Fallbeschreibung

Anamnese

Bei einem 58-jährigen Patient mit seit 20 Jahren bestehendem, medikamentös therapierefraktärem essenziellem Tremor (ET) wurden im November 2005 beidseits THS (tiefe Hirnstimulation) -Elektroden in das thalamische VIM (Nucleus ventralis intermedius thalami) -Kerngebiet implantiert. Der ET imponierte präoperativ als mittel- bis höherfrequenter, grobschlägiger Halte- und Aktionstremor der Hände beidseits mit deutlicher Intentionskomponente sowie Kopf- und Stimmtremor (Ausprägung gemäß Clinical Rating Scale for Tremor (TRS [1]: 69 Punkte). In der Vorgeschichte waren außer einer chronischen Bronchitis bei langjährigem Nikotinabusus keine Vorerkrankungen bekannt. Eine medikamentöse Therapie bestand derzeit nicht. Frühere Therapieversuche mit Propranolol, Primidon, Benzodiazepinen und Gabapentin in ausreichender Dosierung blieben erfolglos.

Klinischer Befund

Nach komplikationsloser Elektrodenimplantation kam es postoperativ zu einer sofortigen Besserung der Tremorsymptomatik. Bei monopolarer Stimulation (2,5 and 2,8 V, 60 μs, 130 Hz) war lediglich noch eine leichtgradige Intentionstremorkomponente in den Zeigeversuchen beidseits vorhanden (TRS: 19 Punkte). Drei Monate postoperativ wurde allerdings die Erhöhung der Stimulationsparameter auf 3,0 V beidseits wegen einer erneuten Zunahme des Aktionstremors der Hände notwendig (TRS: 42 Punkte). Unter diesen Stimulationsparametern berichtete der Patient nach mehreren Tagen über eine erhebliche Minderung der Geschmacksempfindung sowie eine Änderung der Geschmacksqualitäten („alles schmeckt metallisch“). Nach Abschalten der VIM-THS verschwanden diese Symptome innerhalb weniger Stunden vollständig, während es parallel wieder zum klinischen Vollbild des ET kam (TRS: 69 Punkte).

Diagnostik

Labor

Alle Routinelaborparameter inklusive der zusätzlich bestimmten Vitamine waren unauffällig.

Zerebrale Magnetresonanztomographie

Das präoperativ angefertigte zerebrale MRT zeigte keine richtungsweisenden pathologischen Befunde. Die durch intraoperatives Röntgen dokumentierten VIM-Elektroden zeigten bei Projektion auf das präoperative, stereotaktische MRT eine regelrechte Lage im VIM-Kerngebiet (linke Elektrode, K1, aktiver Pol 1: stereotaktische Koordinaten x=9,4, y=5,7, z= −1,7 mm (d.h. 1,7 mm, ventral PC-AC Linie); rechte Elektrode: K2, aktiver Pol 5: x=12,2, y=6,4, z= −2 mm (d.h. 2 mm ventral PC-AC Linie; siehe Abb. 1)

Abb. 1
figure 1

Lage der implantierten Elektroden im Nucleus ventralis intermedius thalami in Projektion auf das präoperativ angefertigte, stereotaktische T2-gewichtete MRT. a Linke Elektrode in blau (K1), aktiver Pol 1, stereotaktische Koordinaten: x=9,4, y=5,7, z= −1,7 mm. b Rechte Elektrode in rot (K2), aktiver Pol 5, stereotaktische Koordinaten: x=12,2, y=6,4, z= −2 mm

HNO-Testung

Die aktive anteriore Rhinomanometrie, die nasale Endoskopie sowie die olfaktorische Testung zeigten keine Auffälligkeiten. In Geschmackstestung mit 16 Tastestrips in 4 Konzentrationen pro Qualität konnte bei ausgeschalteter VIM-DBS eine normale Geschmacksleistung nachgewiesen werden (12/16 korrekte Benennungen von süß/bitter/salzig oder sauer auf der rechten Seite, 14/16 auf der linken Seite). Dagegen zeigte sich unter effektiver Stimulation eine isolierte Hypogeusie beider Zungenhälften (6/16 fehlerhafte Benennungen der Geschmacksqualitäten rechts und 5/16 links).

Positronenemissionstomographie

Zusätzlich wurden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zerebrale PET-Untersuchungen mit 18-Fluorodeoxyglukose (FDG; Siemens ECAT Exact scanner, Knoxville, Tenn, USA) mit jeweils 12 h zuvor aus- und angeschaltetem THS-System durchgeführt. FDG stellt den zellulären Energiemetabolismus dar und ist ein direkter Marker der neuronalen Aktivität.

Die PET-Bilder wurden auf den globalen Hirnstoffwechsel skaliert und stereotaktisch normalisiert. Anschließend wurde der metabolische Effekt der Stimulation durch Subtraktion des FDG-PET mit ausgeschalteter THS von demjenigen mit eingeschalteter THS dargestellt. Unter effektiver VIM-THS zeigte sich eine bilaterale Stoffwechselaktivierung von 15% im orbitofrontalen Kortex und im Lobus temporalis inferior sowie eine Reduktion des Energiestoffwechsels um bis zu 15% in der Inselregion und den Basalganglien der rechten Hemisphäre (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Stimulationsinduzierte Veränderungen des zerebralen Glukosemetabolismus im 18-Fluorodeoxyglukose-PET (THS-On- minus -Off-Bedingung). Darstellung in Projektion auf das präoperativ angefertigte T1-gewichtete zerebrale MRT (Deaktivierungen in blau, Aktivierungen in rot)

Diskussion

Als häufige Nebenwirkungen der bilateralen Stimulation im VIM-Kerngebiet sind Dysarthrie, Gangstörungen und Parästhesien bekannt [2]. Wir berichten erstmalig von einer reversiblen Hypo- und Parageusie, die unter VIM-THS bei einem Patienten mit ET unter höheramplitudiger Stimulation ab 3 V beidseits auftrat. Es ist zu postulieren, dass die Beeinträchtigung der Geschmacksempfindung durch die Ausbreitung des von den VIM-Elektroden ausgehenden Stromfeldes in die Region des gustatorischen Thalamus verursacht wird [3]. Dadurch wird vermutlich eine Störung der Impulsleitung in der zentralen Geschmacksbahn hervorgerufen, welche die Hirnstammkerngebiete mit dem Thalamus und den gustatorischen Projektionsarealen in der Inselregion, dem Gyrus temporalis superior und der prä- und postzentralen Region verbindet [4]. Ein ähnlicher Pathomechanismus wurde bei Patienten mit thalamischer Dysgeusie nach ischämischen Läsionen des Thalamus und der Corona radiata beschrieben [5].

Der Effekte der THS auf das subkortikale Stimulationsareal sowie afferent bzw. efferent verbundene Strukturen sind bislang wenig verstanden. Änderungen der zerebralen Stoffwechselaktivität sowie des regionalen zerebralen Blutflusses (rCBF) durch VIM-Stimulation wurden jedoch schon in mehreren Studien mit funktioneller Bildgebung bei Patienten mit ET beschrieben. So konnte beispielsweise ein erhöhter rCBF im supplementär-motorischen Kortex [6] sowie eine Perfusionsminderung retroinsulär nachgewiesen werden [7]. Die in diesem Fallbericht demonstrierten FDG-PET-Daten bestätigen eine stimulationsinduzierte Deaktivierung in der rechten rückwärtigen Inselregion, welche an der sensorischen und hedonistischen Verarbeitung von Geschmacksstimuli beteiligt ist [8]. Die PET-Befunde legen daher nahe, dass die VIM-THS zu einer veränderten kortikalen Repräsentation des Geschmacks aufgrund von Interferenzen der THS mit den thalamokortikalen Fasern der zentralen Geschmacksbahn führen kann, welche sich klinisch als reversible Hypo- und Parageusie bemerkbar macht.

Fazit für die Praxis

Der präsentierte Fall belegt, dass Geschmacksstörungen als seltene Nebenwirkungen bei bilateraler tiefer Hirnstimulation im VIM-Kerngebiet auftreten können. Aus diesem Grund sollte einer veränderten Geschmacksempfindung im postoperativen Verlauf entsprechende Beachtung zukommen und durch geeignete Änderung der Stimulationsparameter eine Minimierung derartiger sensorischer Nebenwirkungen angestrebt werden.