Mitrovica

Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) hatte den Senior Experten Service (SES) für eineinhalb Jahre großenteils lahmgelegt. Im Juni dieses Jahres (2021) kam dann der Anruf aus Bonn: „Hätten Sie Interesse an einem Einsatz für ein Diakonie-Projekt im Kosovo?“ Ich bejahte und erledigte den nachfolgenden „Papierkram“ schon mit einer gewissen Routine, denn es sollte mein siebter ehrenamtlicher SES-Einsatz werden.

Als Teil Ex-Jugoslawiens wurde der Kosovo 2008 unabhängig, ist aber bisher nicht von allen EU-Staaten völkerrechtlich anerkannt [5]. Mein Einsatzort sollte Mitrovica sein, eine Stadt mit ca. 100.000 Einwohnern, die durch den Fluss Ibar in zwei Teile geteilt wird: einen nördlichen mit überwiegend Serbisch sprechender, christlich-orthodoxer Bevölkerung und einen südlichen mit überwiegend Albanisch sprechender, muslimischer Bevölkerung [1]. Die zentrale Brücke über den Fluss ist für den Kfz-Verkehr gesperrt und wird von Kosovo-Force(KFOR)-Truppen bewacht, die für die Sicherheit im Land sorgen.

Das Projekt

Nach dem Ende des Kosovokriegs 1999 richtete die Diakonie in Mitrovica ein Trainingszentrum (DTC) ein, welches mittlerweile u. a. eine Einrichtung für Traumatherapie, eine Kindertagesstätte, ein Jugendzentrum, eine Lehrküche und einen Bauernhof („Farm“) umfasst. Das Trauma-Therapiezentrum ist mit drei klinischen Psychologinnen (Psychotherapeutinnen) und einer Sekretärin besetzt. Es verfügt über Außenstellen in Nord-Mitrovica, Pristina, Fushe-Kosova und Prizren, wo jeweils eine Psychotherapeutin allein arbeitet. Es finden regelmäßige Teambesprechungen in Mitrovica statt. Zum Team gehört auch ein Allgemeinmediziner, der halbtags Sprechstunden abhält. Da es keine Krankenversicherung gibt, sind die Behandlungen im Traumazentrum kostenlos.

Der Auftrag

Bevor der SES einen Einsatzauftrag erteilt, wählt er unter ca. 12.000 ehrenamtlichen Experten der verschiedenen Fachgebiete eine/n geeignete/n aus, der/die zur jeweils vorliegenden Einsatzanfrage passt. Mein Einsatzauftrag lautete: „Analyse der Situation vor Ort, Erweiterung und Ausbau der modularen Ausbildung der Mitarbeiterinnen des Trauma-Therapiezentrums, Weiterbildung zu dissoziativen Störungen, Bindungstraumata und deren Folgen, z. B. Depressionen, Suizidalität und Angststörungen, Steigerung der Qualifikation der Mitarbeiterinnen“.

Erfahrungen und Erreichtes

Die Zusammenarbeit mit dem Team vor Ort habe ich als außerordentlich angenehm, konstruktiv und harmonisch erlebt. Man gab mir Gelegenheit, das DTC mit allen Außenstellen kennenzulernen. Gleichsam nebenbei gewann ich Eindrücke von den wichtigsten Städten und Landschaften des Kosovo. Die Arbeitstage waren geprägt durch Teilnahme an Therapiesitzungen (meist in albanischer Sprache mit englischer Übersetzung durch die Therapeutin), Supervision der (hervorragend Englisch sprechenden) Mitarbeiterinnen, Vorträge über posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), dissoziative Störungen, Bindungsstörungen, Depression, Suizidalität und spezielle Therapieverfahren, wie Gruppentherapie mit dem Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP; [3, 4]) oder Körperpsychotherapie [2]. In den Therapiesitzungen – zu etwa 90 % kamen Frauen zur Behandlung – beeindruckten mich besonders die häufigen Berichte über Vergewaltigungen während des Krieges, häusliche Gewalt und Probleme im Gefolge arrangierter Ehen. Die Begegnung mit ethnischen Minderheiten (v. a. Roma) in der Außenstelle Fushe-Kosova zeigte mir, dass das DTC mit seinem Trauma-Therapiezentrum auch bei dieser Zielgruppe auf Akzeptanz stößt.

Fazit

Beeindruckt hat mich das hohe Maß an Qualität und Professionalität, mit dem am DTC Psychotherapie und speziell Traumatherapie praktiziert wird. Mit großer Empathie, Freude und menschlicher Wärme erfüllen die Therapeutinnen ihre Aufgabe und sind dadurch in der Lage, tragfähige therapeutische Beziehungen aufzubauen. Mein dreiwöchiger SES-Einsatz erlaubte es mir, eine Reihe von ergänzenden Empfehlungen zu formulieren, deren Umsetzung in der Kompetenz und Verantwortung des Trägers, also der Diakonie, liegt und nicht zuletzt von den finanziellen Ressourcen abhängt.