Die rasante Entwicklung auf dem Gebiet der Erforschung der schubförmigen Multiplen Sklerose (RRMS) und die Translation der Erkenntnisse in therapeutische Ansätze gehören zu den fruchtbarsten in der klinischen Neurologie. Es ist daher nicht verwunderlich, dass wir innerhalb von 20 Jahren – ausgehend von der Etablierung der β-Interferone (IFN-β; [1]) und Glatiramerazetat als erste zugelassene Medikamente – inzwischen mehr als zehn, darunter drei orale Präparate zur Therapie der RRMS zur Verfügung haben [2]. Dabei hat die fortdauernde Weiterentwicklung und Standardisierung klinischer Medikamentenstudien nicht zuletzt zu einer kürzeren Übertragungszeit von therapeutischen Überlegungen zu zugelassenen Medikamenten mit zuverlässigem Wirkungsprofil im Sinne der evidenzbasierten Medizin geführt. Ihre Wirksamkeit wurde gewissermaßen als Überlegenheit gegenüber Placebo ausgedrückt.

In der vorliegenden Ausgabe des Nervenarzt fassen Leussink et al. [1] die Ergebnisse einer klinischen Studie zusammen, in der die Wirksamkeit eines modifizierten IFN-β1a-Präparates untersucht wurde [3]. Kurz zusammenfasst, belegten die Ergebnisse dieser Studie, dass bei der schubförmigen MS pegyliertes IFN-β1a (125 μg) alle zwei Woche subkutan injiziert wirksamer gegenüber Placebo ist; sowohl in der Prävention klinischer (Schübe) und paraklinischer (Läsionen im Magnetresonanztomogramm) Entzündungsaktivität als auch bei der Behinderungsprogression. Beim pegylierten IFN-β1a handelt es sich um die Modifikation eines seit knapp 20 Jahren zugelassenen Präparates, wobei die Applikationsfrequenz jetzt noch um eine weitere Woche verzögert werden kann, womit wiederum eine geringere Injektionsbelastung und damit höhere Compliance der Patienten erreicht werden soll. Dabei drängt sich die Frage auf, warum in dieser Studie Placebo als Kontrollarm verwendet wurde, obwohl seit der Zulassung des IFN-β1a 1996 mehr als genügend Erfahrungswerte hierfür vorhanden sind und sich die „Muttersubstanz“ als ausgezeichnete Kontrolle geeignet hätte? Wie im Übersichtsartikel von Leussink et al. bereits erwähnt, habe es sich beim Einsatz von Placebo um eine behördliche Auflage gehandelt.

Zulassungsbehörden müssen bei der Erarbeitung neuer Standards einbezogen werden

Es sind tatsächlich mehrere Faktoren, die weiterhin die Verwendung von Placebo in Zulassungsstudien bedingen. Dass es bereits Bemühungen gibt, große randomisierte MS-Medikamentenstudien mit einem aktiven Kontrollarm durchzuführen, zeigen jüngste Beispiele – zusammengefasst in [2]. So wurden bei einer der Zulassungsstudien von Fingolimod (TRANSFORMS) zwei verschiedene Konzentrationen der Wirksubstanz und IFN-β1a (Avonex®) miteinander verglichen [4]. Ebenfalls wurde bei einer der Daclizumab-Studien intermuskulär appliziertes IFN-β1a (Avonex®) als aktiver Kontrollarm verwendet (CHOICE) und ein subkutan injiziertes IFN-β1a (Rebif44®) kam bei einer Studie als Kontrolle zum Einsatz, bei der die Wirksamkeit von Alemtuzumab (Lemtrada®) untersucht wurde [5, 6]. Allerdings wurden parallel ebenfalls placebokontrollierte Studien mit Daclizumab (SELECT) und mit Fingolimod (FREEDOMS) durchgeführt, um auch den behördlichen Ansprüchen einer Zulassungsstudie gerecht zu werden [7, 8].

Die Frage, ob der Einsatz von Placebo in Medikamentenstudien noch ethisch vertretbar ist, v. a. für Erkrankungen, für die bereits zugelassene Medikamente verfügbar sind, wurde bereits nach der Revision der Deklaration von Helsinki im Jahre 2000 diskutiert. Zusammengefasst heißt es darin, dass Wirk- und Nebenwirkungsprofil neuer therapeutischer Ansätze gegen bereits etablierte Medikamente getestet werden sollen, ausgenommen bei Erkrankungen, für die es keine etablierten Ansätze gibt. Dort sei der Einsatz von Placebo weiterhin ethisch vertretbar [9]. Daraufhin erfolgte im Auftrag der US-amerikanischen MS-Gesellschaft eine Evaluation der ethischen Grundlage des Einsatzes von Placebo in MS-Medikamentenstudien [10]. Die von der Arbeitsgruppe erstellte Leitlinie befürwortete weiterhin den Einsatz von Placebo unter den Bedingungen, dass 1. placebobeinhaltende Studien in Ländern durchgeführt werden, in denen etablierte Medikamente aufgrund ökonomischer Verhältnisse nicht verfügbar sind, und 2. für Patienten, die trotz rigoroser Aufklärung, zugelassene Medikamente z. B. aufgrund schlechter Verträglichkeit oder fehlender Wirksamkeit ablehnen.

Im Jahr 2007 wurde wieder eine internationale Expertengruppe, die Kliniker, Ethiker, Statistiker und Vertreter der Pharmaindustrie und Zulassungsbehörden umfasste, von der amerikanischen MS-Gesellschaft beauftragt, die Leitlinie zum Einsatz von Placebo in klinischen MS-Studien zu überarbeiten [9]. Mit einigen Beschränkungen wurden grundsätzlich die vorherigen Leitlinien bestätigt, die heute noch bei der Konzeptualisierung von MS-Medikamentenstudien gültig sind. Demnach ist der Einsatz von Placebo ethisch vertretbar bei Indikationen, für die es keine zugelassenen effektiven Medikamente gibt, wie z. B. für die sekundär chronisch progrediente MS (SPMS), die keine Schubaktivität mehr aufweist, sowie für die primär chronisch progrediente MS (PPMS). Weiterhin sind Patienten, die etablierte Medikamente ablehnen, oder Patienten, die objektivierbare Unverträglichkeiten bzw. Nichtansprache auf zugelassene Medikamente aufweisen, für placebokontrollierte Studien geeignet. Ein Haupteinsatzgebiet für placebokontrollierte Studien bleiben weiterhin ressourcenbeschränkte Länder, v. a. in Osteuropa, in denen zugelassene MS-Medikamente nicht verfügbar bzw. nicht bezahlbar sind, sodass die Studien zum Teil die einzige Möglichkeit darstellen, MS-Patienten mit Medikamenten zu versorgen. Als mögliche Alternativen wurde vorgeschlagen, dass z. B. Placebo nur noch in Phase-II-Studien zum Einsatz kommt, bei denen die Anzahl von Patienten und der Beobachtungszeit deutlich kürzer sind, sodass Phase-III-Studien ohne Placebo durchgeführt werden könnten. In den Phase-III-Studien könnten dann die Studiensubstanzen soweit wie möglich z. B. als Add-on zu den bestehenden Medikamenten verabreicht werden. Die Studiensubstanzen könnten zudem direkt als aktiver Vergleichsarm mit bestehenden Medikamenten getestet werden im Sinne von sog. Head-to-Head-Studien. In jedem Fall sind ausführliche Aufklärungsgespräche unabdingbar, wobei Patienten, die bereits eine effektive Medikation haben, ausdrücklich nicht für die Teilnahme an Studien überredet werden sollen. Dazu sei es wichtig, dass es sich bei der aufklärenden Person nicht gleichzeitig um den behandelnden Arzt oder gar Vertreter der Pharmaindustrie handelt.

Angesichts der wachsenden Anzahl effektiver und gut verträglicher Medikamente, die für die Behandlung der schubförmigen MS zugelassenen sind, wird die Notwendigkeit einer Revision dieser Leitlinien zum Einsatz von Placebo in modernen Medikamentenstudien deutlich. Es braucht hierzu allerdings neu erarbeitete Standards, die sowohl statistische Herausforderungen berücksichtigen, die sich aus Head-to-Head-Studien mit größeren Fallzahlen ergeben, als auch nationale und internationale Zulassungs- und Überwachungsbehörden mit ins Boot nehmen, um die Anforderungen an Zulassungsstudien an die realen Gegebenheiten in der MS-Therapie anzupassen.