Hintergrund

Affektive Störungen zählen zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) dürften depressive Episoden – als am häufigsten verbreitetes Störungsbild aus der Gruppe der affektiven Störungen – in den kommenden 20 Jahren nach Krebs und Herz-Kreislauf-Problemen zur Volkskrankheit Nummer drei werden [1]. In Österreich durchlaufen ca. 10 % der Bevölkerung ein- oder mehrmals in ihrem Leben eine depressive Episode. Jährlich fallen dadurch einschließlich der Folgekosten wie z. B. Arbeitsunfähigkeit ca. 370 Mio. Euro an [1]. Depressive Episoden stellen somit für den betroffenen Menschen erhebliches Leid und für die Volkswirtschaft eine enorme Belastung dar. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Suche nach kostensparenden und effektiven Behandlungsformen immer mehr Bedeutung.

Antidepressiva sind eine effektive und gemeinhin verbreitete Therapiemöglichkeit in der Depressionsbehandlung [2]. Die Behandlung von Depressionen mit Psychopharmaka birgt jedoch das Risiko von Residualsymptomen oder einem Krankheitsrückfall nach dem Absetzen der Medikamente [3, 4]. Zudem wird von einer Phase der pharmakologischen Wirklatenz zu Beginn der medikamentösen Therapie berichtet [5]. Bei der Einnahme von Antidepressiva treten häufig unangenehme Nebenwirkungen auf, die Patienten berichten von einem generell verminderten Wohlbefinden [6], ferner stellt die langfristige Behandlung mit Antidepressiva einen Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen dar [7]. Ein weiteres Problem der pharmakologischen Depressionsbehandlung ist die mangelnde Therapieadhärenz. Es wird angenommen, dass 50 % der psychiatrisch behandelten Patienten und 50 % der hausärztlich versorgten Patienten ihre Therapie selbstständig und vorzeitig abbrechen [8].

Das UK National Institute of Clinical Excellence (NICE; [9]) empfiehlt psychologische und psychotherapeutische Methoden zur Behandlung depressiver Patienten. Tatsächlich werden Psychotherapien immer erfolgreicher und häufiger in der Depressionsbehandlung eingesetzt [10, 11]. Dennoch werden Psychologen und Psychotherapeuten aufgrund der immer noch bestehenden Stigmatisierung häufig ungern von den Patienten aufgesucht [12]; zudem ist der Behandlungsaufwand sowohl aus Sicht der Kostenträger als auch bezogen auf den zu investierenden Zeitaufwand als beträchtlich einzustufen.

Vor dem Hintergrund, dass die soeben genannten Therapiemaßnahmen häufig nur zu einer partiellen Response führen, wird das Interesse an alternativen Therapiemethoden zur Depressionsbehandlung verständlich. Neben den genannten ressourcenintensiven Standardbehandlungsformen Psychopharmakologie und/oder Psychotherapie können sport- und bewegungstherapeutische Maßnahmen eingesetzt werden, da sich gezeigt hat, dass Bewegungsinterventionen Residualsymptomen der Depression oder einem Krankheitsrückfall nach dem Absetzen der Medikamente effektiv entgegenwirken [5]. Bewegungstherapeutische Maßnahmen benötigen weder hohen finanziellen noch technischen Aufwand und sind meist in der Gruppe durchführbar. Therapeutisch begleitetes Ausdauertraining bei Patienten mit depressiven Störungen verbessert nicht nur die Krankheitssymptomatik, sondern spart zusätzlich dem Gesundheitssystem Kosten, indem die stationäre Aufenthaltsdauer verkürzt wird [13].

Ziel der Arbeit

Im letzten Jahrzehnt haben intensive Forschungsbemühungen zur Erfassung des Potenzials von Bewegungsinterventionen in der Behandlung von Depressionen stattgefunden. Aus diesem Grund erfolgt in der vorliegenden Arbeit eine Zusammenfassung der bestehenden Datenlage zu dieser Thematik, wobei Bewegung in Anlehnung an Bouchard und Desprès [14] als jegliche körperliche Aktivität definiert wird, welche mit einem erhöhten Energieverbrauch verbunden ist.

Ein Cochrane-Review [15] aus dem Jahr 2013 kam zu dem Schluss, dass – trotz einiger methodischer Mängel in den durchgeführten Forschungsarbeiten – Bewegung im Vergleich zu einer Kontrollbedingung zu einer Verbesserung der depressiven Symptomatik führt. Beim Vergleich der Wirksamkeit von Bewegung mit konventionellen Behandlungsmaßnahmen konnten die Autoren keine signifikanten Unterschiede zwischen den Behandlungsansätzen finden. Ekkekakis [16] unterzog diesen Reviewartikel einer kritischen Prüfung, die sich insbesondere auf Studien bezog, welche in ihren Kontrolldesigns ebenfalls Bewegungsinterventionen verwendeten, und konnte nach dem Aufdecken einiger Fehler einen signifikanten Effekt zugunsten von Bewegung verglichen mit konventionellen Therapieansätzen aufzeigen.

Der vorliegende Artikel bietet im deutschsprachigen Raum erstmals einen systematischen Überblick der Fachliteratur zu den Effekten körperlicher Aktivität auf die Symptomatik depressiver Patienten. Aufbauend auf die Übersichtsarbeiten von Rimer et al. [17] und Cooney et al. [15] wird versucht, die seither intensiven Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet zu integrieren.

Neben den Ergebnissen der Zielvariablen (Affekt, Stimmung, Wohlbefinden, depressive Symptomatik) werden die Studiendesigns, Art und Ausmaß der Bewegungseinheit, sowie die verwendeten Erhebungsinventare tabellarisch dargestellt.

Damit sollen Anregungen für den Einsatz bewegungsbezogener Interventionen in der Behandlung von Depressionen und Denkanstöße für die zukünftige Forschung auf diesem Gebiet gegeben werden.

Methode: Suchstrategien und Einschlusskriterien

Unter Berücksichtigung der Schlüsselwörter („exercise“, „physical activity“, „bipolar disorder“, „affective disorder“, „depression“) wurden die Datenbanken Pubmed (1980 bis März 2016), Web of Science (1980 bis März 2016), EMBASE (1980 bis März 2016), MEDLINE (1950 bis März 2016) und PsycInfo (1980 bis März 2016), durchsucht. Zudem wurden Überblicksartikel und Sekundärliteratur berücksichtigt.

In diese Analyse wurden nur Studien integriert, die den Effekt körperlicher Aktivität bei erwachsenen Personen mit depressiver Störung im Vergleich zu einer Kontrollbedingung (Ruhebedingung, Placebobedingung, pharmakologische Behandlung, psychologische Behandlung, andere Aktivität) untersuchten. Zudem wurde ein kontrolliert randomisiertes Studiendesign (Zuteilung der Probanden zu den Interventions- bzw. Kontrollgruppen erfolgte unter Verwendung eines Zufallsmechanismus) vorausgesetzt.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 48 Artikel anhand von Titel, Abstract oder Gesamtartikel gefunden (Tab. 1). Mit einer randomisierten und kontrollierten Studie untersuchten davon 24 Studien (Studien: [1, 10, 11, 1719, 21, 22, 29, 3136, 3945, 47, 48]) die Effekte körperlicher Aktivität bei depressiven Patienten im Vergleich zu einer Ruhebedingung (Warteliste, alternative Zuwendung, herkömmliche Behandlung, Kontrollgruppe), 5 (Studien: [1416, 20, 23]) im Vergleich zu einer psychologischen/psychotherapeutischen Intervention, 9 (Studien: [26, 26, 27, 37, 46]) im Vergleich zu pharmakologischen Behandlungen und 6 (Studien: [10, 25, 30, 32, 38, 40]) im Vergleich zu alternativen Behandlungen (Entspannungstechniken, Lichttherapie …). 13 (Studien: [2, 79, 1113, 24, 25, 28, 43, 45, 47]) Studien untersuchten die Auswirkungen von unterschiedlichen Bewegungsintensitäten und Modalitäten auf die Symptomatik depressiver Patienten.

Die Auswirkungen einer Bewegungsintervention auf die affektive Befindlichkeit und die Symptomatik depressiver Patienten wurden mit unterschiedlichen Inventaren untersucht. Am häufigsten kamen dabei das Beck Depression Inventory [18] und die Hamilton Rating Scale for Depression [19] zum Einsatz.

Insgesamt 34 [2, 718, 20, 21, 24, 2629, 3135, 37, 3944, 46, 48] der 48 in den Literaturüberblick aufgenommenen Studien berichteten von signifikant positiven Auswirkungen der Bewegungsinterventionen auf die depressive Symptomatik und affektive Befindlichkeit der Patienten. 5 Studien [46, 23, 47] berichteten von einer tendenziell reduzierten depressiven Symptomatik infolge der Bewegungsintervention, während 9 Studien [1, 3, 19, 22, 25, 30, 36, 38, 45] keinen positiven Einfluss von Bewegung auf die depressive Symptomatik und affektive Befindlichkeit feststellen konnten.

Um einen genaueren Überblick über die Auswirkungen der Bewegungsintervention der analysierten Studien geben zu können, erfolgt eine deskriptive Bewertung der Ergebnisse geordnet nach den Vergleichsbedingungen (Tab. 1).

Tab. 1: Übersicht über die eingeschlossenen kontrollierten randomisierten klinischen Studien

Vergleich mit einer Ruhebedingung

In 18 (Studien: [10, 11, 17, 18, 21, 29, 3135, 3944, 48]) der 24 Studien, welche die Effekte körperlicher Aktivität bei depressiven Patienten im Vergleich zu einer Ruhebedingung untersuchten, zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen den Patienten, welche an einem Bewegungsprogramm teilgenommen hatten, und den Patienten in den Kontrollgruppen. Die Bewegungsinterventionen wirkten sich positiv auf die depressive Symptomatik und affektive Befindlichkeit der untersuchten Patienten aus.

Vergleich mit psychotherapeutischen Methoden

Bei einem Vergleich von Bewegungsinterventionen mit psychotherapeutischen Methoden zur Verminderung der depressiven Symptomatik konnte in einer (Studie [20]) von 5 Untersuchungen gezeigt werden, dass Bewegung eher zu einer stärkeren Verminderung der depressiven Symptomatik führt als Psychotherapie. In 4 weiteren Untersuchungen (Studien: [1416, 23]) zeigte sich, dass sowohl Bewegungsinterventionen als auch kognitive Therapien, sowie eine Kombination dieser beiden Behandlungsansätze zu einer Reduktion der depressiven Symptomatik und zu einer Steigerung der affektiven Befindlichkeit führen.

Vergleich mit psychopharmakologischen Maßnahmen

Beim Vergleich der Wirksamkeit von Bewegung mit der Wirksamkeit psychopharmakologischer Behandlungsmaßnahmen konnten 4 Untersuchungen (Studien: [36]) keine signifikanten Unterschiede zwischen diesen Behandlungsansätzen finden. Hingegen zeigten 4 Untersuchungen (Studien: [2, 26, 27, 37]), dass eine kombinierte Therapie aus Bewegung und Psychopharmaka eine bessere Wirkung erzielt als eine rein medikamentöse Behandlung. Eine Studie (Studie: [46]) konnte eine signifikante Reduktion der depressiven Symptomatik infolge der Bewegungsintervention finden, jedoch nicht infolge einer medikamentösen Therapie.

Vergleich mit alternativen Behandlungsverfahren

Bei einem Vergleich der Auswirkungen von Bewegung mit den Auswirkungen alternativer Behandlungsverfahren zeigte sich, dass Ausdauertraining ähnlich positive Effekte auf die affektive Befindlichkeit depressiver Patienten hat wie ein Training zur besseren Körperwahrnehmung (Studie: [10]), Lichttherapie (Studie: [38]) oder Yoga (Studie: [40]). Eine Studie konnte keine signifikante Verminderung der depressiven Symptomatik infolge der Bewegungs- bzw. Entspannungsintervention feststellen (Studie: [25]). Jedoch konnte in dieser Untersuchung ein positiver Effekt regelmäßigen, anstrengenden Zirkeltrainings auf die Arbeitsfähigkeit der untersuchten Patienten gezeigt werden. Dass die Stabilisierung des Schlaf-Wach-Rhythmus in Kombination mit einer Lichttherapie eine effektivere Methode zur Reduzierung der depressiven Symptomatik und Verbesserung der affektiven Befindlichkeit ist als eine tägliche Bewegungseinheit konnte in einer Studie [30] gezeigt werden. Beim Vergleich der Wirksamkeit einer Bewegungsintervention mit einem Muskelrelaxationsprogramm wurde eine Reduktion der depressiven Symptomatik infolge der Bewegungsintervention festgestellt (Studie: [32]).

Wirkung von Bewegungsintensitäten und -modalitäten

Insgesamt 10 (Studien: [2, 79, 1113, 24, 28, 43]) der Studien, welche die Auswirkungen von unterschiedlichen Bewegungsintensitäten und -modalitäten auf die Symptomatik depressiver Patienten untersuchten, konnten im Vergleich zur Ausgangserhebung eine Verminderung der depressiven Symptomatik infolge der Bewegungsintervention aufzeigen. In 2 [2, 43] Studien wurde festgestellt, dass Bewegungsprogramme hoher Intensität eher zu einer Verminderung depressiver Symptomatik führen als solche geringerer Intensität. In einer Untersuchung [24] wurde belegt, dass zügiges Gehen am Laufband depressive Symptome eher verringert als sanftes Stretching.

Diskussion

Dieser Überblicksartikel zeigt unter Berücksichtigung jüngster experimenteller Daten, dass körperliche Aktivität zu einer Verminderung der Symptomatik und einer Steigerung der affektiven Befindlichkeit bei Patienten mit depressiven Erkrankungen führen kann. Dieser Effekt konnte sowohl bei Patienten mit unipolaren als auch bei Patienten mit bipolaren Depressionen beobachtet werden, wobei hervorgehoben werden muss, dass die in diesen Überblicksartikel aufgenommenen Studien vorwiegend unipolar depressive Patienten untersucht haben.

Physiologische und psychologische Erklärungsmodelle

Für die zielgruppenorientierte Entwicklung effektiver Bewegungsprogramme zur Behandlung depressiver Erkrankungen ist eine Erklärung für die experimentell bestätigte Kausalbeziehung von Bewegung und der Verringerung depressiver Symptome wichtig. Es existieren viele physiologische und psychologische Modelle zur Erklärung dieses Wirkmechanismus [20]. Die meisten konnten jedoch bis heute nicht empirisch belegt werden [21].

Neben Erklärungsmöglichkeiten wie der Endorphinhypothese, der Ablenkungshypothese, der Selbstwirksamkeitshypothese oder der Theorie meditativer Bewusstseinszustände, die sich populärwissenschaftlicher Beliebtheit erfreuen, scheinen vor allem die transiente Hypofrontalitätstheorie (THFT), das Dual-Mode-Modell (DMM), das serotonerge System sowie die „adulte Neurogenese“ Aufschluss über dieses Phänomen zu geben.

Hypofrontalitätstheorie

Die THFT geht davon aus, dass während körperlicher Bewegung spezifische Gehirnareale aktiviert werden. Untersuchungen mittels Positronenemissionstomographie (PET), Elektroenzephalographie (EEG) und Single-Photonen-Emissions-Computertomographie (SPECT) haben gezeigt, dass während Bewegung die motorischen, sensorischen und autonomen Regionen des Gehirns aktiv sind [22]. Da bestimmte Bewegungsausführungen ein komplexes Zusammenspiel einer Vielzahl von Muskeln voraussetzen, ist für die erfolgreiche Bewegungsausführung eine Art „Rechenleistung“ in den entsprechenden Gehirnarealen notwendig [22]. Das führt zu einer erhöhten Sauerstoffnachfrage. Da der Blutfluss zum Gehirn und der zerebrale Stoffwechsel aber nicht ansteigen, kommt es während Bewegung zu einer Ressourcenverschiebung [23]. Das heißt, dass vor allem sensorische, motorische und autonome Gehirnregionen versorgt werden, während neuronale Aktivitäten in neutralen Strukturen, die für die Bewegungsausführung unwesentlich sind, gesenkt werden [24]. Dabei werden vor allem Areale im präfrontalen Kortex, die für Kontrollprozesse mit dem Ziel der Top-down-Kontrolle von Kognition und Emotion zuständig sind [25, 26], herunterreguliert.

Studien konnten zeigen, dass es möglich ist, auf diese Weise zumindest für den Zeitraum der Bewegungsausführung negativen emotionalen Zuständen zu entkommen [27].

Dual-Mode-Modell

Im DMM werden physiologische und psychische Mechanismen zur Erklärung der Befindlichkeitssteigerung infolge von Bewegung eingebunden. Dabei werden vor allem die „Dosis-Wirkungs-Beziehung“, „interindividuelle Unterschiede in der Affektantwort“, und „die Vielfältigkeit der affektiven Antworten“ berücksichtigt [28, 29]. Das DMM geht davon aus, dass die „Affektantworten“ auf physische Aktivität durch zwei (sich gegenseitig beeinflussende) Faktoren ausgelöst werden. Ein Faktor wird dabei von „Wahrnehmung“, „Kognition“ und „Erkenntnis“ gebildet, ein anderer von den „interozeptiven Signalen“ (Innenreizen) über den Zustand des Körpers (z. B. thermische, muskuläre, respiratorische Parameter). Es wird angenommen, dass sich das Verhältnis dieser beiden Faktoren gleichzeitig mit der Belastungsintensität ändert. Bei körperlicher Aktivität geringer und mittlerer Intensität werden die affektiven Antworten von „kognitiven Faktoren“ determiniert [28, 29]. Bei körperlicher Aktivität hoher Intensität gewinnen hingegen dazu die „interozeptiven Signale“ mehr an Einfluss.

Demnach sind die affektiven Antworten auf Bewegung geringer Intensität vorwiegend positiv, während bei zu intensiver Bewegung vermehrt negative affektive Antworten beobachtet werden konnten [28, 29].

Das serotonerge System

Einen weiteren Erklärungsansatz bietet die Regulation des Serotoninspiegels durch Ausdauertraining [30]. Serotonin ist ein Neurotransmitter, der sowohl das Verhalten als auch die Stimmung eines Individuums beeinflusst. Serotoninmangel kann zur Ausbildung depressiver Symptome führen [31].

Ausgangssubstanz für die Bildung des Serotonins ist die essenzielle Aminosäure Tryptophan. Damit eine ausreichende Serotoninsynthese im Gehirn erfolgen kann, muss „freies Tryptophan“ die Blut-Hirn-Schranke passieren. Tryptophan „konkurriert“ jedoch mit anderen (neutralen) Aminosäuren, den LNAA („large neutral amino acids“: Valin, Isoleucin und Leucin) um denselben Transporter an der Blut-Hirn-Schranke. LNAA werden durch die Ausschüttung von Insulin in die Muskelzelle aufgenommen [32]. Das hat einen positiven Effekt auf die Tryptophanaufnahme im Gehirn. Die Insulinausschüttung (für den Transport der LNAA in die Arbeitsmuskulatur) wird unter anderem durch körperliche Aktivität hervorgerufen [33].

„Adulte Neurogenese“

Direkte Effekte von Bewegung auf die Neubildung von Neuronen liefern eine weitere Erklärung für die Befindlichkeitssteigerung infolge körperlicher Aktivität [30, 34]. Depressionen gehen offenbar mit einem verringerten Hippokampusvolumen einher [35]. Tierexperimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass motorische Aktivität und körperliche Belastung sowohl zu einem Anstieg der regionalen Gehirndurchblutung als auch zu einem Anstieg neurotropher Wachstumsfaktoren führen. Dadurch wird die Vernetzung und Neubildung von Nervenzellen im Hippokampus begünstigt [36].

Mit diesen Theorien kann die positive affektive Antwort auf Bewegung bzw. die Verringerung der depressiven Symptomatik infolge von Bewegung erklärt werden. Dennoch sind weitere Untersuchungen erforderlich, um die anhaltenden Effekte von Bewegung auf das psychische Wohlbefinden vollständig aufklären zu können. Dabei sollten sowohl biochemische, physiologische als auch psychologische Ansätze integriert werden.

Ausblick

Aber nicht nur die Ursachenaufklärung des beobachteten Effektes von Bewegung auf die affektive Befindlichkeit und die depressive Symptomatik von Patienten bedarf weiterer Untersuchungen. Bei Betrachtung des aktuellen Forschungsstandes dazu, sollten zukünftig sowohl unmittelbare als auch langzeitige Effekte von Bewegung, sowie die Auswirkungen unterschiedlicher Bewegungsintensitäten und -formen auf die affektive Befindlichkeit und die Symptomatik von Patienten mit depressiven Erkrankungen untersucht werden.

Motivation und Compliance

Die zunehmende wissenschaftliche Beweislast vom Nutzen körperlicher Aktivität bei depressiven Erkrankungen steht einer niedrigen Motivation und Compliance der Patienten gegenüber. Es ist notwendig, diese durch einen bewegungsarmen Lebensstil zu beschreibende Patientengruppe [6, 37] nachhaltig zu mehr körperlicher Bewegung zu motivieren. Es hat sich gezeigt, dass die Compliance psychiatrischer Patienten für die Teilnahme an einem Ausdauertrainingsprogramm durch Techniken der motivierenden Gesprächsführung (z. B. Konzept der Entscheidungsbalance) deutlich erhöht werden konnte [38]. Das tägliche Protokollieren der Aktivitäten und die engmaschige persönliche Betreuung durch den Bewegungstherapeuten [39], sowie Gespräche zu Beginn der Bewegungsintervention über mögliche Hindernisse zur Aufrechterhaltung der körperlichen Aktivität und regelmäßiges Feedback über die erzielten Fortschritte im Lauf des Bewegungsprogramms [37] führten zu einer regelmäßigeren Beteiligung an den Bewegungsprogrammen. Obwohl bisher keine Daten zu der Höhe der tatsächlichen durchschnittlichen Abbruchsquote von Bewegungsinterventionen bei depressiven Patienten vorliegen, sollten sich weitere Untersuchungen damit auseinander setzen, wie eine Reduktion dieser Abbruchsquote erreicht werden kann.

Bisher gibt es widersprüchliche Empfehlungen bezüglich Dauer, Frequenz und Intensität der Bewegungsinterventionen bei depressiven Patienten [40]. Daher wäre es von hohem Interesse, jene „optimale Bewegungsdosis“ ausfindig zu machen, welche eine positive Veränderung der affektiven Befindlichkeit bzw. der depressiven Symptomatik bewirkt. Eine Befragung depressiver Patienten zu den Präferenzen von Bewegung als Behandlungsmethode hat ergeben, dass ein einmal täglich angeleitetes 30- bis 60-minütiges Training (bevorzugt Walken) moderater Intensität erwünscht wird [41].

Studiendesigns

Obwohl in diesen Überblicksartikel auch Studien mit teilweise kleinen Stichproben und nichtstandardisierten Inklusionskriterien aufgenommen wurden, lässt sich aufgrund der verfügbaren Datenlage insgesamt eindeutig ein positiver Effekt von Bewegungsinterventionen auf die affektive Befindlichkeit und die Symptomatik depressiver Patienten feststellen. Zur weiteren Verbesserung der Datenlage sollten zukünftige Studien vor allem mit randomisierten Untersuchungsdesigns und mit homogenen Kontrollgruppen bzw. Kontrollbedingungen arbeiten. Um eine bessere Vergleichbarkeit der Studien zu gewährleisten, sollte eine möglichst einheitliche methodische Vorgangsweise bei der Erfassung der Zielvariablen (affektive Befindlichkeit und depressive Symptomatik) gewählt werden.

Behandlungsempfehlung

Es ist bekannt, dass depressive Patienten eine deutlich reduzierte Lebenserwartung aufweisen [42]. Durch die Integration körperlicher Aktivität in die Behandlung von Patienten mit Depressionen könnte neben der Verbesserung der krankheitsbedingten Symptomatik auch eine Verbesserung des somatischen Zustandsbildes dieser Patientengruppe durch die Reduktion kardiovaskulärer Risikofaktoren erreicht werden. Das gilt trotz höherer somatischer Komorbidität auch für depressive Patienten im höheren Lebensalter. Für ältere Patienten sollten die Trainingsprogramme Ausdauer- und Kräftigungseinheiten beinhalten, sie sollten methodisch gut strukturiert sein und an den Trainingszustand und die individuellen Fähigkeiten der Patienten angepasst werden [43].

Um eine konkrete Behandlungsempfehlung für depressive Patienten entwickeln zu können, sind weitere Forschungsbemühungen notwendig. Insbesondere Informationen zur idealen Bewegungsdauer, -häufigkeit und -intensität sowohl bezüglich unmittelbarer Auswirkungen während und nach einzelnen Bewegungseinheiten als auch bezüglich längerfristiger Bewegungsinterventionen sind dabei von Interesse.

Fazit für die Praxis

Für die psychiatrische Praxis lässt sich empfehlen, dass am aktuellen Trainingszustand depressiver Patienten orientierte moderate Bewegungsinterventionen auf Basis des aktuellen Forschungsstandes einen Behandlungsbaustein im Rahmen eines mehrdimensionalen therapeutischen Zuganges darstellen sollten.