout his “essais” and in chronological order in the diary of his spa journeys to Italy, he extensively describes his suffering from kidney stones, which accompanied him from the age of 45 years up to his death. This urological self-report achieves additional weight due to the extraordinary personality of the patient, who reflects on his urolithiasis and the effect on his own life not only from a subjective viewpoint but also makes his disease experience a starting point for critical thoughts on the value and limitations of the medical possibilities in his epoch. With a clear knowledge of the difficulty of medical practice, he postulates a rational approach supported by experience. Particularly interesting is Montaigne’s stance towards contemporary physicians. He sees the benefits of physician consultations for himself and for patients generally, as being rarely substantiated but, despite sometimes strong antimedical invectives, accuses the doctors themselves less than the, although rationally structured but still mostly speculative, medical teaching structure influenced by Hippocrates and Galenism.
Notes
Alle Zitate aus den Essais beziehen sich im Folgenden auf die dreibändige btb-Taschenbuch-Ausgabe der ersten modernen Gesamtübersetzung in die deutsche Sprache von Hans Stilett [18] Dabei wird das jeweilige Buch mit römischen, das Kapitel mit arabischen Ziffern bezeichnet: z. B. II, 37,646 = Zweites Buch, Kapitel 37, Seite 646.
Ohnehin ist die Definition eines „Philosophen“ in Frankreich auch heute eine etwas andere als z. B. im deutschen Sprachraum. So wird ein Intellektueller, der sich publizistisch im öffentlichen Diskurs über gesellschaftlich-politische Probleme engagiert, seit dem 18. Jahrhundert oft als „philosophe“ bezeichnet. Für Montaigne passt wohl der Begriff des philosophischen Schriftstellers, des „écrivain philosophe“, am besten.
Inschrift an der Wand seines „cabinet“ in lateinischer Sprache. In [20]: Eigene Übersetzung nach der dort publizierten französischen Version.
Montaigne schildert diesen Vorfall in seinem Essai „Über das Üben“ (II, 6, 68 ff) und interpretiert ihn als eine „Einübung zum Tod“.
Montaigne (wie auch schon sein Vater) war von 1582 bis 1585 Bürgermeister von Bordeaux und hatte ex officio möglicherweise Gelegenheit, solche Prüfungen selbst abzunehmen oder daran teilzunehmen. Auch diese Erfahrungen könnten in sein Urteil über die Chirurgie eingeflossen sein [4].
Diese werden auch in einem kurzen Beitrag von F. Corcos [5] diskutiert.
Während für einige spezielle Formen der Urolithiasis (z. B. Cystin-Lithiasis) eine monogene Erblichkeit angenommen wird, spricht man bei der familiären Disposition zur idiopathischen Lithiasis (ebenso wie bei der im Kontext von Hyperurikämie und Gicht auftretenden Harnsäuresteindiathese) von einem polygenen Erbgang, d. h. die Ausprägung der Erkrankung wird durch mehrere Gene bestimmt, die dabei jeweils in unterschiedlichem Ausmaß beteiligt sein können [9].
Diese Theorie kommt in einem wesentlichen Teilaspekt der aktuellen Vorstellung von der Lithogenese durch Überschreitung der Löslichkeit lithogener Substanzen im Urin nahe.
s. „Über Lüfte, Gewässer und Örtlichkeiten“ (Kap. 9) des Corpus Hippocraticum, wo bei der Darstellung der Blasensteingenese Menschen „mit hitzigem Leib“ als besonders betroffen beschrieben werden [6].
“…von den damit Geschlagenen [scil. dem Steinleiden] sind nur wenige besser dran … um den Preis, eine lästige Diät einhalten zu müssen“ (III,13,481).
“ … dass es gesünder ist, wenn man möglichst langsam und wenig auf einmal isst …“ (III,13,502).
Die erste Hälfte des Tagebuchs wurde vom Sekretär Montaignes geführt. Er verwendet dabei entweder die erste Person Plural („wir“) oder die dritte Person Singular („Herr Montaigne“). Die zweite Hälfte schreibt bzw. diktiert Montaigne selbst in der Ich-Form, zunächst auf Französisch, dann auf Italienisch und zuletzt wieder in seiner Muttersprache. Die Textverweise („TB“) zum Reisetagebuch beziehen sich auf „Michel de Montaigne – Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland“ [19].
Vor dieser Reise hatte Montaigne bereits Kuren in verschiedenen Bädern in Frankreich – z. B. in Eaux Chaudes und Banières (Pyrenäen) unternommen.
Stein … außen gelblich, innen weißlich“ (TB, p.96), „kleiner roter Stein“ (TB, p.268), „roter Grieß“ (TB, p.286), „ Sand wie kleine Hirsekörner fest und rot“ (TB, p. 290), „Sand in Hirseform, fest mit roter Oberfläche, innen grau“ (TB, p. 291). Auch dies weist wieder darauf hin, dass es sich um Harnsäuresteine gehandelt hat, die in der Regel gelblich- bis rot-braun sind.
Nach aktuellen Angaben, online: http://www.bagnidiluccaterme.info/de/argomento/le-terme.html. (Zugriff 24.04.2015) Heute werden die heißen Quellen von Lucca eher für Krankheiten des rheumatischen Formenkreises empfohlen.
Harnsäuresteine sind prinzipiell durch Herbeiführung eines alkalischen Urin-pH auflösbar. Diesbezüglich geeignete Mineralwässer können dies begünstigen. Ob die im 16. Jahrhundert getrunkenen zahlreichen verschiedenen Quellen von Lucca hierfür geeignet waren, muss offen bleiben.
Im italienischen Originaltext heißt es: „grande e lunga come una nocciola di pino, ma all‘un capo grossa a pari d‘una fava: avendo a dire il vero forma d‘ un cazzo affatto“ (der italienische Text ist verfügbar in [17]. Die oben zitierte Übersetzung von Stilett forciert also etwas die von Montaigne gebrauchte Penis-Metapher: eigentlich: pino = Pinie, fava = Saubohne.
„… Plinius sagt, es gebe nur drei Arten von Krankheiten, zu deren Vermeidung man das Recht habe, sich zu töten; die quälendste von allen seien Nierensteine, (so in der Übers. von H. Stilett; im Originaltext aber: „pierre à la vessie, also Blasenstein!) wenn es zu einem Urinstau komme“. Quelle Plinius: Naturalis Historia [24].
Pierre Villey, der bedeutendste Herausgeber der Essais in den 1920er Jahren, führt die Werke Parés in seinem Katalog der Werke auf, die Montaigne sehr wahrscheinlich in seiner eigenen Bibliothek zu Verfügung hatte [14].
H. Friedrich zur Beziehung Montaignes zur neuzeitlichen Naturwissenschaft in: [8].
„Ich studiere mich mehr als irgend etwas andres – das ist meine Metaphysik, das ist meine Physik. In meiner Unwissenheit über das große Ganze lasse ich mich für mein Teil lässig vom allgemeinen Weltgesetz führen. Es wird mich genug von sich wissen lassen, wenn ich es fühle.“ (III, 13, 452).
Der „Grundriss der pyrrhonischen Skepsis“ des Sextus Empiricus in einer Edition von 1569 stand in Montaignes Bibliothek [14].
Nach Diogenes Laertius [1] starb Epikur an den Folgen einer Harnsperre: „Sein Tod aber sei herbeigeführt worden durch Urinversperrung infolge eines Steinleidens nach vierzehntägiger Krankheit.“
Étienne Pasquier (1529–1615), frz. Jurist, Literat und Historiker, war Montaigne im Jahre 1583 persönlich begegnet. Mehr unter http://www.gert-pinkernell.de/romanistikstudium/Internet1.htm (Zugriff 18.08.2014).
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Interessenkonflikt. F.J. Marx gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.
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Marx, F. Michel de Montaigne (1533–1592). Urologe 54, 1450–1460 (2015). https://doi.org/10.1007/s00120-015-3861-9
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Schlüsselwörter
- Geschichte der Urologie
- Historisches Urolithiasis–Selbstzeugnis
- Arzt-Patienten-Beziehung
- Michel de Montaigne
- Medizin der frühen Neuzeit