Der Einsatz von Botulinumtoxin A (BoNT-A) bei erwachsenen Patienten mit Armspastik nach Schlaganfall ist inzwischen als gut verträgliche und effektive Behandlungsmethode etabliert. Das Upper Limb International Spasticity (ULIS)-Programm untersucht die aktuelle Behandlungspraxis bei Armspastik nach Schlaganfall mit BoNT-A. Um einen Überblick über die Therapiepraxis hinsichtlich der Zielsetzung und -erreichung im deutschsprachigen Raum zu erhalten, werden in diesem Beitrag die Ergebnisse der deutschen und österreichischen Kohorte gegenüber der Gesamtkohorte dargestellt und verglichen.

Spastische Bewegungsstörungen sind eine häufige Folgeerscheinung nach einem Schlaganfall. Ursache ist eine Schädigung des ersten motorischen Neurons, wobei Spastizität als Anpassung an eine Läsion deszendierender motorischer Bahnen verstanden wird [11]. Die oberen Gliedmaßen sind häufiger betroffen [31]. Die Armspastik gilt als chronische und komplexe neurologische Erkrankung mit vielen möglichen Symptomen wie gesteigerten Reflexen, Kokontraktion, Muskelumbau und Dystonien. Aufgrund der Läsion im Zentralnervensystem bestehen häufig zusätzlich sensorische Störungen, Wahrnehmungsstörungen und kognitive Defizite.

Gemäß mehreren internationalen Konsensusempfehlungen [13, 21, 22] und nationalen Leitlinien [10] werden BoNT-A-Injektionen zur Behandlung der fokalen Spastizität nach Schlaganfall empfohlen. BoNT-A blockiert die cholinerge Übertragung an der motorischen Endplatte durch eine Unterbindung der Acetylcholinfreisetzung [8]. Der tonussenkende Effekt der Therapie wurde in mehreren klinischen Studien nachgewiesen [4, 5, 7, 23]. In diesen Studien wurden in der Regel Veränderungen im Muskeltonus erfasst, jedoch nicht die Auswirkung auf die individuelle Behinderung. Da der Effekt der Spastizität auf die Motorik individuell unterschiedlich ist, können Patienten mit gleicher Diagnose und Schweregrad unterschiedliche Therapieziele haben. Die Methode der Zielerreichungsskalierung („Goal Attainment Scale“, GAS) ermöglicht eine statistische Analyse und Auswertung individualisierter Therapieziele [18, 25].

Aus klinischen Studien ist bekannt, dass die Behandlungspraxis mit BoNT-A uneinheitlich ist, wobei Injektionstechniken, Ort der Injektion und Begleittherapien zentrumsabhängig variieren [2]. Um einen Überblick über den Einsatz von BoNT-A im Praxisalltag zu erhalten, wurde das Upper Limb International Spasticity (ULIS) -Programm gestartet. Es besteht aus mehreren internationalen Beobachtungsstudien zur aktuellen Behandlungspraxis der Armspastik mit BoNT-A [29]. ULIS-I war eine internationale Querschnittsstudie, mit der Daten zur klinischen Praxis im Hinblick auf Injektion, Dokumentation und Erfassung des Behandlungsergebnisses auf vier Kontinenten erhoben wurden [6]. Die noch laufende ULIS-III-Studie dokumentiert die Auswirkung eines integrierten Managements der Armspastik auf die Erreichung von Patientenzielen [26]. ULIS-II ist eine große, prospektive Verlaufsstudie, bei der die Responderrate anhand des mit GAS erfassten Grades der primären Zielerreichung nach einem Zyklus BoNT-A unter Alltagsbedingungen ermittelt wurde [28]. Insgesamt nahmen 456 Patienten aus 22 Nationen teil [29]. Hier stellen wir die Ergebnisse der Behandlungspraxis in Deutschland und Österreich im Vergleich zur Gesamtkohorte dar.

Methodik

Studiendesign

An der vorliegenden offenen, prospektiven, multizentrischen Beobachtungsstudie im Zeitraum von Januar 2010 bis Mai 2011 beteiligten sich weltweit 84 Zentren in 22 Ländern. Die Studie wurde mit Zustimmung der jeweils zuständigen Ethikkommission im Einklang mit dem jeweiligen nationalen Recht, den Leitlinien und Empfehlungen zur Sicherung guter epidemiologischer Praxis (GEP) sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor. Die Entscheidung des Arztes zur Behandlung mit BoNT-A wurde unabhängig von der Teilnahme an der Studie getroffen. Die Behandlung, einschließlich Begleittherapien und Verlaufskontrollen, folgte ausschließlich gemäß der üblichen ärztlichen Behandlungspraxis.

Studienpopulation

In die Studie aufgenommen wurden Patienten in einem Alter von ≥18 Jahren mit einer Armspastik nach Schlaganfall, bei denen die Entscheidung für eine Behandlung mit BoNT-A bereits getroffen war, die letzte BoNT-A-Injektion mindestens 12 Wochen zurücklag sowie ein Einvernehmen über die Behandlungsziele hergestellt werden konnte, wobei diese Ziele möglichst nach einem Injektionszyklus erreichbar sein mussten.

Studienablauf

Insgesamt wurden weltweit 468 Patienten in die Studie eingeschlossen. Davon wurden 456 in der Wirksamkeitsanalyse berücksichtigt. Die prospektive Datenerhebung erfolgte über einen Zeitraum von maximal 5 Monaten mit 2 Beobachtungsterminen (Eingangsdokumentation vor Injektion mit BoNT-A, Abschlussdokumentation nach ca. 3 bis 5 Monaten). Um einen Zentrumseffekt zu vermeiden, war die Patientenzahl pro Zentrum auf 12 begrenzt.

Endpunkte

Primäres Zielkriterium zur Analyse der Wirksamkeit von BoNT-A war die Responderrate, definiert durch das Erreichen des primären Ziels (GAS-Score 0, 1 oder 2) nach einem Zyklus BoNT-A entsprechend der Routinepraxis. Sekundäre Endpunkte waren demografische und erkrankungsspezifische Daten, Veränderungen der Körperfunktionsstörung, Erreichen von sekundären Zielen und des GAS-T-Score, globale Einschätzung des Therapienutzens, Injektionstechniken und Begleittherapien. Tab. 1 gibt einen Überblick über den Studienablauf.

Tab. 1 Studienablauf

Ziele setzen und messen (GAS)

Zu Studienbeginn wurden im Gespräch mit dem Patienten die wesentlichen Problemfelder identifiziert. Zusammen mit dem Patienten wurden Ziele vereinbart (1 Hauptziel, bis zu 3 sekundäre Ziele), die innerhalb eines Injektionszyklus erreicht werden können. Als Ausgangswert wurde jedes Ziel in der Regel mit einem Wert von −1 bewertet (Baseline; Visite 1). In Ausnahmefällen, falls keine Verschlechterung der spastizitätsassoziierten Symptome zu erwarten war, wurde die Ausgangssituation mit −2 bewertet. Bei Visite 2 (nach einem Injektionszyklus) wurde der Grad der Zielerreichung vom Behandler gemeinsam mit dem Patienten verbal auf einer 6‑stufigen Skala bewertet [25] und danach auf eine 5‑stufige numerische Skala (von −2 bis +2) übertragen (Tab. 2). Zur Berechnung des GAS-T-Scores wird eine standardisierte Formel verwendet [18], in der die Zielerreichungswerte numerisch (von −2 bis +2) sowie die Gewichtung der einzelnen Ziele (weniger wichtig, moderat wichtig, sehr wichtig) numerisch (1, 2, 3) eingesetzt werden (Tab. 2).

Tab. 2 Skalierung der GAS

Statistische Auswertung

Die Auswertung der Daten erfolgte gemäß dem im Studienprotokoll festgelegten Analyseplan mittels SAS (Version 9.2, SAS Institute Inc., Cary, NC, USA). Zur Darstellung von Ausgangswerten und Wirksamkeitsanalysen wurden deskriptive statistische Verfahren einschließlich Berechnung des 95 %-Konfidenzintervalls (KI) angewendet. Für die quantitativ skalierten Variablen wurden die folgenden statistischen Kennwerte bestimmt: Mittelwert, Standardabweichung, Median, 1. Quartil sowie 3. Quartil. Die statistische Analyse zur Ermittlung des p-Werts des GAS-T-Scores nach Behandlung im Vergleich zur Baseline wurde mittels Signed-rank-Test durchgeführt.

Hier werden die Daten der D/A-Subgruppe im Vergleich mit der Gesamtpopulation als Post-hoc-Analyse dargestellt.

Ergebnisse

Patientencharakteristika

Insgesamt wurden im Rahmen der ULIS-II-Studie 45 Patienten in Deutschland und 14 Patienten in Österreich eingeschlossen und mit BoNT-A behandelt. Zwei Patienten schieden vorzeitig aus der Studie aus. Somit wurden 57 Patienten in der Wirksamkeitsanalyse und 59 Patienten in der Sicherheitsanalyse berücksichtigt. Demografische und Baseline-Daten sind in Tab. 3 zusammengefasst. Hinsichtlich demografischer Daten waren die D/A-Patienten mit der Gesamtpopulation vergleichbar. Bei den D/A-Patienten lag der Schlaganfall im Vergleich zur Gesamtpopulation jedoch schon deutlich länger zurück (101,0 ± 80,9 Monate vs. 61,4 ± 69,1 Monate). Entsprechend war im Vergleich zur Gesamtkohorte ein größerer Anteil der Patienten bereits vorbehandelt worden (93,0 % vs. 67,3 %) und ein höherer Anteil an Patienten hatte fixierte Kontrakturen (38,6 % vs. 25,4 %). Bei den D/A-Patienten erfolgte die erste Injektion mit BoNT-A im Durchschnitt (±SD) vor 54,8 ± 37,2 Monaten. Seitdem waren im Mittel (±SD) 15,1 ± 12,9 Zyklen verabreicht worden. In der Gesamtkohorte waren es nur 6,4 ± 8,0 Zyklen in 33 Monaten. Die letzte Injektion lag bei den D/A-Patienten durchschnittlich (±SD) 6,0 ± 11,5 Monate und in der Gesamtkohorte 8,0 ± 11,5 Monate zurück. Das Intervall zwischen den Injektionen betrug in der D/A-Subgruppe im Durchschnitt (±SD) 6,1 ± 11,4 Monate bzw. 8,0 ± 10,9 Monate für die Gesamtkohorte.

Tab. 3 Demografische und Baseline-Daten

Therapieziele

Aus den für Patienten und Betreuer relevanten Kategorien (Körperfunktionsstörung, aktive und passive Funktion, Schmerz, Mobilität, unwillkürliche Bewegung) wurde die Körperfunktionsstörung als häufigstes primäres Ziel (Abb. 1a) in der D/A-Gruppe genannt (33,3 %). In der Gesamtkohorte war dies mit 23,0 % nur das zweithäufigste Therapieziel hinter den Zielen mit Bezug zu passiven Funktionen (Handhygiene, Pflegeerleichterung, 29,0 %), die nur von 19,3 % der D/A-Patienten als primäres Ziel genannt wurden. In der Gesamtkohorte wurden auf aktive Funktionen bezogene Ziele (Greifen – Loslassen – feinmotorischer Handgebrauch, 14,0 % vs. 22,8 %) häufiger angestrebt, während bei D/A-Patienten mehr Wert auf Ziele im Zusammenhang mit Schmerz (21,1 % vs. 13,4 %) und Mobilität (Verbesserung des Bewegungsmusters beim Gehen, insbesondere Armpendel; 10,5 % vs. 2,2 %) gelegt wurde. Die Häufigkeiten der Angaben zu den sekundären Zielen waren ähnlich verteilt (Abb. 1b), jedoch nannten wesentlich mehr D/A-Patienten Mobilität als sekundäres Ziel im Vergleich zur Gesamtkohorte (14,0 % vs. 4,0 %).

Abb. 1
figure 1

a Primäre Behandlungsziele (= Anzahl Patienten, die das jeweilige Ziel zur Baseline gewählt hatten) und b sekundäre Behandlungsziele pro Kategorie zum Einschlusszeitpunkt (n = Anzahl der sekundären Ziele)

Injektionspraxis

Sowohl bei den D/A-Patienten als auch weltweit wurden im Durchschnitt 5 Muskeln mit BoNT-A injiziert. Die am häufigsten behandelten Muskeln bei den D/A-Patienten waren der Fingerbeuger Musculus flexor digitorum superficialis (80,7 %), gefolgt vom Musculus biceps brachii (64,9 %), dem tiefen Fingerbeuger Musculus flexor digitorum profundus (63,2 %), Musculus brachioradialis (54,4 %) und Musculus brachialis (42,1 %). Dagegen wurde BoNT-A in der Gesamtkohorte am häufigsten in den Musculus flexor digitorum superficialis (71,3 %), Musculus biceps brachii (59,2 %), Musculus flexor digitorum profundus (58,1 %), Musculus flexor carpi radialis (57,5 %) und Musculus brachioradialis (34,2 %) injiziert. In Deutschland und Österreich wurde elektrische Stimulation (ES) häufiger (26,3 %) eingesetzt als Elektromyographie (EMG; 12,3 %). Beide Techniken kamen bei den D/A-Patienten seltener zum Einsatz als in der Gesamtkohorte (ES: 45,8 %, EMG: 29,2 %). Eine Wiederholung der Injektion mit BoNT-A war für 55 D/A-Patienten (96,5 %) geplant.

Wirksamkeit

Die Anzahl D/A-Patienten, die ihr primäres Therapieziel erreicht haben, war vergleichbar mit der des Gesamtkollektivs (78,9 %; 95 %-KI: 66,1–88,6 % bzw. 79,6 %; 95 %-KI: 75,6–83,2 %; Abb. 2a). Die Behandlung führte zu einem statistisch signifikanten Anstieg des GAS-T-Score um 14,8 ± 8,5 von Visite 1 (Baseline) zu Visite 2 (p < 0,0001) nach einem Behandlungszyklus. Der mittlere gewichtete GAS-T-Score zu Visite 2 betrug bei D/A-Patienten 48,1 ± 7,9 gegenüber 52,0 ± 10,1 in der Gesamtkohorte. Die sekundären Ziele wurden zu 76,8 % (95 %-KI: 63,6–87,0 %) bei den D/A-Patienten und zu 75,6 % (95 %-KI: 71,2–79,2 %) in der Gesamtkohorte erreicht (Abb. 2b).

Abb. 2
figure 2

Erreichung a der primärenZiele (n = Anzahl Patienten, die das jeweilige Ziel zur Baseline gewählt hatten) und b der sekundären Ziele (n = Anzahl der sekundären Ziele [ohne „unzutreffende“] )

Zusätzlich zu Physiotherapie und Ergotherapie waren bei den D/A-Patienten zur 2. Visite wesentlich weniger Begleittherapien erforderlich als zu Studienbeginn (Abb. 3). Der Anteil an Patienten in der D/A-Gruppe mit oraler antispastischer Medikation verringerte sich von 61,4 auf 40,4 % (Gesamtkohorte: 46,1 auf 28,5 %), die Notwendigkeit einer Lagerung reduzierte sich von 50,9 auf 36,8 % (Gesamtkohorte: 58,3 auf 52,0 %) und der Bedarf an Schienen nahm von 43,9 auf 31,6 % ab (Gesamtkohorte: 41,2 auf 32,5 %).

Abb. 3
figure 3

Vergleich der erforderlichen Begleittherapien zur 1. und 2. Visite in der deutsch-österreichischen Patientengruppe und der Gesamtkohorte. ES elektrische Stimulation

In der D/A-Gruppe gab es geringe Unterschiede in der globalen Einschätzung des Therapienutzens zwischen Ärzten und Patienten (Abb. 4). Die Ärzte sahen für 75,4 % der Patienten einen Therapienutzen und für 22,8 % keine Veränderung (Gesamtkohorte: 90,1 % bzw. 9,0 %). Dagegen empfanden 80,7 % der Patienten einen Therapienutzen und 12,3 % keine Veränderung (Gesamtkohorte: 85,7 % bzw. 12,9 %).

Abb. 4
figure 4

Globale Einschätzung des Therapienutzens durch Ärzte und Patienten

Verträglichkeit

In der deutsch/österreichischen Subgruppe wurden keine therapiebedingten unerwünschten Ereignisse im Studienverlauf dokumentiert. In der Gesamtkohorte wurde ein unerwünschtes Ereignis mit Kausalzusammenhang zu BoNT-A (Armmuskelschwäche) berichtet.

Diskussion

In einer weltweit durchgeführten Beobachtungsstudie wurden Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT-A bei der routinemäßigen Behandlung von Armspastiken nach Schlaganfall untersucht [28, 29]. Um einen Überblick über das Therapiemanagement bezüglich der Zielsetzung und Zielerreichung im deutschsprachigen Raum zu erhalten, wurde die deutsch/österreichische Subgruppe post hoc analysiert und mit der Gesamtpopulation verglichen. In Übereinstimmung mit der Gesamtpopulation wurde mit ca. 80 % eine hohe Responderrate erzielt, definiert als das Erreichen des primär gesetzten individuellen Therapieziels. Im Vergleich zur Gesamtkohorte waren die Patienten der D/A-Gruppe bereits länger mit BoNT-A vorbehandelt, die Anzahl der vorangegangenen Behandlungszyklen sowie der Anteil der Patienten mit fixierten Kontrakturen waren höher. Dennoch führte die aktuelle Therapie zu einem neuerlichen Behandlungserfolg im Sinne der individuellen Zielerreichung. Dies stärkt die Rationale für eine Anwendung von BoNT-A bei chronischer Spastizität, insbesondere in Anbetracht der limitierten Behandlungsoptionen. Ebenfalls für die Eignung in der Langzeitanwendung spricht, dass bei mehrfacher Anwendung keine neutralisierenden Antikörper gefunden [3] und langfristige Verbesserungen in aktiver und passiver Funktion beobachtet wurden [16, 19].

Die Verwendung von GAS als primäres Maß für den Therapieerfolg wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Während einige Experten Bedenken in Bezug auf die Validität äußerten [24] und andere die Entwicklung standardisierter Zielbereiche anregten [24, 32], wird GAS zunehmend als sensible Methode zur Erfassung patientenbezogener Therapieergebnisse angesehen [12, 17]. Besonders die große Bandbreite von Zielbereichen gilt als Vorteil dieser statistischen Methode [1, 9, 20, 27]. Unter Berücksichtigung der Limitierungen der GAS wurde die strukturiertere GAS-eous („Goal Attainment Scale-Evaluation of Upper Limb Spasticity“) für den klinischen Alltag entwickelt und wird in der aktuell laufenden ULIS-III-Studie eingesetzt [26]. Im Gegensatz zu standardisierten Bewertungsskalen entscheiden bei GAS und GAS-eous die Patienten, welches individuelle Therapieziel sie als wichtig erachten. Hierdurch gewinnt der Patient einen größeren Einfluss auf den Therapieerfolg. So lange es sich um spezifische, bewertbare und realistisch zu erreichende Ziele handelt, die der behandelnde Arzt zusammen mit dem Patienten vereinbart, besitzen alle genannten Ziele eine medizinische Relevanz.

Eine Post-hoc-Analyse der ULIS-II-Studiendaten ergab, dass auch bei Vorhandensein von Kontrakturen noch sinnvolle Behandlungsziele gesetzt und erreicht werden können. Das Erreichen der Therapieziele führte wiederum zu einer höheren Patientenzufriedenheit mit der Therapie. Dabei wurde die Auswahl des primären Ziels durch die Schwere der Einschränkung motorischer Funktionen, Kontrakturen und Spastizität sowie Alter und Zeitpunkt des Schlaganfalls beeinflusst [14]. Ein Zusammenhang zwischen der Wahl des primären Ziels und der Erkrankungsdauer wurde auch bereits in einer internationalen Querschnittsstudie bestätigt [6]. Bei Patienten mit einer Erkrankungsdauer von <3 Monaten standen Ziele mit Bezug zu aktiven Funktionen im Vordergrund. Bei chronischen Patienten waren es dagegen Ziele mit Bezug zu passiven Funktionen, wie Erleichterung der Unterstützung beim Ankleiden, Körperhygiene und Erhalt der Beweglichkeit im spastischen Bewegungssegment. In der ULIS-II-Studie wiesen die Patienten eine durchschnittliche Erkrankungsdauer von mindestens 5 Jahren, in der deutsch/österreichischen Kohorte sogar von 8 Jahren auf. Dieser zeitliche Unterschied der Erkrankungsdauer und das häufigere Auftreten von Kontrakturen bei der D/A-Kohorte im Vergleich zur Gesamtkohorte sind mögliche Gründe, warum das am meisten genannte primäre Ziel der D/A-Kohorte nach der Körperfunktionsstörung die Verbesserung der Schmerzen war, wohingegen die aktive Funktion in dieser Kohorte deutlich seltener als Ziel genannt wurde. Inwieweit ein unterschiedliches Spastikmanagement zwischen den Kohorten eine Rolle spielt, ist aufgrund der zu geringen Patientenzahlen nicht zu beurteilen und es bedarf einer umfangreicheren Studie, um eine validierte Aussage treffen zu können.

Die vergleichbar gute Zielerreichung sowohl in der D/A- als auch der Gesamtkohorte spricht für eine sehr gute Zielsetzung. Abweichungen zeigen sich am deutlichsten in der Zielerreichung der Verbesserung aktiver Funktionen, welches in dieser Population mit chronischer Spastizität auch eines der ambitioniertesten Ziele darstellt und dadurch schwieriger zu erreichen ist. Die Aussagekraft für die beiden Ziele Mobilität und unwillkürliche Bewegung ist aufgrund der in beiden Gruppen niedrigsten Gruppengröße am geringsten.

Der GAS-T-Score der deutsch/österreichischen Patientengruppe lag mit 48,1 etwas unter dem der Gesamtkohorte (52,0). Dennoch liegen beide Werte dicht am Erwartungswert 50 ± 10 [25], was für eine erfahrene und gute Zusammenarbeit von Patient und Ärzteteam beim Setzen der erreichbaren Ziele spricht. In der Literatur wird die Veränderung des GAS-T-Scores um >10 als klinisch relevant beschrieben [25, 27, 30]. Der Anstieg um 14,8 in der D/A-Gruppe bzw. um 17,6 in der Gesamtkohorte bestätigt die Ergebnisse einer randomisierten klinischen Studie [20] und zeigt, dass BoNT-A auch im Praxisalltag klinisch relevante Veränderungen auf funktionaler Ebene herbeiführen kann. Dies wurde auch in einer doppelblinden, randomisierten, kontrollierten Studie anhand der signifikanten Veränderung der aktiven und passiven Funktion bestätigt [15].

Bemerkenswert ist die Reduktion von Begleittherapien zur zweiten Visite, insbesondere der oralen antispastischen Medikation, welche häufig mit Nebenwirkungen assoziiert ist bzw. bei Langzeitanwendung über mehrere Monate infolge einer Toleranzbildung ihre Wirkung verliert [3]. Unter BoNT-A wurden dagegen bei den D/A-Patienten keine unerwünschten Arzneimittelwirkungen beobachtet. Viele Patienten erhielten zum Injektionszeitpunkt weitere Begleittherapien wie Schienen und Lagerung. Eine Abnahme dieser Maßnahmen hat positive Folgen für das Gesundheitswesen und bedeutet weniger Belastung für den Patienten und das Pflegeteam. Ob jedoch die Reduktion in der Notwendigkeit von Begleittherapien eine kausale Folge von BoNT-A ist, muss in gut kontrollierten klinischen Studien verifiziert werden. Die Behandlung mit BoNT-A wurde sowohl von Ärzten als auch von Patienten insgesamt sehr positiv bewertet, was für einen hohen Nutzen der Therapie in der täglichen Praxis spricht.

Die Studie ist durch das nichtinterventionelle Studiendesign und das Fehlen einer Kontrollgruppe limitiert, sodass keine kausalen Schlüsse zulässig sind. Die Begrenzung der Patientenzahl pro Zentrum auf 5 bis 12 könnte die Ergebnisse etwas verzerren, da möglicherweise bei der Selektion der Patienten solche mit weniger häufigen Formen der Armspastik unterrepräsentiert waren. Der Vergleich der deutsch/österreichischen Subgruppe mit der Gesamtkohorte ist statistisch vorsichtig zu interpretieren, da die D/A-Patienten in der Gesamtkohorte ebenfalls enthalten sind und 12,5 % dieser Population ausmachen. Die beobachteten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen sind demnach in der Realität sogar größer als die Zahlen vermuten lassen. In der ULIS-II-Studie wurde nur ein Injektionszyklus über 3 Monate beobachtet, was für die meisten gesetzten Ziele ein relativ kurzer Zeitraum ist. In der oben erwähnten ULIS-III-Studie wird derzeit der Effekt der BoNT-A-Behandlung bei wiederholten Injektionen über 2 Jahre beobachtet. Dadurch erwarten wir noch validere Daten zum Langzeitverlauf der Praxis der BoNT-A-Behandlung.

Fazit für die Praxis

  • Nach einmaliger Injektion von BoNT-A wurde eine hohe Responderrate von ca. 80 % erzielt, definiert als das Erreichen des primär gesetzten individuellen Therapieziels.

  • Die Mehrheit der Patienten erreichte die gesetzten Therapieziele, insbesondere in Bezug auf passive Funktionen und Schmerz.

  • Die Injektion mit BoNT-A führte somit zu Verbesserungen im Lebensalltag von Patienten und Betreuern, die über die Abnahme von Tonus oder Spastizität hinausgehen.

  • Die Analyse der D/A-Subgruppe der ULIS-II-Population zeigt, dass die Behandlung von Patienten mit Armspastik nach Schlaganfall in Deutschland und Österreich gut dokumentiert ist und auf qualitativ hohem Niveau stattfindet.

  • Trotz guter Ergebnisse, könnte generell die Behandlungsroutine noch optimiert werden, insbesondere die breitflächige interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die langfristige Einbindung der Patienten in multidisziplinäre Rehabilitationsprogramme.