Neuere epidemiologische Untersuchungen lassen auf einen Wandel der HIV-Pandemie schließen. Bedingt durch die Einführung der HAART („highly active anti-retroviral therapy“) leben trotz rückläufiger Neuinfektionszahlen weltweit immer mehr HIV-positive Menschen. UNAIDS geht für 2007 von ca. 33 Mio. Infizierten aus [1]. Schätzungen zufolge soll HIV bis 2020 weltweit eine noch größere Verbreitung erfahren. Parallel dazu dürften sich auch psychiatrische Erkrankungen unter den „Top-10-Erkrankungen“ wiederfinden. Die Beleuchtung dieser Krankheitsbilder in ihrem gemeinsamen Auftreten und ihren gegenseitigen Wechselwirkungen ist also ein höchst aktuelles Thema [2].

Infolge der Lebenszeitverlängerung durch HAART treten zunehmend psychosoziale Aspekte in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen, um eine bessere Versorgung und eine Steigerung der Medikamentenadhärenz erzielen zu können. Psychosoziale Faktoren sind für den Erfolg der HAART entscheidend, da eine exakte Einhaltung des Therapieregimes die Wirksamkeit wesentlich beeinflusst und sich psychische Probleme hier negativ auswirken [3, 4]. Verschiedene Autoren rezenter Arbeiten [5, 6, 7] betrachten HIV bereits als chronischen, psychischen Stressor. Im Bereich der posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) respektive Stressreaktionssyndrome jedoch wurde die HIV-Diagnosestellung kaum als mögliche Ursache berücksichtigt. Diese Problematik spiegelt sich auch in den diagnostischen Manualen wider, da „schwere Erkrankung“ erst in der Version IV des DSM und der ICD ab Version 10 als potenzielle Ursache für PTBS angeführt ist.

Material und Methoden

Fragestellung, Stichprobe und methodisches Vorgehen

Mithilfe einer explorativen Querschnittsuntersuchung evaluierten wir gezielt emotionale Befindlichkeitsstörungen im Gefolge von HIV-Diagnosestellungen. Hierbei beachteten wir für möglicherweise auftretende HIV-assoziierte, posttraumatische Belastungssymptome (PTSS; posttraumatic stress symptoms) die Forschungsergebnisse von Maercker et al. [9] durch Berücksichtigung eines innovativen Konzepts der Anpassungsstörungen (AD, „adjustment disorder“) als Stressreaktionssyndrome. Die Autoren gehen davon aus, dass AD, analog zu PTBS, durch „Intrusion“, „Vermeidung“ und „Fehlanpassungssymptome“ gekennzeichnet sind. Die AD werden hier als Syndrome verstanden, die sich aus den genannten Symptomgruppen zusammensetzen. Auf die Notwendigkeit einer Revision der Diagnosegruppe wurde aufgrund unklarer Abgrenzung zu anderen Entitäten und häufiger Verwendung im klinischen Alltag auch an anderer Stelle hingewiesen [10].

In Tab. 1 sind die vorgeschlagenen diagnostischen Kriterien der AD systematisch dargestellt. Der Hauptunterschied zwischen PTBS und AD bestehe in der Schwere des Traumas: Die Autoren gehen davon aus, dass ein leichteres Trauma eher die Entwicklung einer AD begünstige. Erste empirische Befunde zeigen, dass das neue Konzept nach Maercker eine fundierte Basis für ein revidiertes AD-Konzept sein könnte [11]. Unserer Einschätzung nach erfüllt die HIV-Diagnosestellung eher die Kriterien der Life-event-Forschung und nicht die Kriterien von extremer, akuter Bedrohung, wie sie für die Diagnose der PTBS gefordert sind. Wie auch in einer Studie an 832 Personen gezeigt wurde, hatten Patienten mit einem „life event“ durchschnittlich sogar mehr posttraumatische Belastungssymptome (PTSS) als Personen mit einem Trauma, wobei PTSS infolge eines Traumas persistenter sein dürften [12].

Tab. 1 Vorgeschlagene diagnostische Kriterien der Apassungsstörung (nach Maercker)

Unter Berücksichtigung dieser aktuellen Forschungsergebnisse zielten wir in unserer explorativen Studie auf eine realistische Belastungseinschätzung ab. Weiters evaluierten wir die gesundheitsbezogene Lebensqualität, die Lebenszufriedenheit und die kognitive Leistungsfähigkeit von HIV-infizierten Patienten, um mögliche Zusammenhänge zwischen emotionalen Befindlichkeitsstörungen, kognitiven Beeinträchtigungen und Lebensqualität zu finden. Ein umfassenderes Verständnis von möglichen psychiatrischen Komplikationen im Gefolge der HIV-Erkrankung könnte die Basis für eine verbesserte biopsychosoziale Versorgung von HIV-Patienten darstellen.

Im Zeitraum von Juni 2008 bis Februar 2009 konnten wir insgesamt 37 HIV-infizierte Patienten, die an der Grazer Spezialambulanz für Infektionskrankheiten der Abteilung für Innere Medizin 1 des LKH West seit durchschnittlich 4,3 Jahren ambulant betreut wurden, in unsere explorative Studie einschließen. Die durchschnittliche CD4+-T-Lymphozyten-Anzahl der Studienteilnehmer betrug zum Zeitpunkt der biopsychosozialen Exploration durch die Autoren (D.B.; A. H-K; H.-B. R.) 486/μl. Alle Studienteilnehmer wurden explizit über die Freiwilligkeit ihrer Teilnahme aufgeklärt. Sämtliche Daten, die wir im Rahmen unserer systematischen Befragung erhoben, wurden anonym und vertraulich ausgewertet.

Testverfahren und Fragebögen

Medical Outcomes Study Short Form Survey

Mittels SF-36 (Medical Outcomes Study Short Form Survey) nach Stewart et al. [13] in der deutschen Übersetzung von Bullinger und Kirchberger [14] wurde die gesundheitsbezogene Lebensqualität gemessen. Der Selbstbeurteilungsfragebogen umfasst folgende 8 Gesundheitskategorien:

  • körperliche Funktionsfähigkeit,

  • körperliche Rollenfunktion,

  • körperliche Schmerzen,

  • allgemeine Gesundheit,

  • soziale Funktionsfähigkeit,

  • Vitalität,

  • emotionale Rollenfunktion und

  • seelisches Wohlbefinden.

Die Reliabilität (Cronbach’s α) liegt zwischen α=0,57 und α=0,94.

Beck’s Depression Inventory

Depressive Symptomatologie wurde mithilfe des BDI (Beck’s Depression Inventory) in der deutschen Version von Hautzinger et al. [15], basierend auf dem BDI von Beck et al. [16] erfasst. Die interne Konsistenz (Cronbach’s α) liegt bei α=0,88. Die von uns angewandte Einteilung der Testergebnisse in unauffällig (0–10 Punkte), mäßige depressive Symptomatik (11–18 Punkte) und klinisch relevante depressive Symptomatik (19 und mehr Punkte) stammt ebenfalls von den angeführten Autoren.

Impact of Event Scale

Die IES (Impact of Event Scale) nach Horowitz et al. [17] umfasst 15 Aussagen, die PTBS-typische Symptome beschreiben. Sie wird zur syndromalen Diagnostik einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) angewandt. Für die Reliabilität wird ein Cronbach’s α=0,86 für den IES-Gesamtwert angegeben. Die Test-Retest-Reliabilität liegt zwischen r=0,79 und r=0,89. Eine Übersichtsarbeit [18] bestätigt die zufriedenstellenden Ergebnisse der Reliabilität und Validität der IES. Diese Arbeit unterstreicht zudem die guten psychometrischen Eigenschaften für subjektiv empfundenen Distress. Außerdem korrelierten die IES-Scores zufriedenstellend mit Messinstrumenten für PTBS und andere Distressformen. Die Items der IES sind so formuliert, dass sie auf zahlreiche traumatische Ereignisse bezogen werden können. In der Summe können 0 bis 75 Punkte erreicht werden, wobei 9 und weniger Punkte als unauffällig gelten. 9 bis 25 Punkte hingegen weisen auf leichte PTSS hin. Während 26 bis 43 Punkte das Vorliegen einer mäßigen PTSS anzeigen, sprechen 44 und mehr Punkte für eine schwere PTSS.

Unsere Patienten wurden während unserer systematischen Untersuchung dazu angehalten, die IES-Aussagen auf die Überbringung ihres positiven HIV-Testergebnisses zu beziehen („Trauma“) und auf der 4-stufigen Skala anzugeben, wie oft das im jeweiligen Item beschriebene Symptom innerhalb der letzten Woche aufgetreten war.

Syndromkurztest

Die 9 Subtests des SKT (Syndromkurztest) nach Erzigkeit [19] dienen zur Evaluierung von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen. Er wird insbesondere bei Verdacht auf Demenz, kognitive Leistungsdefizite, hirnorganischen Psychosyndrome, Durchgangssyndrome und andere organisch bedingte psychische Störungen eingesetzt. Seine Hauptanwendungsgebiete umfassen unter anderem auch klinische Studien und Grundlagenstudien. Für die interne Konsistenz (Cronbach’s α) konnten Werte zwischen α=0,86 und α=0,88 ermittelt werden. Diese Ergebnisse wurden in anderen Studien bestätigt [20]. Die Test-Retest-Reliabilität des SKT-Gesamtwertes lag bei 0,90 [21]. Zwischen SKT und anderen neuropsychologischen Testverfahren konnten signifikante Korrelationen gefunden werden [22, 23]. Außerdem weisen Ergebnisse darauf hin, dass der SKT insbesondere zwischen leichten und mäßigen Demenzformen gut differenzieren dürfte, weshalb er sich für die Untersuchung von klinisch unauffälligen Patienten, wie wir sie in unsere Studie einschlossen, anbietet [23]. Für die Beurteilung des SKT-Gesamtwertes bietet sich folgende Einteilung an: 0–4 Punkte: keine kognitiven Defizite; 5–8 Punkte: Verdacht auf kognitive Defizite; 9–13 Punkte: schwere kognitive Leistungsdefizite und 24–27 Punkte: sehr schwere kognitive Leistungsdefizite. Die Interpretation des Testergebnisses sollte immer unter Berücksichtigung des klinischen Gesamteindruckes erfolgen.

Grundsätzlich wäre eine umfassende, mehrstündige neuropsychiatrische Befunderhebung wünschenswert. Aufgrund des hohen Zeitaufwandes ist dies jedoch aus ethischen und praktischen Gründen in einer Studienpopulation von ambulant betreuten Patienten im Rahmen von Routinekontrollen nicht vertretbar. Mit dem SKT steht hingegen ein zeitökonomisches Testinstrument mit guten, dokumentierten Ergebnissen bei Reliabilität und Validität zur Verfügung. Daher verwendeten wir den SKT zur Evaluierung möglicher kognitiver Defizite bei unseren HIV-Studienpatienten, zumal unsere Arbeitsgruppe für klinische Forschung in der Konsiliarpsychiatrie bereits sehr gute Erfahrungen bei der Evaluierung kognitiv-dysfunktionaler Syndrome mittels SKT bei einer Reihe von Studien mit Patienten mit folgenden somatischen Erkrankungen machen konnte: herzchirurgische Patienten [24, 25], Polytraumapatienten [26], Hepatitis-C (HCV)-Patienten [27] und Lebertransplantationspatienten [28].

Soziodemographische Merkmale

Die Erfassung soziodemographischer Daten beinhaltete folgende Kategorien: Geschlecht, Familienstand, Schulabschluss, Berufsbildung, Beruf, berufliche Situation, Wohnsituation und sexuelle Orientierung.

Übertragungswege

Zur Festlegung des wahrscheinlichen Übertragungsweges wurden folgende Auswahlmöglichkeiten definiert: homo-/bisexueller Geschlechtsverkehr, heterosexueller Geschlechtsverkehr, Bluttransfusion, Mutter-Kind-Übertragung und intravenöser Drogenabusus.

Statistische Auswertung

Die statistische Datenverarbeitung wurde mittels Statistikpaket SPSS in der Version 16.0 durchgeführt und umfasste in der Basisanalyse die Ermittlung des Mittelwertes und der Standardabweichung (für metrische Daten) sowie des Medians und der Standardabweichung (für ordinalskalierte Daten). Aufgrund des geringen Stichprobenumfangs entschieden wir uns für nichtparametrische Testverfahren. Die Studienpopulation wurde je nach Vorliegen von relevanter PTSS in zwei Gruppen unterteilt, die hinsichtlich BDI-Scores, SKT-Scores, SF-36 Scores und FLZ-Scores unter Zuhilfenahme des Mann-Whitney-U-Tests verglichen wurden. Die Analysen basieren auf einem Signifikanzniveau von 5%.

Ergebnisse

Soziodemographische Kennzahlen

Unsere Studienpopulation setzte sich aus 31 Männern (83,8%) und 6 Frauen (16,2%) zusammen. 20 Personen (54,1%) waren zum Untersuchungszeitpunkt ledig, 16 Patienten (43,2%) lebten in einer Ehe oder Partnerschaft und ein Patient (2,7%) war zum Untersuchungszeitpunkt geschieden. 24 Patienten (64,9%) hatten eine Pflichtschule absolviert und 11 Patienten (29,7%) schlossen ihre Schulausbildung mit Maturaniveau ab. Ein Studienteilnehmer (2,7%) hatte eine anderweitige Schulausbildung absolviert und ebenfalls ein Patient (2,7%) hatte keine Angabe zu seiner Schulausbildung gemacht.

Im Bereich der Berufsausbildung konnten 3 Personen (8,1%) keinen Abschluss angeben, 14 (37,8%) hatten eine Lehre absolviert, 9 Patienten (24,3%) hatten eine berufsbildende Schule abgeschlossen und 2 Personen (5,4%) hatten eine Meisterprüfung abgelegt. An höheren Ausbildungen konnten 3 Patienten (8,1%) einen Fachhochschulabschluss angeben, 2 Personen (5,8%) hatten ein Universitätsstudium absolviert. Weitere 2 Patienten (5,8%) hatten eine andere Berufsausbildung abgeschlossen und 2 (5,8%) hatten keine Angabe zu ihrer Berufsausbildung gemacht.

Zum Untersuchungszeitpunkt waren 22 Patienten (59,5%) vollzeitbeschäftigt, 4 (10,8%) teilzeitbeschäftigt und 2 Patienten (5,4%) arbeitslos. Während 4 Personen (10,8%) regulär in Ruhestand gegangen waren, waren 5 (13,5%) krankheitsbedingt frühpensioniert worden.

Von den untersuchten Patienten lebten 12 (32,3%) allein. 19 Personen (51,35%) lebten mit Partnern oder Familienangehörigen zusammen und 6 (16,2%) lebten in anderen Wohnverhältnissen oder hatten keine Angabe über ihre Wohnsituation gemacht.

Übertragungswege

Bei 20 Patienten (54,1%) fand die HIV-Infektion höchstwahrscheinlich durch homo-/bisexuellen Geschlechtsverkehr statt. 12 Patienten (32,4%) dürften sich über heterosexuellen Intimkontakt infiziert haben. Bei 2 Patienten (5,4%) gelangte das Virus durch eine infizierte Blutkonserve in den Körper. Ein Patient (2,7%) infizierte sich auf dem Mutter-Kind-Weg. Von einem Patienten (2,7%) ist der Übertragungsweg nicht bekannt.

Posttraumatische Belastungssymptome

Nach IES konnten bei 12 Patienten (32,4%) keine relevanten posttraumatischen Belastungssymptome (PTSS) nachgewiesen werden. 8 Teilnehmer (21,6%) wiesen eine leichte PTSS-Symptomatik auf, 8 (21,6%) zeigten eine mäßige Ausprägung und immerhin 9 Patienten (24,3%) zeigten schwere PTSS-Symptomatik. Der Mittelwert des IES-Scores betrug 25,41±21,3 (Range: 0–69).

Depressivität

Dreiundzwanzig Patienten (62,2%) zeigten keine relevante depressive Symptomatik gemäß BDI. 7 Personen (18,9%) hingegen wiesen eine leichte bis mäßige depressive Symptomatik auf. Bei weiteren 7 Patienten (18,9%) deuteten die BDI-Ergebnisse auf eine mäßige bis schwere Ausprägung depressiver Symptomatik hin.

Wir haben Patienten mit auffälliger PTB-Symptomatik mit unauffälligen hinsichtlich ihrer BDI-Werte verglichen und konnten einen signifikanten Unterschied (p<0,01) zwischen beiden Gruppen feststellen. 13 von 14 Patienten mit relevanter depressiver Symptomatik nach BDI wiesen gleichzeitig auch relevante PTSS-Symptomatik nach IES auf.

Gesundheitsbezogene Lebensqualität

In Tab. 2 sind die SF-36-Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests, den wir durchführten, um Unterschiede in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (HRQoL; health-related quality of life) zwischen PTSS-auffälligen und -unauffälligen Patienten zu eruieren, aufgeführt. Einen signifikanten Unterschied zwischen beiden Gruppen konnten wir für die Kategorien allgemeine Gesundheit, Vitalität, soziale Funktionsfähigkeit, emotionale Rollenfunktion und psychisches Wohlbefinden nachweisen. Hier waren die Werte bei relevanter PTSS-Symptomatik signifikant ungünstiger.

Tab. 2 Gesundheitsbezogene Lebensqualität und HIV-assoziierte posttraumatische Belastungssymptome

Beim Vergleich der gemäß BDI als depressiv eingestuften Patienten mit den als unauffällig evaluierten Patienten hinsichtlich der SF-36-Ergebnisse konnten wir signifikante Unterschiede in allen 8 HRQoL-Kategorien nachweisen. Tab. 3 gibt die SF-36-Ergebnisse des Mann-Whitney-U-Tests für die beiden Subgruppen wieder.

Tab. 3 Gesundheitsbezogene Lebensqualität und HIV-assoziierte Depressivität

Kognitive Leistungsfähigkeit

Bei 27 Patienten (73%) wiesen die SKT-Ergebnisse nicht auf das Vorhandensein kognitiver Defizite hin. 8 Patienten (21,6%) hatten minimale kognitive Defizite, ein Patient (2,7%) wies leichte zerebrale Leistungsdefizite auf und bei einem Patienten (2,7%) konnten wir eine mäßige Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit feststellen. Durchschnittlich erreichten die Teilnehmer unserer Studie einen SKT-Gesamtwert von 2±2,83 (Range: 0–11).

Diskussion

Die Durchsicht unserer Studienergebnisse veranschaulicht deutlich erhöhte Punktprävalenzwerte von PTSS- und Depressionssymptomatik in unserer Studienpopulation HIV-positiver Patienten im ambulanten Setting. Gleichzeitig konnten wir den Einfluss der emotionalen Befindlichkeitsstörungen auf Kennwerte gesundheitsbezogener Lebensqualität (HRQoL) und Lebenszufriedenheit nachweisen.

PTSS und Anpassungsstörung nach Maercker

Beachtenswert ist der hohe Anteil von Patienten mit relevanten posttraumatischen Belastungssymptomen (PTSS; 67,7%) an unserer Studienpopulation. Aufgrund methodischer Unterschiede bei der Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung (z. B. Selbstbeurteilungsskalen, Fremdbeurteilungsinstrumente, strukturierte klinische Interviews) sind Häufigkeitsangaben unterschiedlicher Populationen schwer vergleichbar. Trotzdem kann man davon ausgehen, dass die Werte bei unseren Studienpatienten um ein Vielfaches höher waren als jene der Allgemeinbevölkerung (6%) [29] bzw. von Patienten, die sich in allgemeinmedizinischer Behandlung befinden (10%) [30]. Bisher wurden wenige Studien zur HIV-assoziierten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) publiziert. Die Angaben zur Prävalenz der PTBS reichen von 13,3–64% [3, 31]. Hervorgehoben muss an dieser Stelle werden, dass selbst Patienten mit vergleichbaren Erkrankungen deutlich niedrigere PTBS-Werte aufwiesen. Für HCV konnte eine PTBS-Prävalenz von 8,8% ermittelt werden [27]. Diese Erkrankung ist als chronische, virale Infektion mit Neurotropie mit der HIV-Infektion vergleichbar. Deutliche Unterschiede sind hingegen im gesellschaftlichen Bild und in den damit verbundenen psychischen Belastungen beider Krankheiten vorhanden. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass die Prävalenzraten von PTBS selbst bei schwerwiegenden somatischen Erkrankungen (z. B. Zustand nach ARDS [„acute respiratory distress syndrome“] bzw. Sepsis, Zustand nach Myokardinfarkt, Zustand nach orthotoper Lebertransplantation) im Allgemeinen deutlich niedriger sind als die von uns bei HIV-Patienten gefundenen Werte der posttraumatischen Stresssymptomatik [32].

Wie könnten diese hohen HIV-PTSS-Werte gedeutet werden? Unserer Meinung nach könnten sie unter Berücksichtigung des von Maercker in die wissenschaftliche Literatur eingeführten Konzepts der AD als Stressreaktionssyndrom [9] interpretiert werden. Es umfasst Intrusionen, Vermeidungsverhalten und Fehlanpassungssymptome als Kernsymptome und eignet sich daher gut zur Interpretation der vorliegenden IES-Messergebnisse. Darüber hinaus dürfte das Krankheitsbild der AD die psychosozialen Belastungsfaktoren von HIV/AIDS besser berücksichtigen als das Konzept der PTBS, da sie neben singulären Stressoren wie der Diagnosestellung per se auch alltägliche Einschränkungen des Patienten berücksichtigt.

Depression

In der Literatur wird die Prävalenz der Depression bei HIV-Patienten zwischen 5 und 49% angegeben [33, 34, 35, 36, 37, 38]. Die von uns erhobene Prävalenz depressiver Zustandsbilder von ca. 38% ist mit diesen Studienergebnissen konsistent. Unsere Untersuchungen wiesen einen deutlichen Zusammenhang von PTSS-Symptomatik und Depressivität gemäß BDI nach. In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass bei HIV-Patienten depressive Anpassungsstörungen im Sinne von Stressfolgeerkrankungen häufiger als depressive Episoden im Rahmen von depressiven Störungen diagnostiziert werden [39].

Je nach IES-Wert unterschieden sich unsere Patienten hinsichtlich der BDI-Werte signifikant voneinander (U=60,00, p=0,003). Lediglich ein Studienpatient aus der depressiven Subgruppe (n=14) wies kein relevantes PTSS-Syndrom auf. Die hohe Komorbidität zwischen posttraumatischen Belastungsstörungen und depressiven Erkrankungen wurde in mehreren Studien bestätigt [4, 40, 41, 42, 43]. Unklar ist in diesem Zusammenhang, ob Depression nur ein Faktor im PTBS-Symptomcluster ist. Elklit et al. [44] identifizierten für die PTBS 4 Faktoren: intrusives Wiedererleben des Traumas, Vermeidungsverhalten, erhöhte Dysphorie und gesteigerte psychophysiologische Reagibilität. Nach der Kontrolle für Depression waren die Faktorenladungen des Dysphoriefaktors erniedrigt. Dies könnte dafür sprechen, dass Depression ein Faktor im PTBS-Modell sein könnte. Grant et al. [45] hingegen führten die hohen Korrelationen zwischen PTBS, Major-Depression (MD) und generalisierter Angststörung (GAS) an, definierten diese aber als unterscheidbar. Ein Dysphoriefaktor könnte sich auf PTBS, MD und GAS auswirken. Ein 2-Faktoren-Modell der PTBS wurde von Maes et al. [46] vorgeschlagen, das „Depression-Vermeidung“ als ersten Faktor und „Angst-Erregtheit“ als zweiten umfasst. In der Zusammenschau können wir feststellen, dass in der derzeitigen wissenschaftlichen Literatur noch keine Einigkeit darüber besteht, welche Faktoren ein empirisch gesichertes Modell der PTBS umfasst und ob Depression einer dieser Faktoren sein könnte oder lediglich mit PTBS assoziiert ist.

Gesundheitsbezogene Lebensqualität

Zahlreiche Studien konnten den Einfluss von PTBS auf die HRQoL und QoL belegen [47, 48, 49, 50, 51, 52]. Wenige Studien hingegen haben sich mit diesem Einfluss bei HIV auseinandergesetzt. Zwei Studien [53, 54] konnten nachweisen, dass symptomatische HIV-positive Patienten ohne AIDS die besten HRQoL-Werte außer in den Domänen körperliche Rollenfunktion und allgemeine Gesundheit hatten. Sowohl asymptomatische HIV-positive Patienten als auch AIDS-Patienten hatten schlechtere Werte. Eine asymptomatische Infektion könnte deshalb psychisch belastender sein, weil sie eine diffuse Bedrohung darstellt, die kaum Anhaltspunkte in der Auseinandersetzung mit der Krankheit bietet. Diese Problematik dürfte in unserer Studienpopulation besonders relevant sein, da die CD4+-Werte unserer Studienteilnehmer ein AIDS-Stadium bzw. opportunistische Infektionen infolge schlechter immunologischer Abwehr ausschlossen.

In unserer wie auch in anderen Studien war vor allem die psychische HRQoL erniedrigt [55, 56]. Im Gegensatz zur PTSS-Symptomatik wirkte sich Depressivität in unserer explorativen Studie signifikant auf alle SF-36-Kategorien aus. Der Zusammenhang von Depression und HRQoL bei HIV konnte auch in anderen Studien belegt werden [57, 58, 59].

Kognitive Leistungsfähigkeit

Die erste Durchsicht der Messergebnisse von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen unserer Studienpopulation erweckte den Eindruck einer hohen Prävalenz neurokognitiver Einschränkungen. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass bei einem Großteil (21,6%) unserer auffälligen Studienteilnehmer (27%) die Testergebnisse lediglich einen Verdacht auf kognitive Störungen zuließen. So blieb nur ein Bruchteil übrig, bei dem von einer deutlichen kognitiven Einschränkung ausgegangen werden konnte. Selbst neuere Untersuchungen, die nach flächendeckender Einführung der HAART durchgeführt wurden, geben deutlich höhere Prävalenzen (33,3–84,3%) kognitiver Leistungseinbußen an [60, 61, 62, 63, 64]. Untersuchungen sprechen dafür, dass bestimmte Aufgabentypen neurokognitiver Tests besonders sensitiv für HIV-induzierte Leistungseinbußen sind. Diese könnten einen zu geringen Anteil innerhalb der SKT-Subtests haben, weshalb wir eine niedrigere Prävalenz fanden [65, 66, 67]. So sind die für die Diagnostik früher Stadien HIV-induzierter kognitiv-motorischer Defizite sensiblen Feinmotorikuntersuchungen wie der Finger-Tapping-Test (TAP) und der Wiener Reaktionstest (RT) beispielsweise im SKT nicht repräsentiert [68].

Unklar ist bis dato, ob sich HIV bei älteren Patienten stärker auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirkt. Es gibt jedoch Studien, welche diesen Zusammenhang nahelegen. Mit einem durchschnittlichen Alter von Mitte 40 besteht unsere Studienpopulation aus eher jüngeren Teilnehmern, die im Vergleich zu anderen Studienpopulationen aufgrund einer unterschiedlichen Altersstruktur besser abgeschnitten haben könnten [66, 67, 69].

Limitationen

Unsere Studie weist ein Querschnittsdesign auf. Die Studienteilnehmer wurden nicht in einem randomisierten Verfahren gewonnen. Aufgrund der Gruppengröße und der Unterrepräsentation von Frauen könnte die Aussagekraft vermindert sein. Es wäre wünschenswert, dass die Thematik in weiterführenden, prospektiven Studien unter Einbeziehung von Vergleichsgruppen untersucht wird, um den in unserer Studie nahegelegten Zusammenhang von emotionalen Befindlichkeitsstörungen und verminderter HRQoL bei HIV-infizierten Patienten zu untersuchen.

Fazit für die Praxis

HIV-infizierte Patienten zeigen möglicherweise ein erhöhtes Risiko für Depressivität, kognitive Dysfunktionen sowie posttraumatische Belastungssymptome, die als Anpassungsstörungen nach Maercker interpretiert werden können. Das Vorhandensein emotionaler Befindlichkeitsstörungen ist bei ihnen mit signifikanten Einbußen in deren gesundheitsbezogenen Lebensqualität assoziiert. Folglich raten wir in der klinischen Routineversorgung zu einer frühzeitigen und umfänglichen biopsychosozialen Diagnostik und Therapie von HIV-Patienten, damit sowohl ihre emotionalen Befindlichkeitsstörungen ehest möglich behandelt als auch ihre Lebensqualität zeitig verbessert werden können.