Die Erfindung des Smartphones vor etwas mehr als 20 Jahren und die anschließende exponentielle globale Verbreitung dieser Technologie mit bis zu jährlich 1,5 Mrd. neu produzierten Geräten spiegeln wohl am eindrücklichsten die rasante und ubiquitäre Infiltration aller Lebensbereiche durch digitale Technik wider. Das janusköpfige „Handy“ ermöglicht Teilhabe ebenso wie Überwachung, es verbindet den immobilen Kranken mit seinen Liebsten und trennt den internetsüchtigen Jugendlichen von seiner Familie.

Wie segensreich digitale Technik sein kann, das zeigte sich exemplarisch in der aktuellen Pandemie, als Videosprechstunde und internetbasierte Therapie zumindest einen Teil der negativen Folgen für die psychische Gesundheit abmildern konnten [1]. Gleichzeitig zeigt die vermehrte Nutzung digitaler Technologien im Gesundheitswesen aber auch die Grenzen, Gefahren, ethischen Risiken und philosophischen Grundfragen der digitalen Transformation sehr deutlich auf. Deshalb habe ich mich entschlossen, den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) 2021 diesem Leitthema zu widmen.

In diesem begleitenden Themenheft von Der Nervenarzt werden in fünf Übersichtsarbeiten einige für den Einsatz digitaler Techniken im Bereich der psychischen Gesundheit besonders bedeutende Aspekte beleuchtet.

Zunächst analysieren Dragano et al., welchen Einfluss digitale Techniken am Arbeitsplatz auf die psychische Gesundheit haben können. Sie führen dabei das Konzept des Technostresses ein und zeigen, wie groß der Forschungsbedarf in diesem Bereich ist. Das wenige, was bisher bekannt ist, unterstreicht eindrücklich die Vielschichtigkeit des Problems, denn obwohl digitale Techniken die Arbeit erleichtern können, sind sie ebenso in der Lage relevante negative Effekte auf Arbeitszufriedenheit und -effizienz auszuüben. Damit ist insbesondere dann zu rechnen, wenn der Einsatz von Informationstechnologie (IT) mit unzureichenden finanziellen und personellen Mitteln erfolgt, wie das z. B. für die Deutschen Krankenhäuser eine vor der Pandemie durchgeführte Studie des Deutschen Krankenhausinstituts klar belegt [2].

Weitzel et al. widmen sich der Nutzung digitaler Techniken zur Förderung und Verbesserung psychischer Gesundheit unter dem Schlagwort E‑mental Health. Dieser dynamische Bereich digitaler Gesundheitsanwendungen birgt immens großes Potenzial nicht nur hinsichtlich niederschwelliger Prävention und Selbstmanagement, sondern zunehmend auch durch die Bereitstellung effektiver und effizienter internetbasierter Therapieprogramme. Problematisch ist allerdings, dass klare wissenschaftsbasierte Qualitätskriterien für solche Anwendungen bisher großenteils fehlen und es somit für Nutzer und Behandler schwer ist, die Spreu vom Weizen zu trennen.

Meyer-Lindenberg beschreibt Chancen und Risiken, welche sich aus der Omnipräsenz digitaler Kommunikationskanäle für Erforschung, Diagnostik und Behandlung psychischer Erkrankungen ergeben. Insbesondere Smartphones erlauben es, mittels ihrer multiplen Sensoren und der typischerweise permanenten Anbindung an das Internet, Verhaltensdaten, aber auch physiologische Informationen in großer Menge zu gewinnen und umgekehrt dem Individuum ggf. nach Auswertung der Daten Rückmeldungen zu geben. Die Auswertung solcher riesigen Datenmengen erfolgt zunehmend mit Methoden der sog. künstlichen Intelligenz (KI), einschließlich des maschinellen Lernens.

Die Nutzung solcher Methoden für diagnostische und therapeutische Zwecke stellt die wohl faszinierendste, gleichzeitig aber zumindest im Bereich von Psychiatrie und Psychotherapie auch die am meisten besorgniserregende Perspektive der digitalen Transformation dar.

Eickhoff und Heinrichs referieren den aktuellen Forschungsstand zur Vorhersage von kognitiven Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmalen und psychischen Erkrankungen mithilfe maschinellen Lernens. Wenn dabei vom „vorhersagbaren Menschen“ die Rede ist, dessen mentale Zustände durch lernende Algorithmen offengelegt werden können, deren Arbeitsweise es prinzipiell unmöglich macht, ihre Ergebnisse nachzuvollziehen, dann stellen sich sehr grundlegende hermeneutische und anthropologische Fragen. Werden Maschinen vielleicht schon bald messen können, was wir denken und fühlen, werden sie das genuin Subjektive objektivieren und damit den Menschen als Subjekt bedeutungslos machen?

An solchen Fragen setzt die letzte Übersichtsarbeit des Themenheftes an. Fuchs betrachtet vor allem kritisch die digitale Phänotypisierung. Er macht deutlich, dass eine daraus abgeleitete, algorithmenbasierte Diagnostik und Therapie auf der Basis quantifizierbarer Daten unser Verständnis von psychischer Krankheit und den Therapieprozess, aber auch die Beziehung von Arzt und Patient grundlegend qualitativ verändern würde. Eine digitale Psychiatrie wäre keine „verbesserte“, sondern eine fundamental andere.

Schon vergleichbar einfache Ansätze zur Unterstützung ärztlicher Entscheidungen durch künstliche Intelligenz wie die automatisierte Erkennung maligner Melanome oder die Auswertung von Röntgenbildern haben die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer auf den Plan gerufen. Sie hat jüngst in einer ausführlichen Bewertung der Chancen und Risiken KI-basierter Systeme zur Entscheidungsunterstützung ärztlicher Tätigkeit [3] klargestellt, dass alle diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen letztlich durch den behandelnden Arzt zu treffen und von ihm zu verantworten sind. Die Grenze zwischen Entscheidungsassistenz und automatisierter Entscheidung dürfe nicht überschritten werden.

Es wird sich zeigen, ob solche ethischen Grundsätze der rasanten technischen Entwicklung standhalten. Nur dann könnte Psychiatrie dauerhaft bleiben, was sie heute ist, nämlich eine medizinische Disziplin, die den Menschen als Subjekt in den Mittelpunkt all ihrer Bemühungen stellt.

Prof. Dr. Thomas Pollmächer