Die aktuelle manualisierte und operationalisierte Klassifikation psychischer Erkrankungen nach der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 11th Revision (ICD-11) und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5 (DSM-5) ist kategorial aufgebaut und erfolgt nach fest vorgegebenen Kriterien mit dem Ziel, die Reliabilität psychiatrischer Diagnosen zu steigern. Dabei liegt der Schwerpunkt psychiatrischer Diagnostik ausschließlich auf klinisch zu beobachtenden oder vom Patient*Innen berichteten Symptomen. Obwohl die ICD-11- und DSM-5-Manuale ihrem Anspruch gerecht werden, eine zuverlässige Taxonomie für psychische Störungen zu bieten, haben beide Systeme nicht den Anspruch, psychische Störungen als valide neurobiologische Entitäten zu betrachten. Folglich sind die verfügbaren psychiatrischen Therapieansätze mehr symptomatisch als krankheitsmodifizierend. Es fehlen nach wie vor auf Krankheitsmechanismen basierende Therapiestrategien [1]. Die Verringerung der diagnostischen Heterogenität und die Verknüpfung psychischer Zustände mit spezifischen genetischen, bildgebenden, physiologischen und kognitiven Daten ist für die Forschung und den klinischen Alltag von höchster Priorität. Eine grundlegende und über die bisherige „kosmetische“ Modifikation der fest vorgegebenen Diagnosekriterien hinausgehende Erneuerung der bestehenden psychiatrischen Entitäten ist längst überfällig und könnte dazu beitragen, die translationale Stagnation der Psychiatrie zu beenden. Es bleibt zu hoffen, dass die zukünftigen Versionen der Klassifikationssysteme DSM und ICD auf biologischem Wissen über Risikofaktoren und Ursachen psychischer Krankheiten basieren werden. Dafür müssen zukünftige Studien u. a. kategoriale und dimensionale Ansätze integrieren, um zu einer therapeutisch relevanten Stratifizierung zu kommen.

RDoC basiert auf 6 Domänen des beobachtbaren Verhaltens und verschiedener neurobiologischer Parameter

Seit 12 Jahren bietet die Research-Domain-Criteria(RDoC)-Initiative [2,3,4] des amerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH) eine Plattform (Matrix) für die Erforschung (und noch nicht für alternative Klassifikation) psychischer Störungen, die auf insgesamt sechs Domänen des beobachtbaren Verhaltens und verschiedener neurobiologischer Parameter basiert (http://www.nimh.nih.gov/research-funding/rdoc.shtml). Zu den sechs Domänen gehören (1) negative Valenzsysteme, (2) positive Valenzsysteme, (3) kognitive Systeme, (4) Systeme für soziale Prozesse, (5) Erregung und regulatorische Systeme und (6) sensomotorische Systeme [5,6,7,8,9]. Um die Erforschung dieser sechs Domänen zu ermöglichen, sind außerdem verschiedene Konstrukte wie z. B. Angst, Aggression, Bedrohungserleben, Belohnung, Arbeitsgedächtnis, visuelle, auditive und olfaktorische Wahrnehmung, Kommunikation, Schlaf-Wach-Rhythmus oder Planung, Initiierung und Ausführung sensomotorischer Bewegungen definiert. Die Spalten der RDoC-Matrix bezeichnen die verschiedenen Analyseeinheiten und beinhalten Gene, Moleküle, Zellen, neuronale Netzwerke, Verhalten und Berichte über das subjektive Erleben der Patienten als mögliche Forschungsansätze. Das primäre Ziel dieser Initiative ist es, neuronale Netzwerkskarten der kognitiven, emotionalen, verhaltensbedingten und sensorischen Funktion zu erstellen sowie die Art und Weise zu erläutern, wie die Aktivität in diesen Netzwerken bei psychischen Störungen dysreguliert wird [3, 4]. Die von der RDoC-Initiative vorgeschlagene pathophysiologische und dimensionsbasierte Forschungsmatrix für psychische Erkrankungen öffnet nicht nur die Tür für eine zukunftsweisende und auf neurobiologisch plausiblen Systemen basierende Forschung, sondern auch für bessere Vergleichbarkeit der durchgeführten Studien und einen leichteren Transfer der Ergebnisse in die klinische Routine.

Das aktuelle Themenheft (09/2021) liefert wichtige Einblicke in die theoretischen Grundlagen und die bisherige wissenschaftliche Evidenz zu den sechs Domänen der NIMH-RDoC-Initiative. Das vorliegende Themenheft bringt klinisch und wissenschaftlich tätige Kolleginnen und Kollegen zusammen, um die immensen Chancen, aber auch Herausforderungen des domänenbasierten RDoC-Forschungsansatzes zu diskutieren. Durch die Kombination von Theorie und empirischen Daten aus natürlichen und experimentellen Populationen werden die folgenden sieben Artikel einen wichtigen Beitrag zur Charakterisierung, Früherkennung und Therapie psychischer Erkrankungen in der klinischen Routine leisten. Nicht zuletzt sollte dieses Themenheft auch zur weiteren flächendeckenden Dissemination des RDoC-Ansatzes dienen. Die in diesem Themenheft dargestellten und diskutierten Befunde sollten Anregungen für weitere multimodale und prospektive Studien an Patient*Innen mit psychischen Erkrankungen geben.

Wir freuen uns, Ihnen dieses Themenheft aus dem Bereich der Psychiatrie vorzulegen und wünschen Ihnen viel Freude bei dieser spannenden Lektüre.

Dusan Hirjak und Andreas Meyer-Lindenberg.