FormalPara Leserbrief zu

Seidenbrecher S, Steinmetz C, Möller-Leimkühler AM, Bogerts B (2020) Terrorismus aus psychiatrischer Sicht. Nervenarzt 91:422–432. https://doi.org/10.1007/s00115-020-00894-0

Mit großem Interesse habe ich diese Übersichtsarbeit über Untersuchungen zur Frage, ob sich die Diagnosen psychischer Erkrankungen bei Terroristen in der Häufigkeit von der Normalbevölkerung unterscheiden, gelesen. Als Fazit berichten die Autoren, dass bei terroristischen Einzeltätern gehäuft psychotische oder affektive Störungen diagnostiziert wurden, Mitglieder von Terrorgruppen hingegen außer „Persönlichkeitsakzentuierungen“ histrionischer, antisozialer und paranoid-aggressiver Art kein erhöhtes Vorkommen „krankheitswertiger psychischer Störungen“ aufwiesen.

Dazu erlaube ich mir zum einen die methodologische Anmerkung, dass die Validität der psychopathologischen Präsentation der Untersuchten gerade in diesen Fällen wohl hinterfragbar ist – werden wissenschaftliche Untersucher doch von den Betroffenen vermutlich häufig als Vertreter der zu bekämpfenden Gesellschaft und damit potenzielle Feinde angesehen.

Zum anderen müssen wir uns immer vor Augen halten, dass – vor allem psychiatrische – Diagnosen keinen dauerhaft festgeschriebenen Status quo darstellen, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Konventionen und damit veränderbar sind. Ich erinnere daran, dass etwa Homosexualität bis 1990 von der WHO als Krankheit codiert wurde. In demokratischen Ländern zieht die Allgemeinheit bei der Kategorisierung, welche Verhaltensweisen als krankhaft, kriminell oder „in den Grenzen der Norm“ einzustufen sind, immerhin die medizinische Wissenschaft heran. In autoritären Regimen wird eine von der Mehrheit abweichende kritische Meinung als mit gesundem Denken nicht vereinbar und ihre Vertreter daher konsequenterweise als „behandlungsbedürftig“ (das allerdings nicht mit dem Ziel der therapeutischen Ich-Stärkung) angesehen.

Nichts würde uns – als Konsequenz einer breiten gesellschaftlichen Übereinkunft mit entsprechender wissenschaftlicher Validierung – daran hindern, eine neue diagnostische Entität zu kreieren, die das „Töten eines oder mehrerer Menschen mit dem Ziel, emotionale und Verhaltensreaktionen bei anderen hervorzurufen“ als ein Krankheitssymptom definiert, und damit terroristische Handlungen als pathologisch zu definieren.

Abgesehen davon ließe sich durchaus auch diskutieren, ob nicht die unbeirrbare Überzeugung, dass durch die Ermordung von auf einem Markt einkaufenden Frauen und spielenden Kindern/migrantischen Lokalbesitzerfamilien/Angestellten von Wirtschaftsfunktionären irgendetwas auf dieser Welt zum Besseren verändert werden könnte, bereits jetzt als eine Form wahnhaften Denkens angesehen werden muss.