Dies ist die erste Erhebung finanzieller Belastungen unter Nutzer*Innen des psychiatrischen Gesundheitsversorgungssystems in Deutschland. In unserer Studie wiesen mehr als die Hälfte der Patient*Innen (55,1 %) Schulden, Kredite oder offene Rechnungen auf. Die Mehrzahl (47,0 %) zwischen 1000 und 9999 € gefolgt von 36,3 % mit Schulden, Krediten oder offenen Rechnungen in Höhe von 10.000 bis 99.999 €. Da 80,0 % der Personen mit Schulden, Krediten oder offenen Rechnungen in einer Summe von über 10.000 € von Sozialleistungen leben, ist mindestens hier das Vorliegen einer Überschuldung sehr wahrscheinlich, wobei die Bewertung einer Überschuldung immer eine Einzelfallentscheidung ist und auch von anderen Faktoren abhängt (Alter, Zahl der Gläubiger, finanzielle Situation anderer Haushaltsmitglieder, mögliches Einkommen etc.; [5]). Zukünftige Erhebungen sollten daher interindividuelle Unterschiede insbesondere in Bezug auf das Haushaltseinkommen stärker berücksichtigen.
Davon ausgehend würde es bedeuten, dass eine Überschuldung 22,3 % der Befragten, die Angaben zur Schuldenhöhe machten, betrifft. Damit läge die Zahl deutlich höher als die Überschuldungsrate der deutschen Allgemeinbevölkerung von 10 % [18] und würde somit bisherige Studienergebnisse bestätigen, die eine deutliche Assoziation zwischen psychischen Erkrankungen und Verschuldung belegen [16]. Auch in Bezug auf die Wohnsituation zeigt sich, dass der Faktor Wohnungslosigkeit mit dem Vorkommen von Schulden verbunden ist (75,0 % aller wohnungslosen Teilnehmer wiesen Schulden auf, vgl. eigene Wohnung: 51,7 %). Eine kürzlich veröffentlichte longitudinale Studie weist auf einen Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und Sorgen um die Bezahlbarkeit von Wohnraum („housing affordability stress“) hin [3]. Zukünftige Erhebungen sollten daher interindividuelle Unterschiede insbesondere in Bezug auf diese Faktoren, wie beispielsweise das Haushaltseinkommen, stärker berücksichtigen.
Die Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit einer holistischen Blickweise auf psychische Erkrankungen und soziale Stressoren wie Verschuldung und Armut sowie die Notwendigkeit der Evaluierung und Implementierung geeigneter sozialer Unterstützungen im Gesundheitsbereich psychischer Erkrankungen bzw. die Stärkung der Rolle der sozialen Arbeit. Beispiele hierfür sind in Großbritannien zu finden, wo die Regierung während der letzten Rezession zusätzliche Therapien für Menschen unter ökonomischer Belastung finanzierte und Schuldenberatung in Gesundheitseinrichtungen unterstützte [10].
Ergebnisse der Regressionsmodelle wiesen dabei vor allem auf Substanzabhängigkeiten und ein jüngeres Alter als prädiktive Faktoren für das Vorliegen von Schulden hin. Eine Implementierung geeigneter Unterstützungsformen vor allem im Suchthilfebereich erscheint daher sinnvoll. Umgekehrt stellt sich Frage, ob Angebote zur Beratung hinsichtlich psychischer Erkrankungen und insbesondere Substanzgebrauch z. B. in Einrichtungen wie Schuldnerberatungen implementiert und evaluiert werden sollten. Das jüngere Alter deckt sich mit Erhebungen der Allgemeinbevölkerung, in der ebenfalls hinsichtlich der Altersstruktur eher Menschen jüngeren Alters von Überschuldung betroffen sind [18]. Insbesondere die frühe Unterstützung junger Menschen mit psychischen Erkrankungen hinsichtlich finanzieller Belastungen scheint daher besonders wichtig, um einer Marginalisierung vorzubeugen.
Ein mögliches Instrument zur Prävention von Schulden und Unterstützung finanzieller Belange stellt in Deutschland die gesetzliche Betreuung dar. Allerdings fanden sich keine signifikanten Gruppenunterschiede zwischen Teilnehmer*Innen mit und ohne Schulden, offenen Rechnungen oder Krediten hinsichtlich des Vorliegens einer gesetzlichen Betreuung. Inwieweit jedoch möglicherweise insbesondere eine gesetzliche Betreuung in Fällen bereits bestehender finanzieller Schwierigkeiten eingesetzt wurde, wurde im Rahmen dieser Studie nicht untersucht.
Bezüglich möglicher Ursachen der Überschuldung zeigte sich in einer anderen Querschnittserhebung unter überschuldeten Personen in Schweden, dass überschuldete Teilnehmer*Innen mit einer psychischen Erkrankung jünger waren und häufiger maladaptive Copingstrategien nutzten [8]. Dies wiederum spricht für die Möglichkeit, durch psychotherapeutische Interventionen Einfluss auf das subjektive Erleben finanzieller Belastung zu nehmen, was z. B. in Projekten in Großbritannien durch die Schaffung von Therapien für Menschen unter finanzieller Belastung und Schuldenberatung in Gesundheitseinrichtungen aufgegriffen wurde [10].
An dieser Stelle soll auch auf den Aspekt der finanziellen Teilhabe und Verfügung über eigene finanzielle Mittel hingewiesen werden. In Anbetracht der kürzlichen Einführung des Bundesteilhabegesetzes, das wiederum eine Trennung von beispielsweise Wohn- und anderen Unterstützungsleistungen vorsieht und somit auch mehr Verantwortung und Herausforderung hinsichtlich der Finanzierung der verschiedenen Leistungsträger seitens der Nutzer*Innen birgt, sollten finanzielle Schwierigkeiten stärker berücksichtigt werden [11]. Dabei sollten Schulden sowohl als mögliche Folgen einer psychischen Erkrankung in Betracht gezogen werden sowie auch als Risikofaktor für das Entstehen psychischer Störungen, z. B. von Suchterkrankungen.
Limitationen
Die Angabe der Schuldenhöhe wurde nicht, z. B. anhand von Kontoauszügen oder Angehörigen überprüft, sodass diese allein auf Aussagen der Teilnehmer*innen beruhen und möglicherweise nicht präzise sind. Allerdings wurden unvollständige oder unklare Angaben mit Dokumentationen der Sozialarbeiter*Innen der Klinik abgeglichen. Zudem ist denkbar, dass Patient*Innen mit Schulden bspw. aus Gründen von Scham eine Teilnahme ablehnten.
Weitere longitudinale Studien – möglichst interventionellen Charakters – wären notwendig, um die Planung der Versorgung effektiver zu gestalten. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist eingeschränkt, da es sich um Nutzer*Innen eines spezifischen Behandlungssettings eines Bezirks (Wedding, Moabit, Tiergarten) in Berlin handelt, zudem gibt es ein Stichprobenbias, da in der Studie u. a. signifikant häufiger Personen mit Abhängigkeitserkrankungen, männlichen Geschlechts und jüngeren Alters teilgenommen hatten (siehe Beschreibung der Population in Schreiter et al. [17]). Berlin wies 2019 eine verhältnismäßig hohe Arbeitslosenquote mit 11,4 % auf, allerdings ist diese vergleichbar mit Quoten anderer deutscher Großstädte wie Gelsenkirchen (14,8 %), Duisburg (14,3 %), Essen (14,6 %), Magdeburg (9,9 %) und anderen [21]. Trotzdem ist die Generalisierbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt, da der Versorgungsbezirk der hiesigen Klinik (Großbezirk Mitte) im regionalen Sozialbericht Berlin und Brandenburg 2017 mit 24,8 % die zweithöchste Armutsgefährdungsquote der Berliner Bezirke aufweist [1]. Zudem wies der Bezirk Mitte 2018 mit 33,6 % einen vergleichsweise hohen Anteil ausländischer Personen (vgl. Gesamtberlin: 19,5 %) auf [2]. Entsprechend des Sozialberichts haben ausländische Berliner*Innen das höchste Armutsrisiko (28,7 %; [1]). In der hiesigen Untersuchung ergab sich kein signifikanter Unterschied im Vorliegen von Schulden, Krediten oder offenen Rechnung bei im Ausland geborener Teilnehmer*Innen; Gespräche erfolgten mit Sprach- und Kulturmittlern und ausländische Teilnehmer machten 27,3 % der Teilnehmer*Innen aus.