Am 30.10.2009 verstarb der Ordinarius für Neurologie und Gründungsprofessor der Universität Ulm Hans Helmut Kornhuber (Abb. 1) im 82. Lebensjahr an einem malignen Hirntumor.

Abb. 1
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Hans Helmut Kornhuber, Freiburg – Baltimore – Ulm

Naturforscher und Arzt

Wie sieht der Mensch die Welt und was geht in unserem Gehirn vor? Das waren für Kornhuber schon von Jugend an die packendsten Themen, obwohl er sich erst für Chemie interessierte und schon als Gymnasiast im Chemischen Institut seiner Heimatuniversität Königsberg mitarbeitete. Ohne jenes Schlüsselerlebnis während seiner fast 5-jährigen russischen Kriegsgefangenschaft, einem Kind mit Pilzvergiftung rettete er das Leben, wäre er wohl auch Naturwissenschaftler geworden. So aber studierte Kornhuber Medizin, wobei er sich die Universitäten jedoch nach den an ihnen lehrenden Philosophen aussuchte: Guardini/München, der Kreis um Nicolai Hartmann/Göttingen, Heidegger/Freiburg, Löwith/Heidelberg und Karl Jaspers/Basel; letzterer wurde ihm ein väterlicher Freund. Während er Medizin studierte, las er nachts die großen Werke der Philosophie und der Weltliteratur. Er promovierte bei Kurt Schneider in Heidelberg mit dem Thema „Auslösung cyklothymer Depressionen durch seelische Erschütterungen“.

Die Neurologische Klinik von Richard Jung in Freiburg, Hansastraße 9 (die „Neurophys“) war dann die Stätte, an der Kornhuber wirkte – mit einem schier unfassbaren Pensum und einem unglaublichen Arbeitstag: Tagsüber Oberarzt auf Station und in der Ambulanz und abends und nachts schwierigste neurophysiologische Experimente mit Einzelzellableitungen am Gehirn der Katze, Psychophysik, Sinnesphysiologie und während und nach seinem wissenschaftlichen Jahr bei Mountcastle an der Johns Hopkins Universität, Baltimore machte er Messungen der Kanalkapazität unserer wichtigsten Sinnesmodalitäten Sehen, Hören und Tasten und des Bewusstseins.

Trotz dieser Belastung schrieb er noch die wegweisenden Publikationen und Handbuchartikel, aufgrund derer man ihn kennt: „Psychologie und Psychiatrie der Kriegsgefangenschaft“, „Optisch-vestibuläre und somatisch-vestibuläre Integration an Neuronen der Großhirnrinde“, „Physiologie und Klinik des Vestibulären Systems“ (mit diesem Beitrag revolutionierte er das Vestibularisgebiet) und „Entdeckung des Augenmuskelfeldes im Kleinhirn“. Daneben hielt er Vorlesungen, aber nicht nur medizinische: Seit 1962 hielt er ein Seminar über die Freiheit für Hörer aller Fakultäten. Der Verfasser dieses Nachrufs war Hörer des Freiheitsseminars in Freiburg, und hier kreuzten sich die Lebenswege, als er als junger Student in Kornhubers Forschungslandschaft eintrat. Aus Kornhubers geistigem „Humus“ spross alsbald die Entdeckung des Bereitschaftspotenzials, einem Hirnpotenzial, das all unseren gewollten Bewegungen und Handlungen vorausgeht, und dessen Publikation, obwohl in deutscher Sprache verfasst, auch in der englischsprechenden Welt zu einem „citation classic“ führte, wobei der Zungenbrecher „Bereitschaftspotenzial“ weltweit reüssierte. In Ulm setzten wir diese Forschungen fort; über insgesamt 46 Jahre verlief unser Lebensweg gemeinsam.

Akademischer Forscher und Lehrer

Kornhuber folgte 1966 einem Ruf nach Ulm auf den Neurologischen Lehrstuhl und ist einer der Gründungsprofessoren der jungen, 1967 aus der Taufe gehobenen Universität. Man musste fast bei Null beginnen. In dem ihm eigenen ungeheuren Elan gestaltete er die Klinik Dietenbronn in die Neurologische Universitätsklinik Ulm um, machte sie zu einer weit über die Grenzen hinaus äußerst angesehenen Klinik, in der er nicht nur Multiple-Sklerose (MS)-Patienten, sondern das gesamte Spektrum neurologischer Krankheiten behandelte. Mit ähnlichem Elan gestaltete er ab 1984 das Rehabilitationskrankenhaus Ulm.

Arzt und Gesundheitsförderer

Freiheit zieht sich als großes Leitbild durch Kornhubers Leben. Sein ureigenster Glaube an die Freiheit des Menschen und die Pflicht des Menschen, sie zu fördern, war nicht ein philosophisch-theoretischer, sondern ein praktischer. Als unermüdlicher Streiter für die Gesundheit, der weiß, dass Abhängigkeit das Gegenteil von Freiheit ist, engagierte sich Kornhuber früh in der Prävention des Zigarettenrauchens und von Alkoholabhängigkeit sowie gegen den Missbrauch von Benzodiazepinen. Sein schon sehr früh entwickeltes Konzept sah eine Gesundheitsabgabe auf Alkohol und Zigaretten vor (nicht als Steuer, sondern als Abgabe an das Krankenversicherungssystem im Sinne des Verursacherprinzips). Inzwischen haben politische Parteien und Gewerkschaften in Deutschland erkannt, dass eine solche Abgabe wünschenswert wäre, trotz der Gegenpropaganda der Lobbys.

Sehr früh setzte Kornhuber epidemiologische Methoden ein, um die Ursachen des Bluthochdrucks zu klären, des Hauptrisikofaktors für Schlaganfall. Damals meinte man, dass die Hypertonie vom Salzen der Speisen komme sowie von psychischem Stress. Kornhuber konnte keine dieser Hypothesen bestätigen, sondern fand, dass Alkoholeinnahme und Übergewicht die primären Ursachen des Hochdrucks sind und dass abdominale Adipositas (und das metabolische Syndrom) beim Mann weitgehend die Konsequenz eines täglichen Alkoholkonsums ist. Wie immer lässt er die Tat gleich folgen: Er führte das Blutdruckmessen bei den Schülern der Ulmer Schulen ein, die dann auch zuhause den Blutdruck ihrer Eltern maßen. So wird hoher Blutdruck in der Frühphase erkannt. Er machte Prävention zum Thema unserer Zeit, indem er vorschlug, präventive Medizin in jedem medizinischen Fach einzuführen. Er prägte den Begriff „präventive Neurologie“.

Arzt mit therapeutischer Phantasie

Kornhuber entwickelte Methoden für die dezentrale Behandlung und Rehabilitation chronisch Kranker zuhause. Familien von Patienten mit chronischen Krankheiten wurden durch Beratung und praktische Kurse im Umgang mit den Kranken geschult. Ferner entwickelte er mit seinem Team ein tragbares Ultraschallgerät für die ambulante Messung des Restharns bei Patienten mit neurogenen Blasenstörungen und konstruierte mit seinem Team einen Baby-Protektor gegen den plötzlichen Kindstod (SID, „sudden infant death“), bei dem die Hemmung der Skelettmuskulatur in der REM-Phase des Schlafes bis in die Atemmotorik durchschlägt. Seine Vorschläge, die er direkt an den Gesundheitsminister weiterleitete, führten in der Tat zu einem Gesetz, das Pflege und Behandlung gleichstellte und die Betreuung chronisch Kranker sicherte. Kornhuber entwickelte effektive Methoden für die Therapie der MS sowie Methoden, um Medikamente zur raschen Therapie des akuten Schlaganfalls sowie der Hirnblutung zu finden. Um der Alzheimer-Krankheit vorzubeugen, wies Kornhuber auf die Mikroangiopathie hin, die der Alzheimer-Krankheit, wenn das Erkrankungsalter 65 Jahre und höher ist, zugrunde liegt. Im Zuge der Suche nach einer besseren Behandlung der Schizophrenie erforschte er die Rolle des Glutamats. Dies führte zur Gabe von Glutamatantagonisten in der Therapie z. B. der Demenz. Um die Therapie neuromuskulärer Erkrankungen zu fördern, gründete Kornhuber ein multidisziplinäres Zentrum, und für die Behandlung der Epilepsie gründete er ein Epilepsiezentrum, das unter den ersten Zentren seiner Art war. Hier war es möglich, die am stärksten epileptogenen Hirnstrukturen, Amygdala und Hippokampus, einseitig selektiv ohne Nebenwirkungen zu entfernen. Daraus folgte auch seine Erkenntnis, dass die Amygdala beim Menschen nicht mehr eine so große Bedeutung hat wie bei Tieren, da sie vom Frontalhirn überbaut ist.

Kornhubers enormes persönliches Engagement in der Verbesserung von Erziehung und Bildung war sprichwörtlich. Das von ihm gegründete und über viele Jahre persönlich geleitete Studium generale an der Universität Ulm war ein leuchtendes Beispiel, wie gut Förderung zu einer umfassenden Allgemeinbildung greifen kann: Er lud berühmte Wissenschaftler, Philosophen, Dichter und Schriftsteller, Wirtschaftler und Politiker zu Vorträgen und Lesungen ein und veranstaltete Kurse mit humanitären Themen und den schönen Künsten. Zudem gründete Kornhuber eine Sprachschule und Schule für Sprachtherapeuten, der ersten damals in Deutschland, welche mit Kurrikulum und Lehrplänen für alle folgenden Schulen Vorreiter war, inklusive der Therapie der Aphasien.

Kornhuber setzte sich vehement für bessere Familiengesetzgebung ein, brachte seine Sorge um den Geburtenrückgang zum Ausdruck („Zur Situation der Familie“, Kinderarzt Heft 10, 1978 und „Vom Volk der Denker zum Volk der Hilfsarbeiter?“ überschrieb Die Welt seinen Artikel am 22.06.85). Kornhuber wies mahnend darauf hin, dass die Familie die primäre Keimzelle für die Erziehung der Kinder zu Moral und Ethik sowie zur Betreuung der Kranken und Alten ist. Kornhuber war selbst Vater von Söhnen, die in seine Fußstapfen traten.

Kornhuber schlug eine Verbesserung der Wissenschaftsförderung vor durch objektivere, retrospektive Evaluation der eingereichten Arbeiten, anstatt Vorläuferreviews durch Peers, die oft Konkurrenzdenken walten lassen. So kam es zur Mitgründung einer entsprechenden wissenschaftlichen Zeitschrift (Huber und Kornhuber, 1993, Neurology, Psychiatry and Brain Research, hervorgegangen aus dem Zentralblatt für Neurologie und Psychiatrie, früher Springer, jetzt Universitätsverlag Heidelberg). Sein wichtigstes Werk aber ist wohl „Wille und Gehirn“. Vor seinem Tode konnte er noch die 2. überarbeitete Auflage dieses Buches fertigstellen und das Erscheinen erleben. Durch „Wille und Gehirn“ bricht sich langsam die Einsicht Bahn, dass es ganz ohne menschliche Freiheit nicht geht. Seine letzte Publikation „Freiheit – Forschung – Gehirn – Religion. Wege durch dichtes Gelände“ ist Kornhubers lebensvollendendes Credo – lesenswert mit enormem Gewinn (Philosophische Plädoyers Bd. 12, LIT-Verlag, Berlin, 2009).

Nationale und internationale Ehrungen

Die Bárány Society machte Kornhuber zum ersten Preisträger des Hallpike-Nylén-Awards für seine bahnbrechenden auch heute weiter gültigen Forschungen auf dem Vestibularisgebiet. Oto-Neurologische Gesellschaften verliehen ihm Ehrenmitgliedschaften, eine Universität verlieh ihm eine Professur ehrenhalber. Die Deutsche EEG-Gesellschaft ehrte ihn mit dem Berger-Preis für seine Entdeckungen über die zerebralen Grundlagen des Willens und gewollter Handlungen (Bereitschaft zum Handeln). Die Belgische Gesellschaft für Neurophysiologie verlieh ihm die Ehrenmitgliedschaft und die Universität Brüssel den Ehrendoktor. Kornhuber ist auch Träger des Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland für seine Leistungen in der Rehabilitation. Er erhielt auch die Lazarus-Medaille und für seine Forschungen auf dem Gebiet der Schizophrenie den Kurt-Schneider-Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie.

Ein äußerst intensiv gelebtes Leben, in dem Kornhuber enorm viel bewegt hat, ging zu Ende. Mit ihm stirbt einer der letzten universal denkenden Naturforscher und Ärzte, einer der noch die gesamte, d. h. auch die klassische Hirnforschung der klinischen Neurologie überblicken und mit den neueren Forschungen in Beziehung setzen konnte. Wir, seine Schüler, verdanken ihm viel, die wir geprägt sind von diesem beispielgebenden Mann, von seinem immensen Wissen, von seinem untrüglichen Gedächtnis, von seiner enormen Tatkraft und unermüdlichen Ausdauer, von seiner altruistischen Pflichterfüllung, seiner vorbildlichen Denkdisziplin, einer Sache (Krankheit, Symptom, Problem) immer ganz auf den Grund zu gehen und nicht zu ruhen, bis sie gelöst ist. Tiefes Nachdenken war ihm eigen, ein Denker war er. Nicht zuletzt sind wir, seine Schüler, auch geprägt von seinen ausgiebigen Visiten mit einer Gründlichkeit, die es sonst kaum gibt, und von der absoluten Selbstverständlichkeit, dass der Patient, bei allem was man tut, immer Vorrang hat.

Lüder Deecke, Wien