Die Entwicklung der Neurologie im geteilten Deutschland verlief nach 1945 äußerst divergent: Während sich in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) spätestens ab Anfang der 1960er-Jahre klare Autonomiebestrebungen und eine zunehmende Abgrenzung gegenüber der Psychiatrie zeigen, blieben in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) beide Fächer, nicht zuletzt aus ideologischen Gründen, eng miteinander verbunden [14]. Erst Anfang der 1980er-Jahre führte die zunehmende Profilierung und Spezialisierung der Neurologie zur Sektionsbildung in der Fachgesellschaft für Psychiatrie und Neurologie und so zur Emanzipation des Fachs [18]. Eigenständige Kliniken etablierten sich zumeist erst nach 1990 [14].

Diese Entwicklungsprozesse sind im Gegensatz zur Psychiatrie mit laufenden Projekten zur Psychiatriehistoriografie in der DDR [23], abgeschlossenem Forschungsauftrag der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) [13] sowie einer Reihe von Publikationen [28, 34, 43, 44] bisher kaum erforscht. Die vorliegende Arbeit gibt einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Neurologie in der DDR und möchte damit die historisch-kritische Aufarbeitung des Fachgebiets anregen.

Methoden

Es erfolgte eine systematische Literaturrecherche (Abb. 1) in den Datenbanken Pubmed, Web of Science und Psyndex und der Suchmaschine Google Scholar, um sowohl Zeitschriftenartikel als auch Buchbeiträge für den Zeitraum 1991 bis 2021 zu detektieren.

Abb. 1
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Flussdiagramm zum Vorgehen bei der systematischen Literaturrecherche

Die Suchstrategie umfasste die Begriffe neurolog* AND GDR, neurolog* AND east germany, neurophysiolog* AND GDR, neurophysiolog* AND east germany, neuropsycholog* AND GDR und neuropsycholog* AND east germany. In Psyndex als deutschsprachiger Datenbank wurde analog nach den deutschen Begriffen gesucht. Nach Ausschluss von Duplikaten, unabhängigem Titelscreening und nachfolgender Auswertung wurden Titel eingeschlossen, die von mindestens zwei Autoren ausgewählt worden waren. Da sich zeigte, dass einige den Autoren geläufige Beiträge nicht erfasst werden konnten, wurden zusätzlich alle bekannten und nicht erfassten Titel hinzugefügt (Abb. 1 andere Quellen) und dem weiteren Screeningprozess unterzogen. Die ausgewählten Beiträge wurden folgenden Kategorien zugeordnet; Mehrfacheinordnungen waren möglich:

  1. 1.

    Institutionen

  2. 2.

    Personen

  3. 3.

    Diagnostik und Therapie

  4. 4.

    Fächerdifferenzierung

  5. 5.

    Fachgesellschaften und Fachzeitschriften

  6. 6.

    Politische und ideologische Einflussnahme

Für die Zuordnung war ein unabhängiges Rating durch mehr als zwei Autoren und die Bestätigung in der nachfolgenden Diskussion erforderlich.

Ergebnisse

Es wurden 44 Publikationen eingeschlossen (Tab. 1):

Tab. 1 Veröffentlichungen zur Neurologie in der DDR (1991–2021)

Diskussion

Die systematische Literaturrecherche für den 30-jährigen Zeitraum ergab mit 44 Beiträgen eine geringe Zahl von Veröffentlichungen zur Neurologie in der DDR, die sich inhaltlich zudem teilweise stark überschneiden. Damit wurde die Vorannahme bestätigt, dass ein nationaler sowie vergleichend internationaler medizinhistorischer Forschungsbedarf besteht. Zunächst zeigt sich, dass das Thema erst verstärkt ab 1999 aufgegriffen wurde, was vermutlich zum einen an dem zeitlichen Abstand, der zur Historisierung und damit differenzierten Geschichtsschreibung notwendig ist, zum anderen an der Verfügbarkeit von Archivalien, die aufgrund von Schutzbestimmungen erst in jüngster Zeit zugänglich geworden sind, liegt.

Die 17 Arbeiten zu Institutionen weisen abgesehen von zwei Übersichtsarbeiten zu verschiedenen Einrichtungen [30, 51] die regionalen Schwerpunkte Rostock (5) [4, 27, 31,32,33], Greifswald (4) [2,3,4, 42] sowie Leipzig (6 Kapitel [52,53,54,55,56,57] in einer Buchpublikation [58]) auf. In Rostock finden sich mit der Schaffung des ersten separaten neurologischen Lehrstuhls (1958; [32]) und in Leipzig mit der Einrichtung der DDR-weit einzigen rein neurologischen Universitätsklinik (1965; [53, 57]) Hinweise für eine beginnende frühe Eigenständigkeit, die auch zu einer schärferen fachlichen Abgrenzung gegenüber der Psychiatrie führte. In Greifswald hingegen bestand durchgängig eine verbundene Klinik [2]. Die regionale Aufarbeitung kann durch das wissenschaftshistorische Interesse der jeweiligen Hochschuleinrichtungen erklärt werden, was sich auch auf die Kategorien Personen, Diagnostik und Therapie sowie Fächerdifferenzierung auswirkt.

Bei den 23 Beiträgen zu einzelnen Personen finden sich neben Arbeiten zu mehreren Personen [25, 30, 36] eine systematische Darstellung der neurologischen Fachvertreter der Universität Leipzig bis 1985 [53, 55,56,57] und neun Veröffentlichungen zu den Rostocker Professoren Franz Günther von Stockert [27, 31], Gerhard Göllnitz [20, 21, 33] und Johannes Sayk [7, 8, 11, 35, 41]. Die intensive Beschäftigung mit Johannes Sayk basiert auf der Bedeutung seiner Forschungen zur Liquorzytologie und deren wissenschaftlicher Anerkennung auf nationaler und internationaler Ebene. Bei Franz Günther von Stockert spielt die politische Brisanz, bei Gerhard Göllnitz die Begründung der Kinderneuropsychiatrie im Rahmen der Fächerdifferenzierung eine Rolle. Darüber hinaus fanden sich Beiträge zu Bernhard Schwarz [5, 6], Rudolf Lemke [19], Kurt Moser [1], Detlef Müller [10] und Karl-Heinz Elsaesser [4].

Auch bei den 11 Aufsätzen der Kategorie Diagnostik und Therapie beschäftigen sich allein fünf Arbeiten mit der Liquordiagnostik [7, 8, 11, 35, 39], bei den Beiträgen zur Epileptologie [38] und der Neurotraumatologie [5, 6] liegt der Fokus auf der Subspezialisierung. Dazu fand sich für Leipzig mit der Zentralstelle für Morbus Wilson ein Alleinstellungsmerkmal [9, 53].

Von insgesamt 24 Veröffentlichungen der Kategorie Fächerdifferenzierung fokussiert eine ganze Reihe auf Abgrenzungstendenzen zwischen Neurologie und Psychiatrie [2, 3, 12, 27, 32, 42, 55, 57]. Neben der Differenzierung der Kinderneuropsychiatrie bzw. Neuropädiatrie [19,20,21, 33, 45] beschäftigen sich einzelne Arbeiten mit speziellen Subspezialisierungen wie der Epileptologie [38], der Abgrenzung zur Neurotraumatologie [5, 6] oder Neurochirurgie [40].

In der Kategorie Fachgesellschaften und Fachzeitschriften finden sich Arbeiten über die einzige Fachzeitschrift, die zugleich als Mitteilungsorgan der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR fungierte, wodurch von einer engen Verzahnung zwischen der Fachgesellschaft und der Schriftleitung der Zeitschrift ausgegangen werden muss. Die Fachzeitschrift wurde über den gesamten Zeitraum des Bestehens der DDR untersucht [46], deren Beiträge analysiert [48] und ihre Entstehungsgeschichte im gesellschaftspolitischen Kontext aufgearbeitet, wobei bisher auf die psychiatrischen und weniger auf die neurologischen Inhalte eingegangen wurde [47]. In den insgesamt 13 Beiträgen werden darüber hinaus verschiedene Teilaspekte der Gründungsgeschichte der Fachgesellschaft, ihre Fortentwicklung mit Bildung einer eigenständigen Sektion Neurologie [24, 29, 50], Konflikte in den Überschneidungsbereichen zur Psychiatrie und weiteren Bereichen [12], Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden deutschen Fachgesellschaften [14, 16, 17] wie auch die Entwicklung von Regionalgesellschaften [26], u. a. im Vergleich der Ost- mit der Westberliner Fachgesellschaft [49], erörtert.

In 17 Arbeiten spielen politische Aspekte eine wichtige Rolle. Mit der zunehmenden politisch-ideologischen Einflussnahme der SED-Verantwortlichen (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) wurden die gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und legislativen Rahmenbedingungen für zentralistisch organisierte Strukturen im Gesundheits- [4, 24,25,26, 29] und Hochschulwesen mit der entsprechenden Kaderpolitik [2, 4, 25, 27, 30,31,32] geschaffen. Als Mittel der Beeinflussung finden sich Zensur sowie das ideologiegeleitete Präferieren wissenschaftlicher Inhalte [37, 46,47,48]. Ein wichtiger Aspekt der ideologischen Einflussnahme zeigt sich in dem auch spezifisch auf die Neurologie zielenden [16] Versuch der Etablierung des „Pawlowismus“, der in der DDR vor allem in den 1950er-Jahren propagiert wurde und als Versuch zu verstehen ist, die Forschung stärker am Vorbild der sowjetischen Wissenschaften zu orientieren [15]. Unter den Arbeiten, die sich mit der Förderung bzw. Verhinderung eines Wissenschaftsaustauschs auf nationaler und internationaler Ebene auseinandersetzen [16, 17, 26, 46, 48], sticht eine durch einen Perspektivwechsel heraus, indem sie das Bestreben politisch Verantwortlicher in der BRD untersucht, die Aufnahme der DDR-Gesellschaft in die World Federation of Neurology zu unterbinden und die mit einer solchen Mitgliedschaft verbundene internationale Anerkennung zu erschweren [17].

Dass die bei der Literaturrecherche identifizierten Publikationen bis auf drei englischsprachige Arbeiten [11, 35, 45] in deutscher Sprache veröffentlicht wurden, unterstreicht das bisher eher nationale Interesse an der historischen Forschung zur Neurologie in der DDR. Vergleichende Einordnungen zu Entwicklungen in der BRD, auf internationaler Ebene und insbesondere gegenüber anderen sozialistischen Staaten fehlen weitgehend. Systematische Untersuchungen, etwa analog dem Forschungsprojekt „Neurologie in der NS-Zeit“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) [22], fehlen vollständig.

Methodenkritisch ist anzumerken, dass die initial gewählte systematische Recherche Schwächen bei der umfassenden Identifikation der Veröffentlichungen aufwies, was eine Anpassung über die Ergänzung mit anderen Quellen erforderte. Dabei ist nicht auszuschließen, dass einzelne Beiträge nicht erfasst wurden, was die Gesamtaussage jedoch nur wenig beeinflussen dürfte.

Fazit für die Praxis

Auch wenn einige Arbeiten zu verschiedenen Teilaspekten vorliegen, fehlt bisher die spezifische historische Aufarbeitung des Themas Neurologie in der DDR. Für eine systematische Herangehensweise sollten neben der gezielten Archivarbeit und der Analyse der Primärliteratur auch Zeitzeugen interviewt werden. Inhaltlich erscheinen Themen wie der Bezug zum DDR-Gesundheitssystem und zu den Strukturen des SED-Staates, lokale und regionale inhaltliche Schwerpunktbildungen sowie der nationale und internationale Wissenschaftsaustausch lohnende und spannende Forschungsfelder.