Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) stellt einen Meilenstein der jüngeren internationalen Rechtsgeschichte dar, weil sie erstmals umfassend und detailliert klarstellt, dass Menschen mit Behinderungen in jeder Hinsicht die gleichen Rechte haben wie Menschen ohne Behinderung und dass die Gesellschaft alle zumutbaren Anstrengungen unternehmen muss, um den Betroffenen die Wahrnehmung ihrer Rechte durch den Abbau von Barrieren zu ermöglichen [1].

Die UN-BRK stellt einen Meilenstein der internationalen Rechtsgeschichte dar

Die UN-BRK ist seit 2009 auch in Deutschland geltendes Recht. Sie gilt auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen, unabhängig von deren sozialrechtlichen Status als Behinderte. Um der Bedeutung der UN-BRK für den Bereich von Psychiatrie und Psychotherapie gerecht zu werden, hat die DGPPN 2018 in einem Aktionsplan Ziele und Maßnahmen formuliert, mit denen sie sich selbst hinsichtlich der Umsetzung der UN-BRK in die Pflicht nimmt. Ziel ist es, die Umsetzung der Konvention zu fördern und durch eigene Beiträge zu unterstützen, um die Teilhabe zu verbessern und der nach wie vor verbreiteten Ausgrenzung der Betroffenen entgegenzuwirken.

In den letzten Jahren hat es national und international zu einem speziellen Aspekt der UN-BRK intensive und kontroverse Diskussionen gegeben, der von besonderer Bedeutung für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist. Die UN-BRK verbrieft in Artikel 12 das Recht von Menschen mit Behinderungen, überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden und in allen Lebensbereichen ihre Rechts- und Handlungsfähigkeit gleichberechtigt mit anderen zu genießen (Tab. 1).

Tab. 1 Artikel 12 UN-BRK

So müssen die Rechte, der Wille und die Präferenzen der betreffenden Person geachtet werden und es darf nicht zu Interessenkonflikten und missbräuchlicher Einflussnahme kommen. Alle Maßnahmen müssen verhältnismäßig und auf die Umstände der Person zugeschnitten sowie von möglichst kurzer Dauer sein und einer regelmäßigen Überprüfung durch eine unabhängige Behörde oder gerichtliche Stellen unterliegen.

Im Kontext der medizinischen Versorgung können Situationen auftreten, in denen der Betroffene selbst bei intensiver Unterstützung (Entscheidungsassistenz) nicht selbstbestimmt über eine Behandlungs- oder Schutzmaßnahme entscheiden kann. In solchen Situationen muss der vorausverfügte oder, wenn keine Vorausverfügung existiert, der mutmaßliche Wille des Betroffenen umgesetzt werden. Falls es auch auf einen mutmaßlichen Willen des Betroffenen keine konkreten Hinweise gibt, muss eine Entscheidung in seinem besten Interesse getroffen werden. Solche ersetzenden Entscheidungen trifft typischerweise ein unabhängiger Vertreter des Betroffenen, nämlich ein Bevollmächtigter oder ein Betreuer und nur in akuten Notfällen ein behandelnder Arzt. Die Umsetzung einer solchen Entscheidung muss, wann immer möglich, mit Zustimmung der betroffenen Person geschehen; Zwangsmaßnahmen gegen den natürlichen Willen der selbstbestimmungsunfähigen Person kommen nur als Ultima Ratio in Betracht.

Ohne die Möglichkeit solcher ersetzenden Entscheidungen wäre es in bestimmten Situationen allerdings nicht möglich, den Willen und die Präferenzen einer Person und damit auch ihr Recht auf Behandlung umzusetzen, welches durch die UN-BRK garantiert wird (Art. 5: Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung; Art. 9: Zugänglichkeit).

Im Jahr 2014 hat das Committee on the Rights of Persons with Disabilities der WHO einen Kommentar zur UN-BRK veröffentlicht (General Comment No. 1), der Artikel 12 in einer Weise interpretiert, die jegliche ersetzende Entscheidungsfindung ausschließt, da jeder Mensch zu jeder Zeit selbst entscheiden könne [2]. Damit wird die Möglichkeit bestritten, die Selbstbestimmungsfähigkeit könne in bestimmten Situationen eingeschränkt oder aufgehoben sein. Auf dieser Grundlage wäre die Durchführung von Behandlungs- oder Schutzmaßnahmen ohne explizite Zustimmung des Betroffenen (ggf. vorab durch eine Patientenverfügung) oder gegen seinen natürlichen Willen unter keinen Umständen möglich.

Konkret auf die Praxis bezogen würde dies z. B. bedeuten, dass Personen mit Demenz, die nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen, aber auch nicht bereit oder in der Lage, die Verwaltung ihrer Finanzen, den Abschluss eines Heimvertrages oder gesundheitliche Entscheidungen aktiv einem Betreuer zu übertragen, nicht geholfen werden könnte. Menschen, die als Folge einer schweren Depression suizidgefährdet sind, könnten nicht gegen ihren Willen in ein Krankenhaus eingewiesen werden. Dasselbe gilt für Menschen, die durch eine Enzephalitis, nach einem Schädel-Hirn-Trauma oder im Rahmen einer Intoxikation verwirrt sind oder sich bedroht fühlen und daher jede Hilfe ablehnen.

Klar ist: Es muss alles getan werden, um Zwang dadurch zu vermeiden, dass Patienten durch Assistenz zu selbstbestimmten Entscheidungen befähigt und Vorausverfügungen propagiert und unterstützt werden [3, 4]. Gleichzeitig ist aber ein völliger Verzicht auf ersetzende Entscheidungen ethisch wie auch medizinisch nicht zu rechtfertigen [5]. Denn ein solcher Verzicht würde das Grundrecht von Patienten auf Schutz und Behandlung verletzen und implizierte zudem die Ablehnung des Konzepts der Schuldunfähigkeit, was die Unmöglichkeit einer strafrechtlichen Exkulpation [6] und damit die Kriminalisierung aller psychisch kranken Straftäter [7] nach sich ziehen würde. Deshalb haben DGPPN sowie eine Vielzahl internationaler Stimmen klargestellt, dass sie der Interpretation des Artikel 12 UN-BRK durch den UN-Ausschuss nicht folgen [8,9,10].

Vereinzelt wird angenommen, die Interpretation von Art. 12 UN-BRK durch den UN-Fachausschuss sei rechtlich bindend und deshalb seien ersetzende Entscheidungen sowie das gesetzliche Betreuungssystem in Deutschland abzuschaffen [11]. Die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht haben hingegen mehrfach klargestellt, dass diese Sichtweise nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die UN-BRK den Rang eines Bundesgesetzes hat und damit ihre Interpretation für Deutschland dem Bundesverfassungsgericht und nicht einem UN-Ausschuss obliegt [2 BvR 309/15 vom 28.07.2018]. Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass insbesondere Artikel 12 kein grundsätzliches Verbot für Maßnahmen entnommen werden kann, die gegen den natürlichen Willen des Betroffenen vorgenommen werden und an eine krankheitsbedingt eingeschränkte Selbstbestimmungsfähigkeit anknüpfen. Eine Zwangsbehandlung könne demnach auch durch das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst gerechtfertigt sein. Der Staat sei nicht verpflichtet, untergebrachte Patienten aufgrund eines prinzipiellen Vorrangs der krankheitsbedingten Willensäußerung dem Schicksal der dauerhaften Freiheitsentziehung zu überlassen [2 BvR 882/09 vom 23.03.2011]. Der Staat habe nicht nur die Freiheitsrechte der Person zu achten, sondern in bestimmten Situationen auch einer Schutzpflicht nachzukommen [1 BvL 8/15 vom 26.07.2016]. Diese Schutzpflicht ermöglicht nicht nur, sondern erfordert in bestimmten Situationen die Durchsetzung einer Behandlungsmaßnahme gegen den natürlichen Willen einer Person, insbesondere, um deren Selbstbestimmungsfähigkeit wieder herzustellen. Dieser Positionierung des obersten deutschen Gerichts schließt sich auch die Bundesregierung, namentlich das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, in seiner Begründung zum Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 12.05.2021 an [12].

Wer sich also in der aktuellen Diskussion auf den General Comment zu Article 12 des UN-Ausschusses beruft, steht damit im Widerspruch zur Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts und der Bundesregierung.

Um die Umsetzung der Ziele der UN-BRK zu fördern, hat die DGPPN 2018 als federführende Fachgesellschaft mit einer Vielzahl anderer Akteure einschließlich Angehöriger und Betroffener die S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“ verfasst [13]. Ihre möglichst breite Implementierung, die derzeit in einem Projekt des Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesausschuss gefördert wird, soll helfen, das Recht von Patienten auf Behandlung umzusetzen und gleichzeitig jede Form von Zwang so weit als möglich zu vermeiden.

Die kategorische Ablehnung jeder Art ersetzender Entscheidungen hat auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für ihre sog. „QualityRights-Initiative“ (www.qualityrights.orgFootnote 1) übernommen, die sie ins Leben gerufen hat, um die in manchen Weltregionen bestehende mangelnde Umsetzung von Patientenrechten zu adressieren [14]. Mit Schulungen zu Menschen- und Behindertenrechten sollen Einstellungen und Praxis in der Versorgung weltweit verändert und die Rechte von Menschen mit psychosozialen, geistigen und kognitiven Behinderungen gefördert werden. Diese über weite Strecken sehr unterstützenswerte Initiative wird dort problematisch, wo sie sich der einseitigen Interpretation der UN-BRK und damit einhergehend einer polarisierenden Darstellung der Psychiatrie bedient. Dadurch wird der Common Ground im Verständnis von psychischen Erkrankungen und ihrer teilweise tiefgreifenden Folgen für die betroffenen Menschen und ihres Umfelds zunehmend kleiner und die wichtige inhaltliche Debatte um die Verbesserung des psychiatrischen Versorgungs- und Hilfesystems im Sinne einer autonomiefokussierten Psychiatrie unterhöhlt.

Thomas Pollmächer und Andreas Meyer-Lindenberg für den Vorstand der DGPPN