Hintergrund

Die Ursachensuche von im Erwachsenenalter auftretenden sporadischen Ataxien stellt häufig eine Herausforderung dar. Nach Ausschluss erworbener Ursachen (fokal/multifokal z. B. Schlaganfall, Abszess, Tumor, entzündliche ZNS-Erkrankungen; nicht fokal z. B. ethyltoxisch, Vitamin-B12-Mangel, Multisystematrophie vom zerebellären Typ, paraneoplastische zerebelläre Degeneration) häufiger autosomal-dominant vererbter spinozerebellärer Ataxien und der autosomal-rezessiven Friedreich-Ataxie ist die Ursache jedoch oft nicht zu eruieren: Bei Patienten mit einer im Erwachsenenalter auftretenden sporadischen Ataxie konnte mittels einer Panel-Diagnostik mit 201 Genen nur in 6 % der Fälle eine genetische Ursache gefunden werden [5].

Wir beschreiben eine Patientin, bei der aufgrund des klinischen Bildes die Diagnose CANVAS (Zerebelläre Ataxie, Neuropathie, vestibuläre Areflexie Syndrom) gestellt wurde. Diese konnte molekulargenetisch bestätigt werden, nachdem kürzlich der CANVAS-Gendefekt im RFC1(„replication factor C subunit 1“)-Gen identifiziert worden war [2].

Kasuistik

Eine 74-jährige Patientin stellte sich wegen seit 14 Jahren bestehendem Schwindel vor. Seit 10 Jahren litt sie unter einer Gangunsicherheit sowie einem Taubheitsgefühl an Fingern und Zehen. Seit 2 Jahren klang die Sprache verwaschen. Alle Symptome waren langsam progredient. Beim Gehen wackelte das Bild und bei Augenschluss stürzte sie. Außerdem litt sie unter einem trockenen Husten, einer Motilitätsstörung des Ösophagus und Obstipation. Die Familienanamnese für ähnliche Beschwerden war leer.

In der körperlichen Untersuchung fand sich eine Zeigeataxie. Der Romberg-Versuch war unsicher, das Gangbild breitbasig. Es bestand eine skandierende Sprache. Die Blickfolge war sakkadiert. Der Kopf-Impuls-Test zeigte eine beidseitige vestibuläre Untererregbarkeit mit Einstellsakkaden. Berührungs- und Vibrationsempfinden sowie der Lagesinn waren an den Extremitäten distal beeinträchtigt. Der SARA-Score (Score of Assessment and Rating of Ataxia) betrug 9,5 Punkte.

Die kalorische Spülung wies eine bilaterale vestibuläre Untererregbarkeit nach. Eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Kopfes zeigte eine besonders den Kleinhirnwurm betreffende zerebelläre Atrophie (Abb. 1). Im spinalen MRT fand sich eine Myelonatrophie (Abb. 2). Die sensiblen Neurographien zeigten am N. suralis und N. medianus keine Reizantworten, am N. ulnaris eine leichte Amplitudenminderung. Die motorischen Neurographien des N. medianus, N. ulnaris, N. peroneus und N. tibialis zeigten leicht verminderte Amplituden. Sensibel evozierte kortikale Potenziale waren nach Stimulation an N. tibialis und N. medianus nicht ableitbar. Eine Hypovitaminose (Vitamin E, B6, B12) wurde ausgeschlossen. Liquordiagnostisch bestanden keine entzündlichen Veränderungen. Die genetische Diagnostik häufiger spinozerebellärer Ataxien (SCA1, 2, 3, 6, 7 und 17) sowie der Friedreich-Ataxie war negativ.

Abb. 1
figure 1

T2-gewichtete sagittale (a) und parasagittale (b) zerebrale Magnetresonanztomographie: akzentuierte Atrophie des Vermis (a) sowie auch des Crus (Cr) I und II (b)

Abb. 2
figure 2

T2-gewichtete spinale Magnetresonanztomographie sagittal (c) sowie axial in Höhe des Halswirbelkörpers (HWK) 5 (a) und Brustwirbelkörpers (BWK) 8 (b): langstreckige Myelonatrophie mit einem Tiefendurchmesser von 4,0 mm auf Höhe HWK 5 (normal 7,4 ± 1,6 mm [2 SDs]; [4]) und 4,6 mm auf Höhe BWK 8 (normal 6,3 ± 2,0 mm [2 SDs]; [4])

Diagnose

Bereits die Anamnese ergab Hinweise auf Beeinträchtigungen von Vestibularapparat und Kleinhirn sowie eine Polyneuropathie: Die Oszillopsien sprachen für eine bilaterale Vestibulopathie, die verwaschene Sprache für ein zerebelläres Syndrom, die akrale Taubheit und die Stürze bei Augenschluss für eine sensible, afferente, Ataxie bei Polyneuropathie. Alle drei Systeme fanden sich auch in der klinischen Untersuchung beeinträchtigt. Somit konnte die Syndromdiagnose CANVAS gestellt werden.

Mittels Repeat-primed-Polymerase-Kettenreaktion [2] im RFC1-Gen konnte auf beiden Allelen die pathologische AAGGG-Pentanukleotid-Expansion nachgewiesen werden, während nichtpathogene AAAGG- bzw. AAAAG-Expansionen nicht vorlagen. Das Wildtypallel mit 11 AAAAG-Repeats war mittels flankierender PCR nicht nachweisbar.

Diskussion

Zerebelläre Ataxie, sensible Neuropathie und Vestibulopathie stellen die Kardinalsymptome des CANVAS dar, das 2011 erstmals als Syndrom beschrieben wurde [10]. Darüber hinaus können autonome Symptome wie chronischer Husten, Ösophagusmotilitätsstörung und Obstipation auftreten. Post-mortem-Untersuchungen an CANVAS-Patienten zeigten eine Atrophie der Hinterstränge infolge der Degeneration der Spinalganglien und einen Purkinje-Zell-Verlust vor allem im Vermis [8]. Die größte klinische Diagnosesicherheit erbrachte bisher der Nachweis einer vestibulären Untererregbarkeit in der Videookulographie oder Videonystagmographie, der bildgebende Nachweis einer im Vermis betonten zerebellären Atrophie und der elektrophysiologische Nachweis einer sensiblen Neuropathie bei molekulargenetischem Ausschluss häufiger hereditärer Ataxien [9]. Im Jahr 2019 wurde eine biallelische Expansion im RFC1-Gen, mit 400 bis 2000 AAGGG-Pentanukleotiden (statt 11 Repeats des AAAAG-Wildtypallels) als genetische Ursache identifiziert [2] und in zwei weiteren Arbeiten bestätigt [1, 6]. Bei RFC1 handelt es sich um eine Untereinheit des RFC-Proteinkomplexes, der für die DNA-Replikation wichtig ist. Der genaue Pathomechanismus der Erkrankung ist noch unklar [2, 6].

Die Beschreibung von 100 Patienten mit genetisch gesicherter RFC1-Expansion zeigte ein medianes Erkrankungsalter von 52 Jahren (19–76 Jahre). Die sensible Neurographie war stets abnormal, eine zerebelläre Atrophie fand sich in 63 % und eine Myelonatrophie in 45 % der MRTs. Erstsymptom war häufig eine sensible Polyneuropathie, manchmal aber auch ein spasmodischer Husten. Zerebelläre Symptome (Dysarthrie) und vestibuläre Symptome (Oszillopsien) traten typischerweise später auf [3]. Bei unserer Patientin bestanden alle charakteristischen Symptome und auch die Ergebnisse der apparativen Diagnostik waren typisch.

Bei Patienten mit ätiologisch ungeklärter Ataxie ohne dem Vollbild eines CANVAS-Syndroms fand sich die Repeat-Expansion im RFC1-Gen bei 22 % aller Patienten, 63 % der Patienten mit Ataxie und Neuropathie und 92 % der Patienten mit allen Kardinalsymptomen [2]. Die CANVAS-Häufigkeit wurde auf 5 bis 13/100.000 Personen geschätzt [1, 2, 6].

Wegen der hohen „Trefferquote“ unter Patienten mit spät beginnender Ataxie sowie dem mit 2 % vergleichsweise hohen Anteil von CANVAS-Patienten in einer Kohorte deutscher Schwindelpatienten [7] sollte die Untersuchung der RFC1-Gen-Expansion bei allen Patienten mit einer nichterworbenen spät beginnenden Ataxie erfolgen, nicht nur bei autosomal-rezessivem Erbgang mit betroffenen Geschwistern, sondern auch bei sporadischen Fällen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Expansion nur durch eine gezielte molekulargenetische Testung mittels PCR oder Southern-Blot-Analyse erkannt werden kann: Die intronische Expansion entgeht Gen-Panel- oder Exomuntersuchungen. Aktuelle Methoden der Next-generation-Sequenzierung nämlich beruhen auf sog. „short-reads“ um 150 Basenpaare. Daher sind sie nicht zum Nachweis von Expansionen von 2000 bis 10.0000 Basenpaaren, wie sie bei der Pentanukleotidexpansion im RFC1-Gen bestehen, geeignet.

Fazit für die Praxis

  • Eine Repeat-Expansion im RFC1-Gen liegt dem CANVAS zugrunde und stellt mutmaßlich eine häufige genetische Ursache spät beginnender Ataxien dar.

  • Bei Patienten mit sporadischer spät beginnender Ataxie (5. bis 7. Lebensjahrzehnt) ohne Hinweise auf eine erworbene Ursache sollte eine Untersuchung des RFC1-Gens vorgenommen werden.

  • Eine gezielte molekulargenetische Diagnostik, die mittlerweile auch in deutschen Laboren etabliert wurde, ist notwendig, da die Expansion Next-generation-Sequenzierungen entgeht.