FormalPara Leserbrief zu

Adorjan K, Pogarell O, Pröbstl L et al (2021) Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Versorgungssituation in psychiatrischen Kliniken in Deutschland. Nervenarzt. 92:562–570. https://doi.org/10.1007/s00115-021-01129-6

und

Adorjan K, Haussmann R, Rauen K et al (2021) Folgen der COVID-19-Pandemie für Menschen mit Schizophrenie, Demenz und Abhängigkeitserkrankungen. Nervenarzt. 92:571–578. https://doi.org/10.1007/s00115-021-01105-0

In gleich zwei wichtigen Beiträgen beschreiben PD Dr. Kristina Adorjan und Kollegen die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die stationäre Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen [1] sowie die psychosozialen Folgen für besonders vulnerable Patientengruppen [2]. Wir möchten diese umfassende Darstellung gerne um einen bislang nicht erwähnten Aspekt ergänzen, an dem sich mittlerweile sehr konsistent schwerwiegende und zudem konkret messbare Auswirkungen der Pandemie bei psychiatrisch besonders schwer erkrankten Patienten gezeigt haben.

In Deutschland wie auch international war die Verfügbarkeit der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) bereits während der 1. Welle der Pandemie aus verschiedenen Gründen stark eingeschränkt. In einer nichtrepräsentativen Umfrage an 69 teilnehmenden psychiatrischen Kliniken mit EKT-Angebot (nichtpublizierte Daten; M. Grözinger, C. Schönfeldt-Lecuona, A. Sartorius) zeigte sich, dass nur 46 % der Kliniken die Versorgung der Patienten mittels EKT während der 1. bis 3. Welle im Wesentlichen aufrechterhalten konnten. Etwa 28 % mussten die Versorgung um mindestens ein Viertel reduzieren, 9 % um über die Hälfte der sonstigen EKT-Behandlungen. 26 % stellten die EKT-Versorgung mindestens zeitweise völlig ein. Als Hauptursachen wurden Personalmangel in Psychiatrie und Anästhesie sowie Raummangel und Einschränkungen durch Hygienekonzepte angegeben. Teilweise kam es zu Entscheidungen seitens der Krankenhausleitung und Anästhesie, EKT nur noch bei vitaler Indikation durchzuführen. Ähnliche Zahlen sind aus Großbritannien und Irland bekannt [3]. Hier zeigte sich bereits innerhalb der 1. Welle ein noch deutlicherer Rückgang: Ein Viertel der Kliniken mit EKT-Angebot hatte gänzlich geschlossen und die Hälfte bot EKT nur noch für Notfälle an. Ein wesentlicher Unterschied in den Ursachen dieser Versorgungsreduktion lag in der höheren Erkrankungsrate involvierten Personals. In Indien wurde in der 1. Welle eine Reduktion der EKT-anbietenden Kliniken sogar um drei Viertel (innerhalb der Umfrage von 122 auf 31 Kliniken) berichtet [4].

Die Auswirkungen des pandemiebedingten Aussetzens bzw. einer Reduktion von Erhaltungsbehandlungen mit EKT wurden mittlerweile von gleich drei unabhängigen Gruppen publiziert. An der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen wurden zu Beginn der Pandemie 53 Patienten mittels Erhaltungs-EKT behandelt [7]. Vor allem aufgrund mangelnder Anästhesiekapazitäten musste kurzfristig eine Reduktion der möglichen Behandlungen auf die Hälfte erfolgen. Laufende Akutbehandlungen wurden priorisiert, bei allen Patienten mit Erhaltungs-EKT erfolgte eine individuell und gemeinsam mit den Patienten getroffene Entscheidung über die unveränderte Fortführung (n = 7), Reduktion (n = 12) oder Beendigung (n = 34) der Erhaltungs-EKT. Die Indikationen waren zu etwa 50 % unipolar depressive Störungen sowie schizophrene, bipolare und katatone Erkrankungen. Trotz dieses Vorgehens nach bestem klinischem Wissen und fortlaufender ambulanter Nachsorge kam es innerhalb von 6 Monaten bei 24 von 46 (52,2 %) der von einer Veränderung betroffenen Patienten zu einem Rezidiv mit erneuter akuter Krankenhausbehandlung oder erneuter Akutbehandlung mit EKT. Obwohl die Gruppe mit unveränderter Fortführung der Erhaltungs-EKT nach klinischem Urteil das höchste Risiko hatte, zeigte sich in dieser nur bei einem von 7 Patienten (14,3 %) ein Rezidiv. Eine kürzer zurückliegende Akutbehandlung mit EKT sowie kürzere Abstände zwischen den Erhaltungs-EKT vor der pandemiebedingten Modifikation wurden als Risikofaktoren für den Rückfall identifiziert.

Trotz unterschiedlicher Datengrundlage führten zwei ähnliche Studien zu sehr konsistenten Ergebnissen. Eine belgische Gruppe [5] fand für 81 Patienten nach abrupter Beendigung der Erhaltungs-EKT eine 6‑Monats-Rückfallrate von 44,4 %. Als Risikofaktoren wurden hier eine psychotische (vs. rein affektive) Grunderkrankung sowie ebenfalls ein kürzeres Intervall zwischen den Erhaltungsbehandlungen identifiziert. Eine weitere Studie [8] untersuchte 37 Patienten mit depressiver Störung unter Erhaltungs-EKT von März bis Juni 2020. Während bei 4 Patienten die Erhaltungs-EKT unverändert und mit stabilem Verlauf fortgesetzt wurde, kam es bei 20 der 33 Patienten (60,6 %) unter pausierter EKT zu einem Rezidiv innerhalb der 4 Monate.

Die drei genannten Studien zeigen eindrücklich die Wirksamkeit der Erhaltungs-EKT bei Patienten mit affektiven und psychotischen Störungen in einem naturalistischen Setting. Aufgrund der hohen Übereinstimmung der Befunde können für die klinische Praxis und für zukünftige Situationen limitierter Ressourcen einige Schlussfolgerungen abgeleitet werden:

  • Patienten unter Erhaltungs-EKT stellen eine selektierte, besonders vulnerable Patientengruppe dar, die eine intensive und unterbrechungsfreie Versorgung benötigt.

  • Das Rezidivrisiko nach abrupter Beendigung oder Reduktion der Erhaltungs-EKT ist mit etwa 44–60 % in den ersten 4 bis 6 Monaten als sehr hoch einzustufen.

  • Neben der Akutbehandlung mit EKT muss auch die Erhaltungs-EKT nicht als elektive, sondern vielmehr als essenzielle medizinische Maßnahme betrachtet werden.

  • EKT und Erhaltungs-EKT müssen aufgrund der möglichen gravierenden Konsequenzen eines Rezidivs bei schwerwiegender psychischer Störung inklusive dokumentierter Suizidalität [6] zukünftig mit höherer Priorität aufrechterhalten werden.