FormalPara Leserbrief zu

Dreßing H, Meyer-Lindenberg A (2022) Künftige Aufgaben der psychiatrischen Begutachtung bei „Long-COVID“. Nervenarzt 93:309–312. https://doi.org/10.1007/s00115-021-01142-9

Sehr geehrte Autoren, vielen Dank, dass Sie sich des schwierigen Themas der psychiatrischen Begutachtung von Long-COVID-Syndromen angenommen haben. Nach Ihrer Empfehlung sollen kognitive Störungen, die in zeitlichem Zusammenhang mit einer COVID-Infektion auftreten, als Folge dieser Infektion eingeschätzt werden. Ähnlich soll dies auch für posttraumatische Belastungsstörungen und „Fatigue“-Syndrome gelten, wobei bei letzteren eine besonders sorgfältige Einzelfallanalyse mit einer Persönlichkeitsdiagnostik und Prüfung von Aggravationstendenzen erfolgen soll.

Das ist aus gutachterlicher Sicht natürlich unbefriedigend, da ein zeitlicher Zusammenhang eben kein kausaler sein muss, auch wenn es für die Probanden verständlicherweise naheliegt, einen solchen Zusammenhang zu behaupten. Immer wieder gibt es auch Patienten, die zwar von einer COVID-Erkrankung berichten, aber kein Testergebnis vorweisen können, z. B., weil sie sich nicht haben testen lassen. Wie ist es zu bewerten, wenn sich auch keine spezifischen Antikörper im Serum nachweisen lassen?

Vor dem Hintergrund, dass als pathophysiologisches Korrelat eine Viruspersistenz, ein autoinflammatorischer/autoimmunologischer Prozess und eine Hyperkoagulabilität mit Endotheldysfunktion im Gehirn diskutiert werden, stellt sich die Frage, ob sich nicht doch somatische Befunde erheben lassen, die die Sicherheit einer Kausalitätsbeurteilung erhöhen können? Dabei wäre daran zu denken, einen Antikörpernachweis im Serum und Liquor und vielleicht sogar einen Antigennachweis zu fordern, ggf. auch ein cMRT. Ist dies nicht sogar geboten angesichts einer kürzlich in JAMA Internal Medicine publizierten Studie, in der sich zeigte, dass Menschen ohne Antikörper mehr Krankheitssymptome angaben als diejenigen mit einer nachweisbaren COVID-Erkrankung [1]? Ist das nicht ein Hinweis darauf, dass die Erwartungshaltung neben anderen psychogenen Faktoren die Ausprägung kognitiver oder somatoformer Störungen wesentlich prägt?